Selig sind die geistlich Armen
Ein Stück Weltliteratur ist sie geworden – die Bergpredigt Jesu. Trotz der Zumutungen, die sie enthält. Vielleicht auch gerade deswegen. Weil man sich dann ihren Herausforderungen leichter entziehen kann. Man macht ein Denkmal daraus und stellt es auf einen Sockel.
Doch die Aussprüche Jesu, die in der sogenannten „Bergpredigt“ zusammengestellt sind, bleiben kantig: Dem, der einen schlägt, die andere Wange auch noch hinhalten … Die Feinde lieben … Sein Leben nicht dem Anhäufen von Kapital und Besitz widmen, sondern der Gerechtigkeit Gottes … und so weiter. Das sind die Zumutungen Jesu. Die berühmte Spruchsammlung beginnt aber nicht mit Forderungen. Sie beginnt mit einer Reihe von Grüßen, die Perspektiven fürs Leben eröffnen.
Nicht eine Zumutung, sondern ein Zuspruch steht am Anfang. Der erste Gruß gilt vor allem den Bescheidenen, denen, die sich nichts einbilden auf sich selbst: in der traditionellen Sprache der Bibel – den „geistlich Armen“. „Im Namen Gottes, ich grüße euch, ihr, die ihr arm seid im Geist“, sagt Jesus, „ich grüße und beglückwünsche euch.“ Wen meint er damit? Mit Sicherheit nicht Menschen mit niedrigem IQ, wie man es spöttisch deutete. Gewiss auch nicht die, die ihr Hab und Gut verkaufen und in materieller Armut leben. Die „geistlich Armen“ – das sind vielmehr die im religiösen Sinn bescheidenen Menschen. Diejenigen, die nicht Amt und Würde noch Rang und Namen besitzen. Diejenigen, die keine besonderen theologischen Kenntnisse haben. Diejenigen, die keine großen Bekehrungsgeschichten, keine religiösen Erlebnisse, Erleuchtungen oder sonst etwas vorzuweisen haben. Es sind Menschen mit einem einfachen und bescheidenen Glauben. Menschen, die Gott vertrauen, so wie Kinder vertrauen. Mehr als einmal sind es die Kinder, an denen Jesus Maß nimmt, um ein Beispiel dafür zu finden, was es heißt, Gott zu vertrauen. „Ich grüße euch, ihr, die ihr Gott vertraut wie nur Kinder vertrauen können“ – sagt Jesus. „Ihr seid die Propheten, die Träumer, Visionäre und Wegbereiter für Gottes neue Welt.“
Selig sind die Friedensstifter
Auf dem Platz vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York steht eine Skulptur. Sie zeigt einen muskulösen Mann, der mit einem Hammer ein Schwert bearbeitet. Wie ein Schmied schlägt er den Stahl der Waffe und gibt ihm eine neue gerundete Form – die Form einer Pflugschar.
Die Sowjetunion hat den Vereinten Nationen mitten im Kalten Krieg diese Skulptur zum Geschenk gemacht. Vielleicht, um die Weltorganisation an sich zu binden. Vielleicht, um ihr ein sozialistisches Denkmal zu setzen. Denn der Schmiedehammer und das zur Pflugschar gebogene Schwert erinnern an Hammer und Sichel, die Embleme des Sowjetstaates. Doch manchmal geraten solche symbolischen Bilder ungewollt zum Gegenteil dessen, was sie beabsichtigen. Sie werden zu frei floatierenden Botschaften, die gegen jede ideologische Vereinnahmung – sei sie östlicher, sei sie westlicher Provenienz – aufbegehren.
Wichtiger als der zeitgeschichtliche Bezug ist nämlich der biblische Hintergrund dieses Denkmals: Schwerter sollen in Pflugscharen verwandelt werden und Spieße in Winzermesser. Aus Kampfwaffen werden landwirtschaftliche Geräte. Menschen sollen nicht mehr das Kriegshandwerk lernen, sondern das, was dem Frieden dient und das Leben fördert. So haben es zwei Propheten des Alten Testaments in ihrer Vision einer besseren Zukunft für diese Erde gesehen. Vor rund dreißig Jahren hat ein Schmied gezeigt, dass das prophetische Bild von den Schwertern, die in Pflugscharen verwandelt werden, mehr ist als eine große Vision – und auch mehr als ein wuchtiges Denkmal. In einer öffentlichen Aktion hat er ein Schwert zu einer Pflugschar umgeschmiedet. In Wittenberg. In der damaligen DDR. Ausgerechnet da! Und das hatte Symbolwirkung. Mit seiner spektakulären Zeichenhandlung hat er der Friedensbewegung in Ost und West den Rücken gestärkt: „Ihr seid auf der richtigen Spur, auf der Spur, die Gott für diese Welt vorgezeichnet hat“ – konnte das heißen. „Glücklich dürfen sich die Friedensbewegten nennen“, sagt auch Jesus, „denn sie sind die wahren Kinder Gottes.“
Selig sind die Sanftmütigen
„Sanftmut den Männern! Großmut den Frauen! Liebe uns allen, weil wir sie brauchen.“ So lautet die erste Strophe eines südafrikanischen Hymnus.
Im Jahr 1913 wurde das Unrecht, das weiße Siedler einheimischen Schwarzen in Südafrika bereits lange Zeit angetan hatten, für rechtsgültig erklärt. Angestammte Familien verloren ihren Landbesitz und damit – als Bauern – ihre Existenzgrundlage. Zwangsumsiedlungen der Schwarzen, das Zurückdrängen ihrer Lebensräume in viel zu kleine Ressorts, ihre Trennung vom öffentlichen und gesellschaftlichen Leben waren die Folge. Die Unrechtsgeschichte der Apartheid nahm ihren Lauf. Im eigenen Land waren die Schwarzen zu Randsiedlern geworden. Bald hundert Jahre später haben sich die politischen Verhältnisse geändert. Soziales Unrecht aber hat lange Halbwertszeiten. Auch zwanzig Jahre nach dem Ende des Apartheidregimes warten Familien immer noch auf ihre Rücksiedlung. Und dreißig Jahre später warten viele darauf, wieder zu rechtmäßigen Landbesitzern werden zu können. Doch das Eigentum an Grund und Boden ist vergeben und die heutigen Besitzer lassen sich nicht enteignen. Das einstmalige Unrecht hat sich in neue Rechtszustände verwandelt. Besitzanspruch steht gegen Besitzanspruch.
Fast zynisch musste es da erscheinen, wenn die Weltbank den schwarzen Anwärtern „günstige Kredite“ anbietet, damit sie ihr Land zurückkaufen können. „Selig sind die Sanftmütigen,“ sagt Jesus am Anfang der sogenannten „Bergpredigt“. „Glücklich dürfen sich die Sanftmütigen schätzen, denn sie werden das Land besitzen.“ Höhlt der stete Tropfen am Ende auch den Fels des Unrechts aus? Der politische Kampf für ein Südafrika ohne Rassenschranken hat viel Blut und Leben gekostet. Und noch sind nicht alle Wunden verheilt. Nur Respekt und Beharrlichkeit befreit das Land und seine Bewohner – hier und anderswo, wo Unrecht in den Stein des Gesetzes gemeißelt wurde, ohne deshalb zum Recht zu werden: „Ehrfurcht den Starken! Mut den Gejagten! Friede uns allen, weil wir ihn brauchen.“
Selig sind die Leidtragenden
Am Beginn der berühmten „Bergpredigt“ Jesu stehen einige kurze Glückwünsche. „Seligpreisungen“ werden sie traditionell genannt. Ihrem Sinn nach sind es Glückwünsche, Gratulationen.
„Ich beglückwünsche euch“, sagt Jesus – und dann folgt eine knappe Aufzählung: Jesus gratuliert denen, die ihr Leben besonderen Tugenden gewidmet haben und nach ihrem Richtmaß leben. Er gratuliert den Bescheidenen, den Gewaltlosen, den Barmherzigen, den Friedensstiftern. Ihnen allen gehört die Zukunft. Doch er gratuliert auch anderen – solchen, die nichts zu bringen haben, deren Hände leer sind und deren Augen sich danach sehnen, etwas zu empfangen: den Leidtragenden; denen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten; den Verfolgten; den Geschmähten und Unterdrückten. Warum ihnen? Sollen sie sich freuen? Wie kann ihnen die Zukunft gehören? Jesus wird es kaum zynisch gemeint haben, aber es erscheint nun einmal wie ein glatter Widerspruch, der nach Auflösung, nach Erklärung schreit.
Jesus sieht das Leben der Menschen im Licht Gottes an. Für ihn hat sich Gott nicht aus dieser Welt zurückgezogen, um sich nun auf einer Insel der Seligen verborgen zu halten. Jesus findet Gott da, wo Menschen leben – im Glück und im Unglück, im Erfolg wie im Misserfolg, im Lachen und im Trauern. Gott und menschliches Leid streben nicht auseinander wie Wasser und Öl. Das eine schließt das andere nicht aus – im Gegenteil: Gott schließt menschliches Leben in allen Höhen und Tiefen ein; er schließt darum auch menschliches Leid ein.
Wenn Jesus die Leidtragenden beglückwünscht, dann nicht wegen ihres Leids, sondern um Gottes Willen. Er hat eine Vision vor Augen. Die Vision von Gott, der die Menschen nicht alleine lässt, sondern ihnen entgegen kommt. Er sucht die Gemeinschaft mit ihnen. Er kommt, um zu trösten und Leid zu überwinden. Deshalb dürfen sie sich glücklich schätzen.
Die Seligpreisungen Jesu sind die Grußworte des Gottes, der den Menschen begegnet. „Ich grüße euch“, sagt Gott, „euch, die ihr Leid tragt und Unrecht leidet. Ich grüße euch. Nun bin ich für euch da.“
Selig sind die Barmherzigen
Im Oktober 1915 begleitete eine junge schwedische Diplomatentochter einen Transport des Roten Kreuzes, um gesammelte Hilfsgüter in sibirische Gefangenenlager zu bringen – Elsa Brändström. Ein Jahr lang zog sie durch ein schier endloses Land. Sie war fasziniert von der Weite der Landschaft – und zugleich erschrocken über die grausamen Lebensbedingungen in den Lagern.
Der ersten Reise folgte bald eine zweite, dann eine dritte. Eine Lebensaufgabe tat sich für die junge Frau auf. In den Lagern, die sie besuchte, war sie sich nicht zu vornehm für das Elend der leidgeprüften Gefangenen. Und sie besaß ein feinfühliges Gespür in den Verhandlungen mit Lagerkommandanten, um Verbesserungen für die Gefangenen durchzusetzen. Nicht alle Gefangenen kehrten 1918 zurück, viele mussten bleiben. Am Sterbelager versprach sie manchen, sich um die Hinterbliebenen in der Heimat zu kümmern. In den zwanziger Jahren unternahm sie zahlreiche Reisen durch Europa und die Vereinigten Staaten und trieb Spendengelder ein. Bis sie ihr Versprechen einlösen und ein Erziehungsheim für...