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E-Book

Welt und Mensch

Das Buch 'De Operatione dei'

AutorHildegard von Bingen
VerlagOtto Müller Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl358 Seiten
ISBN9783701353477
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Acht Jahre lang schrieb Hildegard von Bingen an diesem monumentalen Buch von der Welt, das jetzt nach achthundert Jahren erstmals aus der ältesten Handschrift, dem Genter Kodex 'De operatione Dei', übersetzt und erläutert wird. Zum ersten Male herausgegeben werden dabei auch alle zehn Kosmostafeln aus dem etwas jüngeren Kodex zu Lucca, die in ihrer Schönheit und Eindringlichkeit eine ausgezeichnete Illustration zu den Texten darstellen. Dieses Buch der zehn Visionen 'Vom Wirken Gottes' zeigt Ursprung, Aufbau und Schicksal des Universums, es beschreibt die Struktur des Kosmos, die Gliederung des Menschenleibes und das Schicksal des Menschengeschlechtes. Es ist im Grunde immer der Mensch in seiner sittlichen Entscheidung, dem alle Kreatur dient, der das Interesse der Engel findet, um dessentwillen Gott selber auf die Welt kam und im Fleische Mensch geworden ist.

Die Naturheilkundige und Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) war die bedeutendste deutsche Mystikerin. Ihre mystisch-prophetischen Visionen, ihr fester Glaube, ihr vorbildliches Leben und ihr charismatisches Auftreten machten die Posaune Gottes schon zu Lebzeiten zu einer verehrten Volksheiligen. Auf den Menschen und die Schöpfung eröffnen ihre Werke eine ganzheitliche Sicht, in der auf faszinierende Weise theologische, kosmologische, naturkundliche und spirituelle Aspekte verwoben sind. Heinrich Schipperges, geb. 1918. 1951 Dr. med.; 1952 Dr. phil. 1959 Habilitation für Geschichte der Medizin. 1960 Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. 1961-1986 Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin in Heidelberg. 1979 Ehrendoktor der Universität Madrid. Veröffentlichungen: 90 Monographien; über 800 Beiträge in Fachzeitschriften.

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Leseprobe

DIE ERSTE SCHAU
VOM URSPRUNG DES LEBENS

1 Und ich schaute im Geheimnisse Gottes inmitten der südlichen Lüfte ein wunderschönes Bild. Es hatte die Gestalt eines Menschen. Sein Antlitz war von solcher Schönheit und Klarheit, daß ich leichter in die Sonne hätte blicken können als in dieses Gesicht. Ein weiter Reif aus Gold umgab ringsum sein Haupt. In diesem Reif erschien oberhalb des Hauptes ein zweites Gesicht, wie das eines älteren Mannes. Dessen Kinn und Bart rührten an den Scheitel des ersten Kopfes. Vom Hals der Gestalt ging beiderseits ein Flügel aus. Die Flügel erhoben sich über den erwähnten Reif und vereinigten sich oben. Am obersten Teil der Krümmung des rechten Flügels erschien der Kopf eines Adlers. Dessen Augen waren wie Feuer, und es erstrahlte in ihnen wie in einem Spiegel der Engel Glanz. Auf dem obersten Teil der Krümmung des linken Flügels war ein Menschenhaupt, das leuchtete wie der Sterne Funkeln. Beide Gesichter waren nach dem Osten gewandt. Von den Schultern dieser Gestalt ging ein Flügel bis zu den Knien. Sie war gewandet in ein Kleid, das der Sonne gleich erglänzte. In ihren Händen trug sie ein Lamm, das leuchtete wie ein lichtklarer Tag. Mit ihren Füßen zertrat die Gestalt ein Ungetüm von entsetzlichem Aussehen, giftig und schwarz, und eine Schlange. Diese hatte sich in das rechte Ohr des Ungetüms verbissen. Ihr Leib schlang sich quer um den Kopf des Ungetüms; ihr Schwanz reichte auf der linken Seite bis an die Füße.

Die Gestalt sprach also:

2 Ich, die höchste und feurige Kraft, habe jedweden Funken von Leben entzündet, und nichts Tödliches sprühe ich aus. Ich entscheide über alle Wirklichkeit. Mit meinen höheren Flügeln umfliege ich den Erdkreis: mit Weisheit habe ich das All recht geordnet. Ich, das feurige Leben göttlicher Wesenheit, zünde hin über die Schönheiten der Fluren, ich leuchte in den Gewässern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit jedem Lufthauch, wie mit unsichtbarem Leben, das alles erhält, erwecke ich alles zum Leben. Die Luft lebt im Grünen und Blühen. Die Wasser fließen, als ob sie lebten. Die Sonne lebt in ihrem Licht, und der Mond wird nach seinem Schwinden wieder vom Licht der Sonne entzündet, damit er gleichsam von neuem auflebe. Auch die Sterne geben aus ihrem Licht, wie wenn sie lebten, klaren Schein. Die Säulen, die das ganze Erdenrund tragen, habe ich aufgerichtet und ebenso die Windkräfte, die wiederum untergeordnete Flügel haben, sozusagen schwächere Winde, die durch ihre sanfte Kraft jenen mächtigen widerstehen, damit sie nicht gefährlich ausbrechen. So deckt auch der Körper die Seele und hält sie zusammen, damit sie sich nicht verhauche. Denn wie der Seele Hauch den Leib stärkt und festigt, damit er nicht dahinschwindet, so beleben auch die kräftigeren Winde die ihnen untergebenen Winde, damit sie ihren Dienst entsprechend versehen.

Und so ruhe ich in aller Wirklichkeit verborgen als feurige Kraft. Alles brennt so durch mich, wie der Atem den Menschen unablässig bewegt, gleich der windbewegten Flamme im Feuer. Dies alles lebt in seiner Wesenheit, und kein Tod ist darin. Denn ich bin das Leben. Ich bin auch die Vernunft, die den Hauch des tönenden Wortes in sich trägt, durch das die ganze Schöpfung gemacht ist. Allem hauchte ich Leben ein, so daß nichts davon in seiner Art sterblich ist. Denn ich bin das Leben.

Ich bin das ganz heile Leben (vita integra): nicht aus Steinen geschlagen, nicht aus Zweigen erblüht, nicht wurzelnd in eines Mannes Zeugungskraft. Vielmehr hat alles Leben seine Wurzel in mir. Die Vernunft ist die Wurzel, das tönende Wort erblühet aus ihr.

Da Gott Vernunft ist, wie könnte es geschehen, daß Er nicht am Werke sei, Er, der doch jedes Seiner Werke aufblühen läßt durch den Menschen.1 Er schuf ihn ja nach Seinem Bild und Seiner Ähnlichkeit und zeichnete jedes Seiner Geschöpfe nach festem Maß in diesen Menschen. Von Ewigkeit lag es im Ratschlüsse Gottes, daß Er Sein Werk – den Menschen – schaffen wollte. Und da Er dieses Werk vollendete, übergab Er dem Menschen die ganze Schöpfung, damit er mit ihr wirken könne, und zwar in genau der gleichen Weise, wie auch Gott Sein Werk – den Menschen – gebildet hatte.

Und so diene ich helfend. Denn alles Leben erglüht aus mir. Das ewig sich gleichbleibende Leben bin ich, ohne Ursprung und ohne Ende. Eben dies Leben ist Gott, stetig sich regend und ständig am Werk, und doch zeigt sich dies eine Leben in dreifacher Kraft. Denn die Ewigkeit wird „der Vater“ genannt, das Wort „der Sohn“, der Hauch, der beide verbindet, „der Heilige Geist“. Und so hat es Gott auch im Menschen gezeichnet; in ihm sind der Körper, die Seele und die Vernunft. Daß ich über die Schönheit der irdischen Gefilde flamme, das bedeutet: Die Erde ist der Stoff, aus dem Gott den Menschen gebildet, und daß ich leuchte in den Gewässern, das deutet hin auf die Seele, die den ganzen Leib durchdringt, so wie das Wasser die ganze Erde durchströmt. Daß ich brenne in Sonne und Mond, weist hin auf die Vernunft; sind doch die Sterne unzählbare Worte der Vernunft. Und daß ich mit dem Lufthauch wie mit unsichtbarem Leben, das alles hält, das All lebensvoll erwecke, das sinnbildet: Durch Luft und Wind wird das, was im Wachstum reift, belebt und erhalten, und es weicht in nichts von dem ab, was in ihm ist.

Der Mensch als Gottes Bild inmitten der Schöpfung

3 Und wiederum hörte ich die Stimme vom Himmel, die zu mir sprach: Gott, der alles geschaffen, bildete den Menschen nach Seinem Bilde und Seiner Ähnlichkeit und zeichnete in ihm sowohl die höheren als auch die niederen Geschöpfe. Er hat ihn so sehr geliebt, daß Er ihn für den Platz bestimmte, aus dem der gefallene Engel geschleudert ward, und ihm alle Herrlichkeit und Ehre zuordnete, die jener mit seiner Seligkeit verloren hatte. Dies zeigt das Gesicht, das du schaust.

Denn was du im Geheimnisse Gottes inmitten der südlichen Lüfte als wunderschöne Gestalt erblickst, gleich wie ein Mensch gebildet, sinnbildet die Liebe des himmlischen Vaters. Die Liebe ist es: in der Kraft der unvergänglichen Gottheit, von auserlesener Schönheit, wunderbar in ihren geheimnistiefen Gaben! Sie erscheint in Gestalt eines Menschen, weil der Sohn Gottes, als Er sich mit dem Fleische bekleidete, den verlorenen Menschen im Dienst der Liebe erlöste. Daher ist das Angesicht von solcher Schönheit und Klarheit, daß du leichter in die Sonne als in dieses Antlitz schauen könntest. Denn der Liebe Übermaß strahlt und funkelt in solch erhabenem Blitzesglanz ihrer Gaben, daß es jegliche Einsicht menschlichen Verstehens, mit dem man doch sonst in der Seele die verschiedensten Dinge erkennen kann, so weit übertrifft, daß niemand es in seinem Sinnesvermögen zu fassen vermag. Hier aber wird dies in einem Sinnbild gezeigt, damit man dadurch im Glauben erkenne, was man mit äußeren Augen sichtbarlich nicht zu erschauen vermag.

In der Liebe erkennt der Mensch das Walten der Gottheit

4 Ein weiter Reif aus Gold umgibt ringsum das Haupt dieser Erscheinung, denn der katholische Glaube, über das ganze Erdenrund ausgegossen, erstand aus der ersten Morgenröte lichtestem Glanze.

Nur der Glaube erfaßt in tiefster Ehrfurcht das alles Begreifen übersteigende übermaß dieser Liebe: daß Gott durch die Menschwerdung Seines Sohnes den Menschen erlöste und ihn durch die Eingießung des Heiligen Geistes festigte. So wird der Eine Gott in Seiner Dreifaltigkeit erkannt, Er, der ohne zeitlichen Anfang in Ewigkeit Gott war in Seiner Gottheit. In diesem Kreisbild oberhalb dieses Hauptes erblickst du noch einen anderen Kopf wie den eines älteren Mannes. Das bedeutet: die überwältigende Güte der Gottheit, die ohne Ursprung und Ende ist, eilt den Gläubigen zu Hilfe. Kinn und Bart berühren den Scheitel des ersten Gesichtes: im gesamten Planen und Vorherwissen Gottes war das der Gipfel der höchsten Liebe, daß der Sohn Gottes in Seiner Menschheit die verlorenen Menschen heimführte in das himmlische Reich.

Von der Einheit der Liebe zu Gott und zum Nächsten

5 Zu beiden Seiten am Hals der Gestalt geht ein Flügel aus. Beide erheben sich über den Reif und vereinigen sich oben, weil die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, wenn sie durch die Gotteskraft der Liebe in der Einheit des Glaubens hervorgehen und in höchster Sehnsucht diesen Glauben umfassen, nicht voneinander getrennt werden können, während die Heilige Gottheit den unermeßlichen Glanz Ihrer Herrlichkeit den Menschen verhüllt, solange sie im Schatten des Todes weilen, da sie des himmlischen Gewandes, das sie mit Adam verloren, verlustig sind.

Von den Engeln als Lichtwesen und Spiegelgestalten

6 Auf dem obersten Teil der Krümmung dieses rechten Flügels erblickst du den Kopf eines Adlers mit feurigen Augen. In ihnen erscheint die Schar der Engel wie in einem Spiegel: Wenn jemand auf der Höhe triumphierender Unterwürfigkeit sich Gott unterstellt und den Satan überwindet, ragt er empor und...

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