Leben ist ein ständiger Weg ins Unbekannte. Und genau das macht Angst. Viele Menschen halten deshalb gern an Gewohntem fest. Vertrautes vermittelt das Gefühl von Sicherheit. Doch sicher ist nur eins: die Veränderung. Das Leben ist in Bewegung und wandelt sich. Altes geht und Neues kommt. Das Neue aber ist längst nicht immer willkommen. Das gilt besonders für Lebensphasen, die in unserer Gesellschaft schlicht als unattraktiv gelten: Wer wird schon gerne alt? Antiaging boomt und verspricht ewige Jugend. Auch die Wirtschaft setzt vor allem auf flexible, dynamische, junge Leute. Bereits mit Vierzig sinken die Chancen in der Arbeitswelt dramatisch. Die Gesellschaft macht es den Menschen schwer, dem Alter gelassen zu begegnen. Seelsorger Martin Schubert spricht vom Machbarkeitswahn, der einem suggeriert, dass scheinbar alles möglich ist. Hinzu kommt dann noch das Gefühl etwas zu versäumen. Und so halten viele an der Jugend fest. Jung sein ist heute einfach in, fit sein ein Muss. Die Werbung macht es vor. Deswegen versuchen so viele auch beim Antiaging dabei zu sein. Man versucht mit Gewalt daran festzuhalten, was und wie die Gesellschaft heute sein soll. Das Problem ist, zu sich selbst stehen zu können. Martin Schubert hat den Eindruck, dass das viele Menschen nicht können. Sie sind nicht zufrieden, mit dem, was sie sind und wie sie aussehen. Und wer damit Probleme hat, hat auch Schwierigkeiten mit dem Älterwerden.
Jeder Lebensabschnitt fordert uns heraus und bietet die Chance zu wachsen. Das Problem ist nur, die Situation tatsächlich anzunehmen. Wie schwierig es beispielsweise ist, erwachsene Kinder gehen zu lassen, hat Gabriele erfahren. Sie liebt ihre Kinder und wollte es ihnen leicht machen, in die Welt hinaus zu gehen. Soweit die Theorie, die Praxis sah dann ganz anders aus. Als die Kinder nach dem Abitur ganz selbstverständlich aus dem Haus gegangen waren, blieb Gabriele allein zurück. Jetzt merkte sie erst, wie schwer es fiel, die Wohnung plötzlich so leer vorzufinden. Das machte sie traurig. Die Kinderzimmer waren so ohne Leben. Und wenn sie dann das Zimmer der Tochter betrat, das noch von ihrem Geruch erfüllt war, brach Gabriele jedes Mal in Tränen aus. Es hat Zeit gebraucht, das zu verkraften.
Dass sie der Auszug der Kinder doch emotional so mitnimmt, hat die 53-Jährige völlig überrascht. Als Klammermama hat sie sich nie gesehen. Ihr ist es immer wichtig gewesen, dass die Kinder selbstständig werden. Trotzdem: Auch dieser Abschied will betrauert werden. Gabriele kann zu ihren Gefühlen stehen und lässt sie zu. Dann ist sie einfach traurig und Tränen kommen. Das dauert zehn Minuten, sagt sie. Sie weiß, dass sie nicht in den Tränen versinkt, auch wenn es schlimm ist. Das Weinen hat jedes Mal etwas gelöst. Danach ging es wieder besser. Sie kochte sich dann erst einmal einen Kaffee und setzte ihren Tag fort.
„Begrabe den Schmerz, der noch der deine ist, nicht unter dem Felsgestein, denn unbeweint kann er dich nicht zu verborgener Quelle führen, die dir Leben verheißt.“
Antje Sabine Naegeli
Trauer hilft, Vergangenes loszulassen und Verluste zu verarbeiten. Heftige Gefühle wie Schuld, Angst und Wut begleiten den Prozess. Fassungslos stehen Menschen vor Schicksalsschlägen wie lebensbedrohlichen Krankheiten oder plötzlichem Tod. Betrifft es Kinder, stürzen Eltern in eine Lebenskrise. Als bei der dreijährigen Anna eine genetische Stoffwechselerkrankung festgestellt wurde, zerbrach bei den Eltern ein ganzer Lebensplan. Plötzlich stand fest, dass Anna eine tödlich verlaufende Erkrankung hat, gegen die es kein Medikament gibt. Karin, Annas Mama erinnert sich an den großen Schmerz. Damals hat sie mit sehr vielen Menschen darüber geredet. Sie hatte den Drang, einfach viel darüber zu reden, auch wenn sie damit so manchen überfordert hat. Doch wollte sie den Schmerz mit anderen Menschen teilen. Beide, ihr Mann und sie sind durch das erste Jammertal gegangen, sagt sie. Danach konnten sie auch die Frage: Warum ausgerechnet wir? loslassen und einfach sagen, ok es ist ein Fakt und wir müssen jetzt einen neuen Weg gehen und das muss trotzdem schön und gehaltvoll sein. Der Schmerz hatte sich verändert.
Karin wollte nicht in der Trauer versinken und hat sich von Anfang an psychologische Hilfe gesucht. Auch sieben Jahre nach Annas Diagnose lässt sie sich noch professionell begleiten. Viele Themen wurden dabei schon aufgegriffen. Am Anfang stand Annas Erkrankung im Vordergrund und die Auswirkungen auf das Familienleben. Dann beschäftigte sie vor allem das, was vor der Krankheit Bestand hatte, zum Beispiel der Beruf, den sie völlig aufgegeben hat, um für ihre Tochter da zu sein. Plötzlich wurde sie mit ihrer eigenen Kindheit konfrontiert und dann wiederum mit ihrer Ehe, die auch in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Bestimmte Themen kommen immer wieder und müssen auf einer neuen Ebene betrachtet werden. Dazwischen aber liegen ein Weg und eine Entwicklung. Die Tatsache, dass ihre Tochter vor ihr sterben wird, lässt sie mit dem Thema „Zeit“ ganz anders umgehen. Sie ist relativ geworden. Für sie ist das der Schlüssel, um sich von Dingen zu verabschieden, wie sie zu sein haben oder die als „normal“ angesehen werden. Mit dieser Haltung entdeckt sie eine ganz neue Lebensqualität. Ihr wird klar, dass sie von manchen Dingen Abstand nehmen muss, zum Beispiel von der Vorstellung, dass einen die Kinder immer überleben und das in einer Gesellschaft, wo man vielleicht 80 wird oder älter.
Es gibt keinen Vertrag, der garantiert, dass die Eltern vor den Kindern sterben. Keiner hat das in der Hand. Gleichzeitig erkennt Karin, wie wertvoll die Zeit ist, die sie mit Anna verbringt. Sie hat das Gefühl, dass sie in den Jahren, seit dem sie von der Erkrankung weiß, intensiver lebt, als andere Eltern mit ihren Kindern.
Der ständige Nervenabbau hat bei der mittlerweile 10-jährigen Anna dazu geführt, dass sie nicht mehr sprechen und sehen kann. Essen, gehen, stehen und sitzen, all das ist nicht mehr möglich. Sie muss rund um die Uhr gepflegt werden und braucht Medikamente. Trotz der belastenden Situation gelingt es Karin immer wieder, Momente zu schaffen, die beide genießen. Es ist eine wertvolle Zeit, die jeden Augenblick vorbei sein kann. Wie endlich das Leben ist, hat Anna ihren Eltern vor ein paar Monaten schon einmal gezeigt. Es sah so aus, als ob sie sich entschieden hätte, diese Welt zu verlassen. Da spürte Karin einen großen Schmerz. Doch da war auch sehr viel Frieden, weil Anna sehr sanft am Gehen war, erzählt sie. Das war schön zu sehen. Da dachte sie, wenn Anna mal so geht, wenn sie mal so sterben wird, dann kann ich sie gehen lassen. Das hat sie ihrer Tochter auch gesagt, als sie in ihren Armen lag. Anna, sagte sie, du darfst gehen, wenn du meinst, du möchtest jetzt gehen.
Anna bestimmt den Zeitpunkt. Sie entscheidet, wann sie von dieser Welt gehen möchte. Da ist es tröstlich zu wissen, dass Sterben nichts mit Schmerzen zu tun hat. Einschlafen soll ein angenehmes Gefühl sein, so als ob man ins Licht läuft.
Wenn Anna sich entscheidet zu sterben, darf sich Karin nicht dazwischen stellen. Es ist der Weg ihrer Tochter. Anna gehen zu lassen, das ist die Aufgabe. Den Respekt vor dem eigenen Tod sollte jeder Mensch einem Sterbenden entgegen bringen, empfindet Karin.
Anna hat sich ins Leben zurückgekämpft. Sie hat allen gezeigt, dass es noch nicht so weit ist. Für die Eltern war es ein Denkanstoß, sich wieder mehr damit zu befassen, was ist, wenn die Tochter geht. Der Zorn, die Wut und Angst über Annas Schicksal sind bei Karin vorbei. Sie hat die Situation angenommen und sich mit der Erkrankung ausgesöhnt. Sie weiß, wenn sie Anna nicht loslässt, kann sich ihre Tochter nicht entwickeln, kann sich nicht weiter bewegen, kann nichts Neues erleben, kann nicht zu einer eigenen Persönlichkeit reifen.
Loslassen muss man vieles im Leben, auch Gegenstände aus der Kindheit. Deutlich wird das, wenn man beispielsweise Zuhause aufräumt und bereit ist, sich von Dingen zu trennen. Letztlich ist es befreiend. Loslassen bereitet den Weg für eine Entwicklung, damit das Leben weiter geht.
Wie wird es aussehen, das Leben ohne Anna? Vieles kann Karin vorher planen. Sie kann beispielsweise eine Grabstätte besorgen und festlegen, wer die Grabrede halten soll. Ihren Lebensweg aber kann sie nicht planen, den kann sie nur gehen. Das hat sie von ihrer Tochter gelernt. Karin hat Vertrauen ins Leben und darin, dass alles seinen Sinn hat. Diese Haltung gibt ihr Zuversicht und Mut, ihren Weg weiterzugehen. Trotzdem befürchtet sie, dass noch viel Trauer vor ihr liegt und spricht dabei von einem schlimmen Jammertal, das sie sich heute noch nicht vorstellen kann. Sie befürchtet, in ein tiefes Loch zu fallen, wenn Anna aus dem Leben geht. Ihr Mann hat wenigstens seine Arbeit, die ihn auch ablenkt. Sie aber wird im Haus sitzen. Sie wird Annas leeres Zimmer sehen, ihr leeres Bett. Sie wird anfangen müssen, aufzuräumen und auszuräumen und sie wird kein anderes Leben haben und es wird einfach nichts da sein. Sie wird keine Beschäftigung haben. Sie malt sich das furchtbar aus. Aber sie weiß auch, dass sie aus dieser Krisensituation hoch erhobenen Hauptes herauskommen will.
Deshalb macht sie jetzt schon viel: eine Therapie, schafft ein soziales Netz und versucht das Leben positiv zu sehen.
„Wenn es einen Sinn in unserem Leben gibt, dann kann er doch nur darin bestehen, uns aus dem Dunkel ins Licht zu bewegen, aus der Schwere in die Leichtigkeit, aus der Sehnsucht in die Erfüllung.“
Hans Kruppa
Der Schock bei Winfried sitzt noch immer tief, auch nach sieben Jahren. Der Tod seiner 15-jährigen Tochter Christina lässt ihn nicht zur Ruhe...