„Ich halte den Brief noch für ein Mittel des Umgangs“
Rilke – der Briefschreiber
Es ist immer wieder zum Erstaunen, wenn man die Fülle der Briefe bedenkt, die Rainer Maria Rilke im Laufe seines Lebens geschrieben hat. Eigentlich hat er jeden Tag seine „Brieffeder“ in Gang gesetzt. Das waren nicht nur kurze Mitteilungen, schnell hingeschriebene Notizen oder knappe Antworten auf die brieflich vorgetragenen Anfragen; er ging auf seine Briefpartner ein, nahm die Probleme ernst und teilte sich selbst auf eine durchaus persönliche Weise mit. Und er schrieb ja nicht nur an seine Freunde und guten Bekannten, sondern oft genug an absolut fremde Menschen, die durch seine Bücher Vertrauen zu ihm gefasst hatten und sich nun mit ihren persönlichen Anliegen an ihn wandten. Offenbar hatten viele Menschen die Vorstellung, ein Dichter, der so schöne und einfühlsame Gedichte schreiben kann, der muss auch geeignet sein, anderen in ihrer seelischen Not beizustehen oder einen hilfreichen Wink zu geben, einen Weg aus der Krise zu finden. Was an den Briefen von Rilke so fasziniert, ist, dass er sein briefliches Gegenüber ganz individuell zu fassen sucht, manchmal passt er sich auch im Sprachstil deutlich an. Wie unterschiedlich sind seine Briefe an Lou Andreas-Salomé und an die Fürstin Thurn und Taxis, an junge Menschen und unbekannte Fragesteller. Aber immer geht er geduldig und verhältnismäßig umfangreich auf seine Partner ein. Oft wuchsen ihm seine selbstauferlegten Briefpflichten über den Kopf und er konnte sie kaum noch bewältigen; trotzdem ließ er die gesponnenen Fäden nicht abreißen, entschuldigte sich aber, wenn ein Brief lange auf seine Antwort warten musste.
Am 2. August 1919 schrieb Rilke an Lisa Heise, eine junge Frau, die sich mit ihren Problemen an ihn gewandt hatte, er sei durchaus zu einem Briefwechsel bereit, sie solle ihm ruhig schreiben, auch wenn es zu längeren Verzögerungen kommen könne: „Ich gehöre zu den Menschen, den altmodischen, die den Brief noch für ein Mittel des Umgangs halten, der schönsten und ergiebigsten eines. – Freilich muß ich sagen, daß diese Verfassung meine Korrespondenz zuweilen über das Leistbare hinaus vermehrt, daß ferner – oft für Monate – die Arbeit, öfter noch (wie während des ganzen Krieges) eine unüberwindliche ‚sécheresse d’ame‘ mich verstummen und stumm bleiben lässt.“26 Er beendet aber seinen Brief mit dem Versprechen: „Ich werde lange ausbleiben, aber, wenn es Ihnen recht ist, immer wieder da sein, wissend, mitwissend, wie ich es heute zuerst habe sein dürfen.“27 Die Antworten seiner Briefpartner hat Rilke sehr aufmerksam gelesen und die Briefe verwahrt. Ihn freute es, wenn sich ein wirklicher Dialog entwickelte und wenn seine in gestochener Schrift verfassten und oft ausführlichen Briefe dankbar aufgenommen wurden. „Und wie tröstet es, für einen Moment meine Heimatlosigkeit, daß, wie Sie sagen, ein einziger Brief von mir die Erwartung Ihrer feierlich offenen Zimmer zu erfüllen vermochte.“28
Mit jedem persönlichen Brief wurde er ja auch mit dem Schicksal eines Menschen verknüpft, und wenn sich darin Nöte und Schmerzen niederschlugen, dann wurde auch er damit beladen. Rilke wusste darum und hat sich nicht dagegen gewehrt. In dem Briefwechsel mit der kranken und schmerzgeplagten Ilse Erdmann konnte er – am 31. Januar 1914 – seinen Brief mit der Versicherung enden: „Lassen Sie nun, so gut es geht, sich von diesen Zeilen überzeugen, daß Sie ‚ganz frei‘ schreiben können, wie an Niemanden und an Alle, wie man den Blick hebt und, innerlich schauend, meint in die Landschaft hinauszusehen, nicht anders: nur damit die Distanz da sei, die zum Schreiben nötig ist.“29 Und wenn sich auch bei ihm die Briefberge türmten und er nicht wusste, wann und wie er die Briefschulden abtragen sollte, konnte er einen Brief mit der Aufforderung schließen: „Schreiben Sie bald“, oder: „Mir fällt ein, ich weiß wenig von Ihrer Kindheit. Nichts.“30 Und am 22. August 1916 schrieb er an Ilse Erdmann: „Schreiben Sie mir oft, sooft der Moment es eingibt und lassen Sie alle Briefe fortgehen, halten Sie keinen zurück, bedenken Sie keine; und fühlen Sie mich als den Freund, zu dem die Großmuth (nein: die Natur Ihres Vertrauens) Ihres Vertrauens mich gemacht hat.“31
Was mag der Grund gewesen sein, dass Rilke sich auf eine so ausgedehnte Korrespondenz einließ? Er war doch so bedacht auf seine Einsamkeit und immer darum bemüht, einen geschützten Raum um sich zu schaffen. Das dichte Netz seiner Brieffreundschaften vermittelte ihm eine gewisse Beheimatung, er wurde dadurch gehalten und gestützt. Aber noch ein anderer Grund mag ins Gewicht fallen: Die „Brieffeder“ ergänzte und förderte die „Arbeitsfeder“. In den Briefen konnten sich seine Gedanken spielerisch entfalten, sie mussten nicht in das strenge Maß des künstlerischen Anspruchs eingeordnet werden. Manche Briefe strömen unbekümmert dahin, sind voller Anspielungen und plötzlicher Einfälle. Das Humorige und Kauzige, das Ironische und manchmal sogar das Satirische sind mögliche Stilmittel. Da waltet noch keine strenge Selbstzensur, die freien Assoziationen dürfen noch sprudeln. Aber daneben kommen auch die großen Themen zur Sprache, die ihn im Tiefsten bewegen. Wenn man genau hinschaut, kann man beobachten, dass sich in den Briefen auch die spätere Dichtung gleichsam vorbereitet, bis in manche Formulierung hin. Da werden manche Themen schon einmal – gleichsam auf Probe – durchbuchstabiert.
Unversehens geriet Rilke aber auch in die Rolle des Ratgebers, des Therapeuten und Seelsorgers. In diesen Fällen hat er es gewöhnlich vermieden, auf direkte Weise Entscheidungen anzubieten oder Lösungen zu präsentieren. Sein „Rat“ ist höchstens ein vorsichtiges Angebot; behutsam geht er mit der Problemlage um, voller Verständnis, aber ohne den Eindruck zu erwecken, er könne ein Patentrezept anbieten. Als er der kranken Ilse Erdmann, die keinen Lebensmut mehr hatte und am liebsten sterben wollte, helfen wollte, schrieb er ihr am 21. Dezember 1913: „Je weiter ich lebe, desto nötiger scheint es mir, auszuhalten, das ganze Diktat des Daseins bis zum Schluss nachzuschreiben, denn es möchte sein, daß erst der letzte Satz jenes kleine, vielleicht unscheinbare Wort enthält, durch welches alles mühsam Erlernte und Unbegriffene sich gegen einen herrlichen Sinn hinüberkehrt. Und wer weiß, ob wir nicht in jeweiligen Verhältnissen irgendwie davon abhängen, daß wir hier zu dem Ende gekommen sind, das uns nun einmal bereitet war; auch ist keine Sicherheit dafür gegeben, daß wir, aus zu großer Müdigkeit hier hinausflüchtend, drüben nicht vor neuen Leistungen stehen, vor denen sich die Seele, bestürzt und unberufen wie sie ankäme, erst recht beschämt fände.“32 Mit welcher Klugheit verdeutlicht Rilke dieser Frau, dass auch eine schwere Krankheit noch ihre Sinnhaftigkeit hat und durchgetragen werden soll! Jede Phase unseres Lebens hat noch ihre eigene Sinnspur und trägt dazu bei, die „Frucht“ des Lebens hervorzubringen. Verdeutlicht wird das mit dem schönen Gedanken, von jedem Menschen werde erwartet, ein „Wort“ in die Welt einzubringen, auch wenn es nur ein unscheinbares Wort ist. Am 15. März 1914 schreibt er ihr: „Ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie früher oder später die Ernte Ihres Leidens antreten werden und daß das eine wehmütig wunderbare Zeit sein wird, voll leichter Beziehung ins Weite, Offene.“33 Das war keine Vertröstung und keine ablenkende Floskel. Die Schmerzen und die Lebensnot werden ernst genommen, aber sie bekommen einen größeren Horizont: Vor den entscheidenden Aufgaben unseres Lebens können und dürfen wir nicht fliehen. Es steht immer noch etwas aus, das durchgestanden werden muss.
Rilke führte den Briefwechsel auch dann weiter fort, wenn es ihm selbst schlecht ging und er sich fast völlig ins Verstummen zurückgezogen hatte. Nun konnte er nicht mehr der großmütig Gebende sein, der Wissende und Weltkluge, er steckte selbst in einer argen Misere. Kluge Ratschläge wären in dieser Situation unglaubwürdig gewesen, er empfand sich selbst als hilfsbedürftig und elend. In einer solchen Lage ließ er sein Gegenüber an seiner eigenen Not teilnehmen. Am 6. September 1916 schrieb er: „Wer bin ich denn auch, daß ich Sie mit dem Leben beruhigen dürfte –, der ich selbst ihm so gut wie nirgends gewachsen war, sondern höchstens imstand, wenn ich beschützt war vor ihm, seine hinreißenden Zusammenhänge auszusagen … Ich darf mich nicht mehr ausgeben, als für einen Hörenden und Schauenden.“34 Ist er nicht in der gleichen Situation wie die leidende Frau? Er kann nur seine Bereitschaft angeben, als Leidender an der Not anderer Leidender zu partizipieren, er kann sich nur als Gefährten der übrigen Kranken verstehen. Von einem herablassenden Trost hielt Rilke nichts, aber von...