DIE DORNRÖSCHEN-FALLE
Lieber handeln als den eigenen Erfolg verschlafen
Vor Zeiten waren ein König und eine Königin, die sich sehnlichst ein Kind wünschten. Als die Königin schließlich ein Mädchen gebar, veranstaltete der König ein Freudenfest, zu dem er auch die weisen Frauen des Landes einlud – alle bis auf die 13., denn im königlichen Haushalt gab es nur zwölf goldene Teller. Am Ende des Festes beschenkten die weisen Frauen das Kind mit Tugend, Schönheit, Reichtum. Als die elfte eben ihren Wunsch gesprochen hatte, stürmte die 13. herein: »Die Königstochter soll sich an ihrem 15. Geburtstag an einer Spindel stechen und tot umfallen!« Die zwölfte konnte diesen Fluch nicht mehr abwenden, sondern nur noch abmildern zu einem 100-jährigen Schlaf.
Sie erinnern sich vermutlich, wie die Geschichte weitergeht: Der König lässt alle Spindeln aus seinem Reich verbannen, doch vergeblich: An ihrem 15. Geburtstag trifft Dornröschen in einem entlegenen Turmzimmer des Palastes auf eine spinnende alte Frau. Sie greift neugierig nach der Spindel, sticht sich und fällt in einen tiefen Schlaf, aus dem sie erst ein Königssohn mit einem Kuss erweckt. Der kommt just nach 100 Jahren vorbei, und so teilt sich vor ihm die Dornenhecke, die das Schloss inzwischen umwuchert.
Was hat das mit den Frauen von heute zu tun? Ich habe mich schon als Kind gewundert, warum der König Dornröschen nicht einfach erzählt, dass Spindeln gefährlich sind. Meine Eltern machten das jedenfalls so, egal ob es um heiße Herdplatten oder rote Ampeln ging. Dornröschen kennt die Regeln nicht, und es muss bitter dafür büßen. Es lebt in einer heilen Welt, bis es sich allein auf den Weg macht und prompt scheitert. Vielen Frauen geht es in Sachen Karriere heute ebenso. »Die Zukunft ist weiblich«, tönt es seit Jahren aus Tageszeitungen, Wochenblättern und Magazinen. So jubelte die Zeit beispielsweise 2004 über die von der Industrie umworbenen Naturwissenschaftlerinnen und Ingenieurinnen. Die Berliner Zeitung berief sich 2007 auf prominente Trendforscher und sah Frauen schon »auf der Überholspur«. Der Spiegel titelte im gleichen Jahr mit den »Alpha-Mädchen«, die alles schaffen könnten. Psychologie heute war sich 2010 sicher: »Frauen werden in naher Zukunft auch maßgeblich die globalen Geschicke bestimmen.« Und selbst die konservative Welt beschwor 2012 die Vorteile gemischter Managementteams und kam zu dem unausweichlichen Schluss: »Die Zukunft ist weiblich.« Zu ebendieser Phrase lieferte Google im Sommer 2014 stolze 2,79 Millionen Einträge! Die These vom »Female Shift« kulminierte darin, dass die US-Journalistin Hanna Rosin in ihrem Buch »Das Ende der Männer« und den »Aufstieg der Frauen« prophezeite.1 Die Argumente sind immer die gleichen: Frauen seien kommunikativer, empathischer, flexibler. Sie besäßen genau die Fähigkeiten, die unsere Welt heute brauche. Die Wirtschaftskrise ab 2008 befeuerte diese Sicht noch einmal, denn war sie nicht eine Krise von Testosterongesteuerten, fahrlässig risikofreudigen Männern an den Schalthebeln der Finanzwelt?
Leider ist diese medial inszenierte Sicht auf die Welt für Frauen, die etwas erreichen wollen, ungefähr so trügerisch wie ein Märchenreich ohne Spindeln. »Frauenförderung? Brauche ich nicht.« Das höre ich häufig von jungen Frauen im Coaching und bei Karriereveranstaltungen. Kein Wunder, schließlich sind sie in der Schule und an der Universität ebenso gut, vielfach sogar besser als ihre Mitschüler und Kommilitonen. Warum also sollten sie ihnen im Beruf unterlegen sein? Zehn Jahre später hat sich ihr Ton geändert. Dann sitzt der mittelmäßige Mitschüler oder Kommilitone häufig auf dem Chefsessel, während das »Alpha-Mädchen« von früher ihm die Vorstandsvorlagen schreibt und die Sitzungen vorbereitet. Dieselben Frauen sagen jetzt: »Hätte ich das alles nur früher gewusst! Dann wäre meine Karriere anders verlaufen.« Was diese Frauen ab Ende 30 meinen? Sie meinen, dass männliche Kollegen anscheinend mühelos an ihnen vorbeizogen. Sie meinen, dass sie sich mit bestimmten Anforderungen im Berufsleben schwerer getan haben als erwartet. Und sie meinen, dass sie sich in Sachen Familienplanung und Karriere alles andere als gleichberechtigt gefühlt haben. Ernüchtert müssen viele erkennen, dass sie ihren Erfolg teilweise verschlafen haben wie Dornröschen ihr Leben – einfach, weil sie die wahren beruflichen Spielregeln nicht kannten. Die Dornröschen-Falle besteht aus Arglosigkeit und Unwissenheit. Denn solange die Chefetagen überwiegend von Männern bevölkert sind, sind sie es, die die Regeln vorgeben.
Wenn frau männlichen Machtspielen und Strategien nicht arglos ausgeliefert sein will, muss sie diese Regeln kennen. Bis zur faktischen Gleichberechtigung von Männern und Frauen könnte es beim derzeitigen Tempo noch rund 950 Jahre dauern, hat die Internationale Arbeitsorganisation in Genf einmal hochgerechnet.2 Dies hier ist ein Buch für Pragmatikerinnen, die nicht so lange warten wollen. Darin geht es nicht um die großen Fragen, um die Hoffnung auf gesellschaftlichen Wandel, um das Für und Wider weiblicher und männlicher Kompetenzen. Gehen wir einfach davon aus, dass beide Geschlechter ihre Stärken haben. Doch wenn frau nicht beherzigt, dass das Karrierespiel bis heute vor allem nach männlichen Regeln gespielt wird, fliegt sie womöglich schon beim ersten Schlagabtausch vom Platz. Die Botschaft dieses Buches lautet also: Frauen, lernt von den Männern und schlagt sie, wenn nötig, mit ihren eigenen Waffen! Das ist zugleich die Kernidee meiner »Durchbox-Trainings«, die ich seit vielen Jahren in Unternehmen und Forschungsinstitutionen durchführe. Dieses Buch lebt von den Erfahrungen und Erlebnissen der Teilnehmerinnen solcher Workshops.
Die erzählten Geschichten sind wahr, auch wenn ich in der Regel einige für die Botschaft unwichtige Eckdaten aus Gründen der Anonymisierung verändert habe. Um Frauen mit der Männersicht auf ihr Problem vertraut zu machen, arbeite ich in meinen Trainings mit einem männlichen Trainingspartner. Seine Aufgabe ist es, sich in Rollenspielen so zu verhalten, wie er es im Alltag tun würde, und unverblümt Feedback zu geben. Es gibt eine ganze Reihe von Trainingspartnern, allesamt »ganz normale«, im Berufsleben stehende Männer, die authentisch und ohne weitere Vorabinformation agieren und reagieren. Sie sind keine Schauspieler, die etwas nur vorspielen. Im Buch werden ihre Stimmen zu einer gebündelt. Das ist deswegen leicht möglich, weil die Überschneidungen verblüffend sind.
»Frauen, lernt von den Männern!« – Mir ist bewusst, dass ich mit dieser Empfehlung Widerspruch hervorrufe. Ich kenne die Gegenargumente aus zahlreichen Gesprächen. Hier schon mal vorab die wichtigsten und was ich dagegenhalte:
Argument 1:
»Frauen sollten ihren eigenen Weg gehen, statt sich wie Männer zu verhalten.«
»Ich will mich nicht verbiegen!«, höre ich von Klientinnen und Seminarteilnehmerinnen, oft mit der Verve der Empörung: Warum sollen Frauen sich erneut den Männern anpassen und genauso machtorientiert, selbstverliebt und durchsetzungsstark agieren wie sie? Ebenso gut könnten Sie mich fragen, warum Sie bei Regen einen Schirm aufspannen sollen und fordern, dass Sie auch ohne trocken bleiben. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt: Mit Wunschdenken und moralischen Appellen kommen wir Frauen nicht weiter, wir brauchen alltagstaugliche Strategien. Wäre dies anders, stünde meine Tochter heute nicht vor ähnlichen Barrieren wie ich am Ende meines Studiums. Überdies rede ich hier nicht von einer pauschalen »Vermännlichung« der Frauen, sondern dem Erwerb einer interkulturellen Kompetenz. Erfolgreiche Frauen kennen die männlichen Spielregeln und können sie bei Bedarf anwenden. Ich möchte Sie also zu strategischem Verhalten und bewussten Entscheidungen ermuntern, nicht zu einer bloßen Kopie männlichen Machotums. Dabei kann Ihre eigene Entscheidung auch lauten: »Dieses Spiel will ich nicht mitspielen.« Das wäre vollkommen okay. Nicht okay ist, blind durchs Leben zu stolpern und nach einigen Jahren frustriert in der Schmollecke zu sitzen. Anders als Dornröschen wird uns kein Prinz erlösen!
Argument 2:
»Frauen sind doch längst gleichberechtigt. Was braucht es da noch Durchbox-Strategien?«
Gern wird das mit den Nöten von Großunternehmen untermauert, die angeblich händeringend weibliche Topmanagerinnen suchen, um einer gesetzlichen Quote vorzubeugen. In Wahrheit würden Frauen längst bevorzugt, wird sogar behauptet. Wahr ist: Seit die EU-Kommissarin Viviane Reding in der EU-Kommission eine Richtlinie durchgesetzt hat, nach der bis 2020 Verwaltungs- und Aufsichtsräte großer Firmen zu 40 Prozent mit Frauen besetzt sein sollen, tut sich etwas in den Konzernen. Brigitte Lammers, Headhunterin und auf Managerinnen spezialisiert, sagt allerdings auch, viele Unternehmen seien »auf eine Steigerung der Zahl weiblicher Führungskräfte fixiert, ohne dass sie sich dabei kulturell verändern«3. Was das konkret heißt, war in einem internen Daimler-Unternehmensblog nachzulesen, nachdem eine Daimler-Mitarbeiterin unvorsichtigerweise gemeint hatte, es sei doch egal, ob ein Chef oder eine Chefin das Ruder in der Hand hält. Daraufhin entlud sich der geballte Zorn vieler männlicher Kollegen, die mit voller Namensnennung darüber philosophierten, dass Frauen »von der Natur nicht vorgesehen« seien für Führungsaufgaben. Macht könne sie schnell »verderben«....