Hast Du was zu verzollen, Heinz Kerschbaumer?
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Geschichtenerzählen hilft gegen die Traurigkeit.
Wenn es einen Himmel gibt, und es wird einen Himmel geben, wo auch immer sich der befinden mag, dann muss vor dem Eingang in diesen Himmel ein Fluss fließen, nicht breiter und nicht heftiger als die Saalach zum Beispiel. Und ein hölzerner Steg müsste von hier nach drüben, von der Erde in dieses Paradies führen.
Aus dem Zoll- und Grenzhäuschen an diesem Fluss könnte jetzt einer treten und mit sanfter Stimme fragen: Hast Du was zu verzollen, Heinz Kerschbaumer?
Und er?
Nichts als diesen Körper. Der hat mich tausende Kilometer begleitet, die Saalach rauf und runter, an brennheißen und an klirrend kalten Tagen, von Kleßheim bis Wolfschwang, Marzoll, Wartberg. Aber in den letzten Jahren hat er mich ziemlich im Stich gelassen.
Der Körper ist da drüben nicht wichtig, würde der freundliche Zollbeamte sagen. Den lässt Du zurück, der hat seine Schuldigkeit getan. Was also bringst Du sonst mit?
Nichts. Ich hab alles zurückgelassen. Trophäen, und ich hab etliche gehabt, immerhin bin ich ein Jäger gewesen und kein schlechter! Medaillen, Pokale vom Asphalt- und Eisstockschießen in Siezenheim, oder vom Kegeln, einen Sack voller Jazz-Kassetten, Louis Armstrong und so. Karten vom Kartenspielen. Readers-Digest-Hefte, alle persönlich gelesen, Dutzende. Soll ich sie holen, soll ich das alles holen? Dann brauch ich aber noch mindestens ein Jahr Leben!
Musst Du nicht, würde der Zollbeamte – und er könnte einen weißen Bart tragen wie der Petrus – jetzt sagen. Das ist nicht von Bedeutung da drüben, jenseits der Grenze.
Also, was bringst Du mit?
Mein Leben. Wunderschöne Jahre, ein paar sehr schwere Jahre. Glück und Enttäuschung, Lachen und Weinen. Seligkeit und Schmerzen. Zwei große Lieben in meinem Herzen. Das kann nicht jeder behaupten. Das kann einem auch keiner wegnehmen, nicht einmal der Zoll! Tausend Erinnerungen!
Also, sagt der Zöllner an der Grenze zu dieser Gegend, die ein bisschen anders aussieht als das bayrische Grenzgebiet, die Pidinger-Au oder die Haus-moninger-Gegend. Am besten, sagt er, Du fängst von vorne an. Geboren?
Geboren wird der Heinz in einem kleinen Paradies. Spital am Phyrn. Traunviertel, das Dorf im Gebirge. Unfassbar schön, vor allem für ein Kind. Die Berge rundum, viel Wald, eine Idylle. Und die Eltern, einfache Leute, der Vater Holzarbeiter, in der Forstwirtschaft tätig, die Mutter Schneiderin. Kein großer Luxus. Aber man kommt gut über die Runden. Ein „kleines Sachl“ gehört dazu, eine winzige Landwirtschaft für den Eigenbedarf, zum Anbauen und Ernten, und eine eigene Kuh. Das ist viel in den Zeiten der Not.
Das Licht der Welt erblickt der Heinz am 5. März 1935, sieben Jahre später, da ist schon Kriegszeit, wird der Nachzügler, der Sepp geboren. Der Vater wird in den Krieg hineingezogen, die Mutter ist eine starke Frau und hält alles beisammen. Es ist klar, dass man sich in Zeiten der Not und der Gefahr besonders um die ganz Kleinen sorgen muss, und der Heinz ist ja schon ein richtiger Schulbub. Das Leben, hat er manchmal das Gefühl, dreht sich mehr um den Seppi als um ihn, weil der Ältere ja immer der Klügere sein soll, und er muss auch kräftig zupacken. Die Kuh melken zum Beispiel, bevor er sich in der Früh auf den Schulweg machen kann.
Aber das geht alles irgendwann vorbei, und der Heinz kann sich um seine eigene Zukunft kümmern. Der Vater ist in der Forstwirtschaft tätig, also wird auch der Sohn in der Forstschule in Gmunden angemeldet. Jetzt ist es so, dass er damals, nach dem Krieg, ein schmächtiges Bürscherl ist und um ein Haar gar nicht aufgenommen wird.
Förster? War das wirklich Dein Lebenstraum, Kerschbaumer?, fragt der Zollbeamte vor dem Grenz häuschen beim Steg über diesen sanften Fluss hinüber ins grenzenlose Paradies.
Fast, antwortet der Heinz. Eigentlich wollte ich… …wolltest Du was?
Auswandern. Weit weg, übers Meer. Nach Kanada. Um dort was zu tun?
Ranger wollte ich werden. Ein richtiger kanadischer Ranger. Landschaftshüter, in einem Nationalpark vielleicht, riesige Wälder, faszinierende Tiere. Das wär es gewesen. Aber da hätte ich die Einwilligung der Mutter gebraucht, das war damals so. Und die hat sie mir nicht gegeben. Ranger ist ein Traum geblieben.
Träume sind zollfrei!
Also bin ich in die Forstschule gegangen.
Und dann bist du Förster geworden?
Nur ganz kurz.
Der Heinz hat einiges ausprobiert und bald hat er seinen richtigen Beruf gefunden, den, dem er bis zur Pensionierung treu geblieben ist. Zollbeamter. Kein leichter Job. Weiß Gott nicht!
Wem sagst Du das, sagt der Zöllner zum Paradies. Was da geschmuggelt wird, was da geschummelt wird! Illegale Grenzübertrittsversuche. Gut, dass es uns Zöllner gibt!
Zollbeamter – das heißt nicht zuletzt: eine Grenze bewachen, den Balken auf- und zusperren, aufpassen wie ein Haftlmacher, und immer wieder auch Lebensgefahr. Patrouillen gehen, Nachtdienste. Da muss man starke Nerven haben. Mit einem wachen, hellhörigen Hund als Partner geht das um Vieles leichter. Heinz Kerschbaumer bildet selber Hunde aus und richtet sie ab. Und wenn so einer, einer den man von klein auf kennt, an der Seite geht, in stockfinstrer Nacht, die Grenze auf und ab – das gibt Sicherheit. Da wird der harte Dienst nicht ganz so lang. Einer seiner Schäferhunde geht sogar mit ihm, mit dem Zollbeamten Heinz Kerschbaumer, Abteilungsleiter in Siezenheim, in Pension: der „King“.
Worüber, Kerschbaumer, fragt der weißbärtige Himmelsgrenzer, bist Du besonders froh in Deinem Berufs leben?
Dass ich nie, sagt der Heinz, meine Pistole verwenden musste. Dass ich nie auf einen Menschen schießen musste.
Und die Liebe, Kerschbaumer?
Zwei große Lieben in einem Leben. Und das Schöne, dass die zweite Liebe nicht die Erinnerung an die erste auslöschen muss. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
In Siezenheim, im Haus in der Grenzstraße, hängen unter dem Kruzifix die Sterbebilder von der Liesl, der ersten Frau, und ihrer Mutter, und das Sterbebild vom Sepp, dem Bruder, neben Bildern aus der Familie der Herlinde, der zweiten großen Liebe.
Mit der Liesl war der Heinz drei Jahrzehnte verheiratet; haben schöne Zeiten miteinander erlebt! Als, ein paar Jahre nach ihrem Tod, der Heinz und die Herlinde zueinander finden, sagt die Herlinde, und auch das ist ebenso schön wie selten: „Die Liesl hat mich zu dir geschickt!“
Die Herlinde sagt auch das Wichtigste, was man über einen Menschen sagen kann: „Auf den Heinz hab ich mich immer hundertprozentig verlassen können!“ Und: „Er war der Ruhepol in meinem Leben!“
Sie kennen sich ja schon vom Sehen, vom einen oder anderen Tanz sogar, Siezenheim ist nicht grenzenlos groß wie Kanada, und wer nie beim „Kamml“ oder beim „Allerberger“ ist, der hat sowieso keine Ahnung vom Leben. Der Heinz ist Witwer und die Herlinde hat eine Enttäuschung hinter sich, einen Tiefschlag, ist eigentlich am Boden zerstört und verzweifelt. Vor 17 Jahren war das.
Da nimmt sich der Heinz ihrer an, und sie können gut miteinander reden. Das wird immer so sein. Bis zwei, drei in der Früh Ratschen, über Gott und die Welt. Das kann man mit dem Heinz. Und mit der Herlinde auch. Dabei ist der Heinz, Sternzeichen Fisch, nicht unbedingt der große Redner, und Schwätzer sowieso nicht. Aber mit der Herlinde klappt das wunderbar. Der Gesprächsstoff geht den beiden auch selten aus.
In diesem Moment der Niedergeschlagenheit ist er, der Heinz, ihr Retter, und sie, die Herlinde, weil es ihm gesundheitlich nicht gut geht, wird zu seinem Retter. Zwei Menschen, wie füreinander geschaffen. Und mit den Geschwistern der Liesl, der ersten großen Liebe, gibt es auch bis heute herzlichen Kontakt. Heiraten wollen sie ja beide nicht mehr, und als sie nach einem „Probejahr“ – er ist 57, sie zehn Jahre jünger – doch in Sachen Ehe noch einmal nachzudenken beginnen, will die Herlinde erst ihre Tochter, die Astrid, fragen. Die gibt die Entscheidung liebevoll an die Mutter zurück. Der Heinz und die Herlinde heiraten, aber nicht mehr am Standesamt im Schloss Mirabell, Erinnerungen an früher will die Herlinde löschen, sondern im Schloss in Seekirchen. Am 26. Juni 1993 geben sie einander das Ja-Wort.
Der Zollbeamte und – das sagt er selber einmal – das Modepüppchen. Die Herlinde ist viele Jahre lang „die Frau Herlinde vom Resmann“. Und der Heinz ist auch Jäger, und ein Jäger liebt seine Jägerhemden und am meisten irgendein Lieblingsjägerhemd, das er eigentlich jeden Tag anziehen möchte. Die Herlinde sorgt dafür, dass er auch, ab und zu wenigstens, ein anderes Hemd trägt. Sie bringt es ihm mit, er ist keiner, der gerne durch die Geschäfte schlendert.
Die Herlinde liebt die echte Volksmusik, ist selbst singend, tanzend aktiv gewesen, der Heinz hat sich, vor allem in den jüngeren Jahren, sehr für Jazz begeistern können, Oldtimermusik, Dixieland, Louis Armstrong und so. Sie mag seinen Jazz, er entdeckt durch sie die Schönheit zum Beispiel von Weisenbläsermelodien. Wie schön,...