MISERABEL ANGEPASST
Zwei amerikanische Verhaltensforscher gingen der Frage nach: Warum bellen Hunde?
Mal um Mal war der Pastor durch ungewohnte Lautäußerungen aus der Mitte der Trauernden daran gehindert worden, den Toten mit gewohnter Zügigkeit in die Grube zu befördern. Gerade dass er noch den Segen (»Friede seiner Seele«) sprechen konnte – da hub schon ein Wehgeklage an, dumpf und schauerlich, wie es Menschenohren zuvor noch nie vernommen.
Es entrang sich den Kehlen von 700 deutschen Schäferhunden, die an diesem Herbsttage des Jahres 1936 um das Grab des Rittmeisters Max von Stephanitz versammelt waren – Seit’ an Seit’ mit ihren Herren, die ihnen den Befehl zum Ehrengebell gegeben hatten. Denn mit dem Verstorbenen war der »Vater des Schäferhundes« dahingegangen, der Urheber dieser ebenso biss- wie bellfreudigen Rasse und ein Hundekenner, wie es kaum einen vor ihm gegeben hatte.
Jeden Aspekt der kaniden Existenz hatte der Zuchtpionier im Laufe seines über 70-jährigen Lebens zu erforschen, jede Wesensäußerung des Hundes zu erklären versucht. Auf seine Erkenntnisse gründend, haben nachgeborene Experten selbst die subtilsten Eigenheiten der Hundepsychologie, die tiefsten Beweggründe für hundliches Handeln in Bezug auf den Menschen ergrübelt.
So glauben sie inzwischen zu wissen, warum der Hund Gassi muss, auch wenn er gerade eben Gassi war (Machtkampf pur), wozu er mit dem Schwanz wedelt, obwohl er sich gar nicht freut (Verfächelung von Kennungsdüften aus den Analdrüsen), oder weshalb er dem Menschen das schmutzige Pfoterl so gern auf den Schenkel patscht (Verhaltensrest vom sogenannten Milchtritt, mit dem der Welpe das Gesäuge der Mutter massiert).
Sogar das Geheimnis hinter dem Hundekuss, bei dem des Tieres Zunge dem dieserart Begünstigten jählings im Gesichte spielt, glauben die Experten gelüftet zu haben. Es handle sich dabei, so behaupten sie, um eine Variante des von ihnen als Mundwinkel- oder Bettelstoß bezeichneten Signals, mit dem das Wolfsjunge seine Eltern zum Auswürgen der angedauten Nahrung (»Futterbrei«) nötigt.
Nur jener Tätigkeit, mit welcher der Hund das Wohlwollen des Menschen noch mehr strapaziert als mit seiner allfälligen Sudelei auf öffentlichen Wiesen und Steigen (durchschnittliche Ausscheidungsleistung pro Tag: Körpergewicht mal 3 geteilt durch 50), haben die Kynologen von Stephanitz bis heute keinerlei nennenswerte Beachtung geschenkt. Zu banal schien ihnen offenbar die Beschäftigung mit jener Frage, die sich Nachbarn von Hundehaltern jeden Tag aufs Neue stellt: Warum eigentlich bellt der Hund?
Jetzt endlich haben zwei Verhaltensforscher, die Amerikaner Raymond Coppinger und Mark Feinstein, eine – wenn auch unbefriedigende – Antwort präsentiert: Der Hund bellt ohne tieferen Grund, mal aus Angst, mal aus Langeweile, mal aus Ärger oder einfach nur so, weil ihm eben gerade danach ist. Ein nachvollziehbares Regelsystem sei hinter dem Hundegebell nicht zu erkennen, so das im US-Wissenschaftsmagazin Smithsonian veröffentlichte Fazit ihrer langjährigen Untersuchungen. »Der Hund«, konstatieren die beiden Kynologen, »bellt schlichtweg in jedem Verhaltenskontext.«
Im Zuge ihrer Forschungen stießen Coppinger und Feinstein auf einen Spaniel, der innerhalb von zehn Minuten 907 Mal zu bellen vermochte – macht 1,5 Beller pro Sekunde. Einen anderen Hund, es handelte sich um einen Schäfer, hörten sie sieben Stunden an einem Stück tölen – erst dann machte das Tier die erste, wenn auch kurze Pause. »Solche Vokalleistungen muten olympisch an«, so die Experten, »sind aber in Wirklichkeit weder ungewöhnlich noch rekordverdächtig.«
Beobachtungen wie diese führten die beiden Forscher zu einer zweiten, tiefergehenden Frage: Warum kann der Hund überhaupt so ausdauernd bellen? »Wenn man darauf eine Antwort sucht«, so mussten Coppinger und Feinstein feststellen, »dann steht man plötzlich vor einem Knäuel von Problemen.«
Denn der Vorfahr des Hundes, der Wolf, mit dem der Canis familiaris genetisch so gut wie identisch ist, vermag nur eine Art Wufflaut von sich zu geben, und auch das tut er nur höchst selten – lediglich 2,5 Prozent von 3256 bei erwachsenen Wölfen gezählten Lautäußerungen waren Beller, ansonsten heult der Canis lupus.
Im Verlauf der Evolution des Hundes müsse daher, so dachten die Kynologen anfangs, »etwas ganz Besonderes geschehen sein«. Jedoch, sosehr sie auch herumklügelten – es gelang ihnen nicht, eine plausible Erklärung dafür zu finden, weshalb der Hund durch seine Bellerei einen Vorteil beim evolutionären Ausleseverfahren gehabt haben könnte.
Sie verwarfen die unter Zoologen beliebte These, im Verlauf der Domestikation des Hundes (sie begann vor etwa 15 000 Jahren) habe der Mensch jene Tiere bevorzugt um sich geduldet, die willige Beller und damit als Wachhund einsetzbar waren: Weshalb, so argumentierten die beiden, sollten sich die zottigen Steinzeitler einen Wächter ins Haus holen, der wahllos und ohne Regel, beim Nahen von Freund wie Feind, bei Sturmgetöse oder auch nur, weil ihn die Stille stört, Alarm schlägt und dafür vielleicht das Baby leis’ und heimlich zum Schweigen bringt? »Eine Selektion zum bellenden Hund hin hat ebenso wenig stattgefunden«, konstatieren die beiden Forscher, »wie es eine Auslese zum schuhzerkauenden Hund gegeben hat.«
Auch die gängige Annahme, das Bellen diene der Verständigung zwischen einem Hund und dem anderen, halten die Kynologen für wenig stichhaltig. Denn schließlich müsse ein Signal eine eindeutige Information transportieren, um zwischen Sender und Empfänger eine Kommunikation entstehen zu lassen – wie etwa das tiefe Knurren, das Aggression, zumindest aber nichts Gutes verheißt, oder das Falsett des Winselns, etwa beim Welpen, das von allen Säugern inklusive des Menschen als Schmerz- und Hilferuf verstanden wird.
Als die Forscher die tonale Zusammensetzung des Kläffens auf elektronischem Wege untersuchten, stellten sie zu ihrer Überraschung fest, dass jeder Beller zwei grundsätzlich unterschiedliche Frequenzen aufwies: zum einen, zu Beginn und am Ende des Bellens, tiefere Töne, die sich auf dem Spektrogramm sehr ähnlich denen darstellten, die der Hund beim Knurren ausstößt; zum anderen, in der Mitte des Belllautes, höhere und für den Menschen nicht vernehmbare Obertöne, die auf dem Spektrogramm fast identisch waren mit dem Winsellaut eines Welpen.
Die Folgerung der Forscher: Wenn der Hund »Wauwau« macht, so erzählt er seinen Artgenossen nichts als Blödsinn – nämlich so viel wie »GehwegKommherGehweg«. Nicht domestizierte Tiere hingegen geben solche in sich widersprüchlichen Signale nur von sich, wenn mehrere Signalreize im Hirn über die Nervenstränge schlagen – etwa in Situationen, in denen das Instinktverhalten nicht greift. So hörten Coppinger und Feinstein Wölfe meist dann bellen, wenn ein Kampf zwischen zwei dominierenden Rüden schon lange andauerte und sich dennoch keine Entscheidung abzeichnete.
Art und Tonalität des Belllautes ließen vermuten, so der Rückschluss der Experten, dass der Hund in einem Zustand dauernder Unentschlossenheit lebe – vorurteilslos angewandte Empirie im Stadtpark vermag auch Hundebesitzer nicht darüber hinwegsehen zu lassen, dass sich ihr Tölpel ziemlich dämlich verhält.
Mal umgaukelt er, mit seinem Wahnsinnsgebell die Lüfte erschütternd, seinen Herrn in großen Sprüngen; dann steht er plötzlich still und starr wie Lots Weib nach der Salzifikation; dann rast er los, auf ein imaginäres Ziel zu, überlegt es sich anders, schlägt diverse Haken, mal nach links, mal nach rechts; macht wieder halt, um eine beleidigende Herausforderung an einem Baum zu hinterlassen oder um ein Stöckchen aufzuklauben, das er gleichzeitig geworfen haben und behalten will – noch nie ist es einem Verhaltensforscher gelungen, das Freizeitverhalten des Canis familiaris einigermaßen schlüssig zu deuten. »Welcher Art könnten die evolutionären Veränderungen sein«, fragten sich die Forscher Coppinger und Feinstein, »die dazu geführt haben, dass ein Tier so sichtbar miserabel an seine Umwelt angepasst ist?«
Eine Antwort gibt ein vor 30 Jahren begonnener und erst kürzlich abgeschlossener Versuch mit Silberfüchsen, dessen Ergebnis aufsehenerregend ist: In der Absicht, den Tieren ihre (für eine erfolgreiche Massenzucht abträgliche) Scheu und Bissfreudigkeit wegzumendeln, hatten Experten des Instituts für Zellkunde und Genetik in Nowosibirsk immer wieder Silberfüchse miteinander gekreuzt, die von ruhigerer Wesensart waren als ihre Wurfgenossen.
Die Füchse, die heute, nunmehr in der 20. Zuchtgeneration, auf dem Institutsgelände herumlaufen, verhalten sich wie brave Familienhunde: Sie laufen auf Menschen zu, springen schwanzwedelnd an...