Menschen vermindern ihre Fassaden
Wie können wir uns persönlich so entwickeln, daß wir mehr wir selbst sind? Wie finden wir zu einer Lebensweise, von der wir sagen können: «Was ich äußere, entspricht dem, was ich fühle und denke.» – «Ich verleugne mich anderen gegenüber nicht.» Was ist hilfreich auf diesem Weg, der sich oft über Jahre erstreckt und dessen Ziel wir kaum je erreichen?
⚪ Der Wunsch, sich von den Einengungen einer Fassade zu befreien, steht oft am Beginn. Eine Frau, 40 Jahre: «Warum trage ich eigentlich eine Maske? Warum lasse ich sie nicht fallen? Das möchte ich gern. Weil ich weiß, in Wirklichkeit bin ich ganz anders. Die Menschen sehen mich nicht, wie ich in Wirklichkeit bin. Ich möchte so leben, wie ich bin. Und auch von den anderen so erlebt werden.» Siegmund, 38 Jahre: «Ich möchte auf andere offen zugehen können und sagen: ‹Seht, so bin ich›, ohne in ein Rollenverhalten zu fallen und zu denken: ‹Was erwartet der andere von mir, wie muß ich jetzt sein?›» Eine Frau: «Zuerst bemerkte ich nicht, daß ich diese Maske habe … Vor einiger Zeit entdeckte ich, daß da offenbar etwas ist, was die Menschen von mir fernhält. Ich bemühte mich ganz verzweifelt, da herauszukommen, und ich wollte mich öffnen. Aber ich weiß nicht, wie ich da herauskommen soll … Ich weiß nur, daß ich das will.» [44]
Dieses Bewußtwerden der Einengung ist ein Anstoß, sich von Fassaden zu befreien.
⚪ Die ersten konkreten Schritte in der Entwicklung, echter zu werden, sind oft: In günstigen zwischenmenschlichen Situationen unternehmen Menschen weniger Anstrengungen, sich anderen gegenüber anders zu geben, als sie sind, besonders dann, wenn ihre Offenheit erwünscht ist. Wenn andere sich hierdurch nicht bedroht fühlen und wenn sie das Gefühl haben, daß ihnen aus dieser Entwicklung keine Nachteile erwachsen, sondern daß sie von den Mitmenschen anerkannt werden. «Dort, wo ich angenommen werde, wie ich bin, kann ich jetzt schon echt und ohne Fassade sein», sagt die Bibliothekarin Nicole. «Durch diese positive Atmosphäre bei den Leuten hatte ich nie das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen, daß das jemand verkehrt auffassen könnte.» – «Wenn ich mich bei Leuten sicher fühle», sagt ein 45jähriger, «dann kann ich mich fallenlassen und mich öffnen. Sicherheit ist für mich, daß ich ein Gefühl von Zuwendung habe und die Leute kenne – daß ich darauf vertrauen kann, daß sie mich auch mögen, wenn ich mich anders gebe.» – «Ich habe mich so sicher unter Euch gefühlt», schreibt eine Frau, «daß ich es zum erstenmal schaffte, offen und ehrlich zu mir selbst zu sein. Eure Reaktion darauf hat mich sehr ermutigt und darin bestätigt, die Veränderung anzustreben.» Für manche ist auch das Zusammensein mit Kindern, die meist spontan und ohne Maske sind, eine Hilfe. «Bei meinen Kindern schaffe ich es am ehesten, ich selbst zu sein und ohne Angst», sagt der 35jährige Jakob.
⚪ Wenn sie auf Verständnis stoßen, beginnen manche, sich auch in ihrem Beruf mehr so zu zeigen, wie sie sind. So haben uns Lehrer von ihren Bemühungen berichtet, ihre Autoritätsrolle gegenüber den Schülern aufzugeben und zu vermeiden, etwas anders auszudrücken, als sie fühlen: «Ich habe erfahren, daß meine Schüler mich auch ohne Abwehrmauern mögen. Ich brauche nicht mehr anzugeben und den starken Mann zu spielen. Ich bin mir und den anderen gegenüber ehrlicher geworden.» Von den Schwierigkeiten, aber auch von ermutigenden Fortschritten berichtet Alfred, 35: «In Arbeitsgruppen und im Kontakt mit anderen erlebe ich es zum Teil heute noch als bedrohlich, meine Schwäche zu zeigen. Ich mache mich damit verletzbar. Wenn ich aber meine Verteidigungshaltungen aufgab, dann hatte ich einen viel lebendigeren Kontakt zu meinen Arbeitskollegen und Mitmenschen bekommen. Ich habe viel mehr Anteilnahme und Wärme gespürt, wenn ich meine Fassade aufgab.»
⚪ Menschen mit Selbstvertrauen und der Bereitschaft, sich zu wandeln, fällt es oft leichter, ihre Fassaden zu vermindern. «Ich denke, ich muß vorher innerlich aufrüsten, um nach außen meinen Panzer abrüsten zu können», sagt ein 40jähriger. «Aufrüsten heißt Vertrauen zu mir haben, zu mir selbst stehen, mich selbst achten – und bereit sein, auf Äußeres, auf Prestige, Eitelkeit, Ansehen und Anerkennung zu verzichten. Wenn ich innerlich sehr zu mir stehe und mich achte, dann kann ich auch ohne Fassade gegenüber denen sein, die mich nicht darin achten und annehmen. Entscheidend ist: Ich nehme mich selbst an.»
Das Vertrauen zu sich selbst und die Bereitschaft, sich zu sich selbst und ihrer Situation zu bekennen, halfen auch Margot: «Eine Zeitlang habe ich zu niemandem irgend etwas über meine Schwierigkeiten in der Partnerschaft gesagt. Ich sagte mir: Das ist meine Privatangelegenheit. Aber das ist anders geworden. Ich bekenne mich voll dazu, daß es nun einmal so ist, daß unsere Partnerschaft so schiefgelaufen ist. Und ich versuche, nichts mehr zu verstecken. Ich habe mir gesagt: Mensch, wenn die Situation anscheinend wirklich so unveränderbar ist, dann mußt du eben den Tatsachen ins Auge schauen und dich und die Situation so darstellen, wie sie ist.»
⚪ Sich von Erwartungen frei zu machen, von den eigenen und denen anderer, ist förderlich auf dem Weg, echter zu werden. «Ich bin dahintergekommen, daß Erwartungen an mich und an andere mich daran hindern, in einer Beziehung oder in einem Moment wirklich echt, wirklich ich selber zu sein. Erwartungen von mir: Der andere wünscht sich das von mir. Und Erwartungen an mich: Ich müßte der und der sein, und ich müßte mich anderen so darstellen. Und so habe ich mich dann verstellt. Ich lerne jetzt, alle Erwartungen aufzugeben und in jedem Moment der zu sein, der ich bin.»
⚪ Die Teilnahme an einfühlsamen Gruppengesprächen erleichtert es Menschen sehr, fassadenfreier und offener zu werden. Das Klima von gegenseitigem Verständnis, Akzeptierung und Unterstützung – zunächst von dem Helfer geschaffen, dann von den Gruppenmitgliedern übernommen – ist hierfür entscheidend. [40, 54] Jeder zweite, der vor der Teilnahme an einer Gruppe angegeben hatte, er verberge sich weitgehend hinter einer Fassade, erlebte sich ein halbes Jahr danach als wesentlich fassadenfreier. [65] «Die Gruppe half mir, die Maske der Überlegenheit abzulegen. Ich wurde mir selbst gegenüber ehrlicher und den anderen gegenüber mutiger.» – «Meine Einstellung anderen Menschen gegenüber war immer auf Abwehr von Angriffen gerichtet, weil ich glaubte, meine Schwächen verbergen zu müssen. Bei der Gesprächsgruppe erlebte ich, daß ich auch ohne Abwehrmauern akzeptiert werde. Ich komme mir jetzt zwar wehrloser, aber doch stärker vor. Ich brauche nicht mehr anzugeben und den starken Mann zu spielen. Ich bin mir und den anderen gegenüber ehrlicher.»
Die meisten überwinden allmählich ihre Hemmungen und Ängste, die Fassade fallen zu lassen. Bei einigen erfolgt es plötzlich und intensiv, wie es der 18jährige Joachim in einem Brief an uns beschreibt: «Am ersten Tag in der Gesprächsgruppe hatte ich Angst, mich selbst zu zeigen. Aber ich sagte dies niemandem. Ich verdrängte die Angst. Am nächsten Tag brach dann ein Kartenhaus zusammen, das viele Jahre gehalten hatte. Jemand äußerte, daß er mich nicht als echt erlebe. Ich spürte zu meiner Verblüffung, wie ich zunehmend unruhiger wurde. Gespielt kühl wollte ich wissen, was die anderen davon hielten. Es waren einige andere da, die ihn bestätigten. Sie hatten sich nur noch nicht getraut, es mir zu sagen. Ich begann zu zittern. Das durfte doch nicht wahr sein. Innerlich wehrte sich etwas in mir wie eine verletzte Raubkatze, doch ich fühlte mich hilflos. Ich wandte mich an die Helferin, sie wenigstens müsse doch die Echtheit gespürt haben. Aber auch sie fühlte wie die anderen. Da war es aus. Ich hatte das Gefühl, als wäre mir mit einemmal der Boden unter meinen Füßen weggerissen. Ich kam mir so allein vor. Ich hatte den starken Wunsch, aus dem Zimmer zu laufen. Doch auch darin sah ich keine Hoffnung. Nach kurzer Zeit geschah das für mich Merkwürdige. Plötzlich wurde ich ganz ruhig, das Zittern hörte auf, und ich sagte: ‹Wißt ihr, das komischste ist, ihr habt recht.› Auf einmal sah ich, daß ich tatsächlich gespielt hatte, nicht ich selbst gewesen war und das schon jahrelang. Ich konnte es nicht begreifen. Doch ich konnte es mir jetzt eingestehen. Ich hatte das Gefühl, als sei ein seltsamer Druck fort. Ich war erstaunt, daß ich dann alles über mich sagen konnte. Dinge, die ich noch eine Stunde zuvor nicht einmal mir selbst zugegeben hätte, konnte ich auf einmal wie selbstverständlich erzählen. Ich merkte, daß ich bisher kaum wahre Gefühle gezeigt hatte. Mir wurde bewußt, daß ich meine eigenen Gefühle einfach nicht hatte zulassen können, sondern überdeckt hatte. Leise begann ich zu weinen. Ich war verwirrt, aber ruhig.»
Welche Auswirkungen hat es, wenn wir freier von Fassaden werden?
Wir sind sehr beeindruckt von den seelischen Vorgängen, die bei Menschen eintreten, die echter werden:
⚪ Sie werden seelisch lebendiger, selbstbestimmter, haben mehr persönliche Kraft: «Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich früher gelebt habe», berichtet eine Frau. «Es muß unheimlich anstrengend gewesen sein, hinter dieser Fassade zu leben.» – «Ich brauche nicht mehr viele Gedanken daran zu verschwenden, wie ich auf andere wirke!» Menschen verbrauchen ihre Energien nicht mehr zur Aufrechterhaltung ihrer Fassade. Teile ihrer Persönlichkeit, die vorher verkümmert waren,...