KAPITEL 1 • MINIMALISMUS
Was man liebt
Das sollte man behalten. Alles andere nicht. Warum so viele Menschen versuchen, mit weniger auszukommen. Von Maren Keller
LIEBE DREIZIMMERWOHNUNG, weißt du noch, wie ich dich zum ersten Mal betreten habe? Wie leer du warst und wie groß? Und wie ich Kiste für Kiste für Kiste zu dir gebracht habe. Drei Jahre haben gereicht, um dich in ein Museum meiner Erlebnisse zu verwandeln, mit einer Sammlung, deren Größe manch staatlichem Museum Respekt abnötigen würde. Ein neuer Kerzenständer kam zum Flohmarktwandteller zum Schlussverkauf-Cordrock zum Teller voll Muscheln. Bis du plötzlich weder groß noch leer wirktest. Du bist Privatarchiv vergangener Moden geworden. Eine Sammelstelle für Seltsamkeiten. Dabei würde es mir eigentlich völlig reichen, wenn du eines wärest: mein Zuhause.
Wenn dies nur eine Geschichte über dich und mich wäre und darüber, warum ich ein paar der Dinge wieder loswerden möchte, die du beherbergst, gäbe es keinen Grund, darüber einen Text zu schreiben. Aber diese Geschichte beginnt nicht mit den berühmten drei Kisten (eine für alles, das man behalten möchte, eine für alles, was verschenkt / gespendet / verkauft werden soll, und eine Kiste für alles, das auf den Müll gehört). Diese Geschichte beginnt bei Diogenes oder bei Buddha oder vielleicht noch früher.
Erst seit zwei Generationen leben wir in ständigem Überfluss. Oder in ständigem Überdruss.
Es ist genauso die Geschichte eines Feuilletonisten, der eine Debatte auslöste, als er in einem Text ankündigte, jede Woche zehn Bücher aus seiner Sammlung verschenken zu wollen. Es ist genauso die Geschichte der Städter, die weniger im Supermarkt einkaufen wollen und eigenes Gemüse in öffentlichen Gärten anbauen. Es ist die Geschichte darüber, warum plötzlich jeder jemanden kennt (oder mindestens in einer Talkshow gesehen hat), dessen gesamtes Hab und Gut in einen Rucksack passt. Es ist die Geschichte all dieser Leben und der Idee, die sie verbindet. Deshalb ist es eine Geschichte über einen Lebensstil.
Man kann ihn einfaches Leben nennen oder „simple living“ oder Minimalismus oder „voluntary simplicity“. Für diesen Lebensstil gibt es mehr Wörter, als manche seiner Anhänger Sachen haben.
Wie sehr dieser Lebensstil einen Zeitgeist trifft, kann man schon daran sehen, dass in den Ratgeberabteilungen der Buchhandlungen inzwischen mehr Bücher über das Entrümpeln stehen als über Trennkost oder Microsoft. Wenn man wissen will, was die Welt bewegt, muss man Nachrichten lesen. Wenn man wissen will, was die Menschen in ihrem Inneren bewegt, muss man in die Ratgeberabteilung der Buchhandlungen sehen. Und manchmal hat auch beides miteinander zu tun, die Nachrichten mit den Ratgebern. In den Nachrichten geht es immer öfter um Krise und Wachstum und darum, dass alles in unserer Gesellschaft auf ein unbestimmtes Mehr hin ausgerichtet ist. Aus den Nachrichten kann man lernen, dass ewiges Wachstum nicht funktioniert. Aus den Ratgebern kann man lernen, was die Alternative sein könnte. Ein Leben, das auf ein Weniger ausgerichtet ist.
DIE HISTORIKER haben verschiedene Antworten auf die Frage, wann genau unsere Gesellschaft zu der Konsumgesellschaft geworden ist, von der alle reden. In Westeuropa hat sich am meisten verändert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In den USA kam es schon zwischen den beiden Weltkriegen zu dem, was manchmal Konsumrevolution genannt wird. Eine Revolution, deren Maßeinheit Einkaufswagen sein sollten. Oder Warenkörbe. Eine Revolution, die keine Kampflieder hervorgebracht hat. Sondern nur Jingles. 7600 Generationen lang war der Mensch damit beschäftigt, gegen Mangel zu kämpfen. Erst seit zwei Generationen leben wir in ständigem Überfluss. Oder in ständigem Überdruss.
Der Durchschnittseuropäer soll heute 10 000 Gegenstände besitzen. Toaster, Gitarre, Gästematratze, Lippenstifte, Zweitfahrrad, Besteckkasten, Sommertischdecke, Winterstiefel.
Wir können gerade zugucken, wie die Konsumgeschichte um ein Kapitel länger wird. Was sich da gerade überall andeutet, ist die Konterrevolution zur Konsumrevolution.
VIELLEICHT ERINNERST DU DICH noch an meine Vormieterin, liebe Dreizimmerwohnung, die so gern Baumwollblusen trug und Sonnenblumen auf deinem Balkon gepflanzt hat und bei der bestimmt nur Lebensmittel aus dem Biosupermarkt im Kühlschrank lagen. Es gibt Soziologen und Trendforscher, die hätten sie einen „Loha“ genannt, einen jener Menschen, die vor ein paar Jahren anfingen, nachhaltig und gesund leben zu wollen. Die gleichen Soziologen und Trendforscher sprechen jetzt viel über „Lovos“, was für „lifestyle of voluntary simplicity“ steht. Den Lovos geht es nicht mehr nur darum, kritisch zu konsumieren wie die Lohas. Sondern insgesamt weniger zu verbrauchen, um sich den Zwängen zu entziehen, die der Konsum mit sich bringt.
Eine sehr alte, sehr neue Erkenntnis ist das: dass Besitz nicht das Gleiche wie Bereicherung bedeutet. Neu ist daran nicht, dass es Menschen gibt, die sich dem Konsum entziehen, die freiwillig ein genügsameres und einfacheres Leben wählen. Die gab es schon immer. Neu ist daran aber, dass es nicht mehr nur die Vordenker und Avantgardisten sind. Nicht nur die, die man in einer Mischung aus Spott und Bewunderung Weltverbesserer nennt.
In Berlin leben zwei Menschen, die sich ein Experiment ausgedacht haben. Ein ganzes Jahr lang wollten Christiane Schwausch und Ben Toussaint konsumfrei leben. Keinen neuen Toaster kaufen, keinen Lippenstift, keine Jeans. „Ein Jahr ohne Zeug“ haben sie ihr Experiment genannt, und weil die deutsche Umweltstiftung in einem Newsletter von ihrem Vorhaben berichtet hat, haben gleich eine ganze Menge Leute mitgemacht, die seitdem auf der Facebook-Seite von Schwauschs und Toussaints Agentur über konsumkritische Themen diskutieren.
Eine sehr alte, sehr neue Erkenntnis ist: dass Besitz nicht as Gleiche wie Bereicherung bedeutet.
Zwei Joker haben sich Schwausch und Toussaint zugestanden. Einfach auch, um sich selbst dazu zu bringen, gründlich zu überlegen, was sie wirklich gern neu hätten und was ihnen wirklich wichtig ist. Mehr haben sie dann auch nicht gebraucht. In einem Interview haben sie danach gesagt, dass das Schwerste die Gruppengeschenke im Freundeskreis waren. Wenn alle eine Hightech-Hängematte schenken wollen, ist es schwer, sie vom Wert eines gemeinsamen Fahrradausflugs zu überzeugen. Wie oft konsumieren wir etwas, nicht weil wir es wirklich wollen oder brauchen, sondern aus sozialem Druck heraus? Oder weil wir verlernt haben, unsere Wertschätzung anders auszudrücken?
In New York lebt ein Softwaredesigner, der versucht, mit so wenigen Dingen wie möglich zu leben. Kelly Sutton hat den „Cult of Less“ gegründet. Den Kult der wenigen Dinge. Der Name sollte ein Witz sein, aber mit der Sache ist es ihm ernst. Sutton denkt sechs Monate nach, bevor er sich dafür entscheidet, ein neues Sofa zu kaufen.
Der amerikanische Konsumkritiker David Michaelo Bruno hat in einem Blog dokumentiert, wie er nach und nach seinen Besitz auf unter hundert Dinge reduziert hat (und hinterher das obligatorische Buch darüber geschrieben).
Es gibt Menschen, die ohne Geld leben, und solche, die genau aufzählen können, was sie überhaupt noch besitzen. Und es gibt quasi kein Interview mit einem von ihnen, in dem nicht der Satz fällt, wie reich sie sich fühlen. Das Vokabular kommt aus dem Kapitalismus. Die Gedanken aus dem Buddhismus.
Der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Friedrich Schumacher hat auf den Grundlagen des Buddhismus das Wirtschaftssystem „Buddhist Economics“ entworfen, das auf Genügsamkeit statt auf ewigem Wachstum basiert, und darüber bereits vor über vierzig Jahren den Bestseller „Small is Beautiful“ geschrieben.
Die Religionswissenschaftlerin Regina Tödter hat auf den Grundlagen des Buddhismus einen Bestseller verfasst mit dem Titel „Buddha räumt auf“ und einem Männchen auf dem Cover, das aussieht wie eine Mischung aus Buddha und Meister Propper. Tödter wird in den Medien manchmal als Aufräumexpertin bezeichnet. Seit der Minimalismus Trend ist, gibt es Wegwerfberater und Berufsbezeichnungen, die klingen, als wären sie von der Nasa erfunden, dabei kennen sich Space-Clearing-Experten besser mit Stauraum als mit Weltraum aus.
Die berühmteste von ihnen ist die Japanerin Marie Kondo. So wie die Biografie eines Profifußballers damit beginnt, dass er auf dem Pausenhof gekickt hat, erzählt Marie Kondo aus ihrer Schulzeit, dass sie in den Pausen die Regale in ihrem Klassenzimmer aufgeräumt habe.
Mehr als zwei Millionen Bücher hat Marie Kondo inzwischen verkauft. Das bekannteste ist „Magic Cleaning“. Wenn es um Wohnfragen geht, ist Marie Kondo heute eine wichtigere Ansprechpartnerin, als es Tine Wittler jemals war.
Kondos Methode ist als die KonMarie-Methode so bekannt geworden (vor allem in Japan und in den USA), dass Marie Kondo vom Nachrichtenmagazin „Time“ zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt gezählt wird. Auf der Liste war nur noch ein anderer Japaner. Der als kommender Literaturnobelpreisträger gehandelte Haruki Murakami.
Kondo fragt nicht: Was soll ich wegwerfen? Sie fragt: Was will ich behalten? Und ihre Antwort darauf ist so einfach wie schwer: nur das, was Freude bringt. Nur das, was man liebt. Nichts, was irgendwann einmal nützlich sein könnte oder teuer war oder ein Geschenk gewesen ist oder in ein paar Jahren wieder passen...