Kindheit und Realschulzeit
Geboren wurde ich 1950 in Friesen im Frankenwald, einer Gemeinde in der Nähe von Kronach, der Geburtsstadt des Malers Lukas Cranach dem Älteren. An die Zeit bis zur Grundschule erinnere ich mich kaum, auch existieren keine Fotos mehr, die mein Gedächtnis beflügeln könnten.
Mein Vater besaß wohl eine Voigtländer Balgenkamera, aber der Apparat wurde nur an Festtagen herausgeholt und ein 120er-Rollfilm eingelegt. Damit mehr Bilder auf den Film passten, fotografierte man mit einer Maske, und mit diesem Trick erhielt man »schöne« Bildchen von 4,5 mal 6 cm Größe – von mir leider keine, auch kein Babyfoto mit nacktem Hintern auf dem Eisbärenfell.
Mit zwei Jahren brach ich mir bei einem Treppensturz das Nasenbein, was ich erst mit 18 operieren lassen konnte, da es gleich nach dem Unfall versäumt worden war. Fortan plagte mich das Handicap, nicht richtig durchschnaufen zu können. Eigentlich habe ich nie wirklich gelernt, gut durch die Nase zu atmen, und stehe deshalb manchmal mit offenem Mund herum. (Also, nicht wundern!)
Unser Haus lag in einer Seitenstraße. Erst später, als wir zu Kronach eingemeindet wurden, gab es Straßennamen, und wir wohnten zu sechst, inklusive Tiere, am Flößerweg.
Auf dem Hof befanden sich Misthaufen, Plumpsklo und Scheune, im Garten die Schreinerwerkstatt meines Vaters und später zwischen Werkstatt und Scheune noch ein Holzlager. Wir hatten drei Gesellen in der Schreinerei, aber trotzdem musste jedes Familienmitglied mit anpacken, und Ferienmachen – tja, dieses Zauberwort hat sich für mich zum ersten Mal mit 18 Jahren erfüllt.
Meine Mutter stammte von einem Bauernhof, dem Letzenberg, einem wunderschön gelegenem Hof, auf dem man sich fast komplett selbst versorgte; dank Backhaus, Schreinerei, Schlosserei und einer großen Dampfmaschine mit vielen Transmissionen.
Ihr Großvater war Revierförster bei den Freiherren von Cramer-Klett aus Mitwitz. Ich habe nur noch meinen Großvater von Letzenberg kennengelernt, den Romig-Andreas, einen großen, hageren Mann, und erinnere mich an seine Angewohnheit, den Kautabak in einen Napf neben dem Sofa zu spucken.
Samstags half oft die ganze Verwandtschaft, zum Beispiel beim Heueinbringen, und wenn es dunkel wurde, saßen alle auf der großen Eckbank in der Stube, mit dampfendem Hefekuchen, Milch oder Tee. Spätabends musste ich dann mit meiner Familie über den Berg nach Hause gehen, und in jedem Baum sahen wir Rübezahl oder andere gruselige Gestalten lauern. Oft war es ein Heimrennen, denn irgendwie hatten wir Angst, und wenn es im Gebüsch raschelte, noch viel mehr.
Meine um 10 Jahre ältere Schwester Gerlinde und ich hatten ein Zimmer zusammen, und als ich neun wurde, heiratete sie und zog mit ihrem Mann ins Erdgeschoss. Ihre Heirat glich einem Affront, denn mein Schwager Otto war evangelisch und Flüchtling aus Schlesien. Für den Pfarrer im Ort ging dies gar nicht, und sie durften nur im nahe gelegenen Oblatenkloster kirchlich heirateten, in der Heimatgemeinde Friesen hatte man es ihnen verweigert.
Gerlinde nähte den Großteil ihres Lebens Teddybären, und noch heute steht ihre Industrienähmaschine in meinem Elternhaus. Otto galt im Landkreis als absoluter Fachmann für Waschmaschinen. Mit seinem Bus und der weithin sichtbaren AEG-Werbung darauf war er der Retter vieler Frauen, wenn die Waschmaschine streikte und er »Erste Hilfe« leistete.
Otto ist leider an Lungenkrebs verstorben, und meine Schwester hatte 2015, einfach so, einen Herzstillstand.
Im ersten Obergeschoss wohnte noch Tante Dora mit ihrem Sohn. Dora verdingte sich als Catering-Köchin, wie man wohl heutzutage sagen würde. Wenn ein privates Fest oder Kärwa (Kirchweih) stattfand, holte man Dora. Sie übernahm dann das Regiment in der Küche, und alle mussten nach ihrer Pfeife tanzen. Gekocht wurden die Klöße im Waschkessel und auf den holzbefeuerten Öfen die Gänse und Enten gebraten. Unter Doras Fuchtel gelang alles.
Sohn Heinz hat dann selbst ein Haus in der Nähe gebaut, und beide sind ausgezogen. Ihre Zimmer übernahmen später meine Kinder Dagmar und Claus.
Zweimal im Jahr war Schlachtfest bei uns daheim, zumindest galt dies unserem jeweiligen Hausschwein, und der Metzger kam in der Früh mit seinen furchterregenden Utensilien. Das Haus wurde zum Schlachten vorbereitet, der große Kessel angeschürt und der Sautrog bereitgestellt.
Wir hatten einen ganz schief gewachsenen Apfelbaum im Hof, der sich hervorragend zum Aufhängen und Ausnehmen der Sau eignete. Das ganze Haus roch an diesem Tag nach Fleisch, Pfeffer und anderen Gewürzen. Es wurde gewurstet, eingedost und eingelegt. Abends hingen die beiden Schweinehälften zum Austropfen im ersten Stock vor meinem Schlafzimmer und wurden dann am nächsten Tag weiterverarbeitet. Ich musste immer daran vorbei.
Zweimal im Jahr, im April und Oktober, erlebte ich also die gruseligsten Tage, indem ich an diesen Schweinehälften vorbei ins Bett musste, denn im Hausflur war auch kein elektrisches Licht, und mit Kerze war es nur noch gespenstischer. Ich war sowieso an diesem Tag nicht aufzufinden, versteckte mich irgendwo. »Hans, du kannst Blut rühren«, forderte mich der Metzger auf.
Gott bewahre, wenn ich nur das Schwein quieken hörte, während es aus dem Stall geführt wurde, und dann den dumpfen Schlag, nach dem plötzlich alles ruhig war … Schrecklich … Mir standen vermutlich die Haare zu Berge.
Gegessen habe ich davon dann später doch ganz gern, muss ich gestehen. Wir hatten immer ein Schwein, zwei Ziegen, die regelmäßig beim Ziegenschlachter landeten, einige Enten und Hühner sowie einmal auch acht Hasen.
Den letzten Hasen, Henry, wollte dann doch niemand mehr essen, und er lag ewig in der Gefriertruhe – vielleicht, weil wir ihn mit Namen versehen und lieb gewonnen hatten?
Zu meiner Erstkommunion gab es Bratwürste, die damals etwas Besonderes waren. Schweine- mit Ziegenfleisch gemischt in Ziegendärmen, und alles hausgemacht. Ich glaube, heute würde jeder vor den Gerüchen flüchten, zumal sich ja auch der Stall bei uns im Hause befand.
Der Misthaufen war, wie gesagt, vor der »hinteren« Türe und das Plumpsklo gleich daneben. In harten Wintern musste man mit dem Pickel ans Werk, damit die Familie wieder aufs Klo konnte. Ich durfte immer das Klopapier vorbereiten, dies bedeutete, ich riss die Tageszeitung in Quadrate und spießte sie dann auf einen Nagel im Plumpsklo.
Die Grundschule in Friesen hat mich dann sechs Jahre lang »festgehalten«, und es gibt ein paar Erinnerungen, die sich eigentlich schon prägend für mein Leben zeigten. Aufsässig war ich eigentlich nie, aber »authentisch«. Der Begriff wird zurzeit ja sehr strapaziert, oder sollte man sagen, man hat ihn wiederentdeckt?
Ich glaube, meine Lehrer hatten es oft nicht einfach mit mir. Ich war auch nicht der beste Schüler, aber ich gab mir richtig Mühe. Irgendwie kam ich ganz gut durch und hatte das Gefühl, dass sie mich schon mochten.
In Erinnerung geblieben ist mir aber vor allem noch eine Auseinandersetzung mit unserem Pfarrer in der Religionsstunde. Mein Heftumschlag aus Papier rutschte herunter, und ich befestigte ihn wieder, was natürlich raschelte und den Pfarrer aufregte: »Schmidt, was machst du da?«
»Äh … nichts.«
»Lüg nicht! … Du schreibst als Strafarbeit diese Liedstrophen aus dem Gebetbuch ab«, und er knallte mir das Brevier auf den Tisch.
»Also, lieber Herr Pfarrer, ich hab nichts gemacht, also werde ich die Strafarbeit auch nicht schreiben«, entgegnete ich auf diese bodenlose Ungerechtigkeit.
Es kam die nächste Stunde. »Schmidt, wo ist deine Strafarbeit?«, fragte der Religionslehrer, bereits ahnend, dass ich meine Ansicht dazu nicht im Mindesten zu ändern bereit gewesen war. Ich hatte tatsächlich nichts geschrieben, was ihn noch mehr erhitzte und mir die doppelte Strafarbeit einbrockte.
Dasselbe wiederholte sich in der darauffolgenden Religionsstunde. Da war das Maß voll, und er schrie mich an: »Ich schließe dich aus der Kirche aus!«
Dies erschien mir doch gewaltig übertrieben, ich erzählte es aufgebracht meinem Vater, der zitierte den Pfarrer zu uns nach Hause. Als er eintraf, wurde ich derweil ins Wohnzimmer gesteckt und hörte, wie es in der Küche hoch herging.
Nach diesem »Gewitter« war die Luft wieder rein, ich durfte wie ehedem Küche und Kirche betreten, und die Strafarbeit war vergessen.
Einmal war ich ganz stolz auf meinen Papa, denn als ich den Schulranzen herausholte, fand ich auf meiner Schiefertafel (!) die Rechenaufgabe schon gelöst. Er schnüffelte einfach gerne ein wenig in meiner Schultasche herum und hatte dieses Mal Lust verspürt, meine Hausaufgaben zu erledigen. Was sollte ich schon dagegen haben?
Auch sonst konnte ich mich nicht über meinen Vater beklagen, selbst wenn das Leben hauptsächlich aus Arbeit bestand und es nur wenige freie Tage gab. Am Samstag musste ich Werkstatt und Hof kehren, eventuell noch die Maschinen ölen, und am Sonntag assistierte ich Papa bei den schriftlichen Arbeiten.
Interessant war auch unser Fuhrpark über die Jahre, mit Autos, von denen heute kaum einer mehr die Namen weiß.
Zuerst hatten wir einen alten Opel, so ein Gangsterauto, was aber nie ansprang, wenn es mal dringend gebraucht wurde. Dann nannten wir einen Lloyd unser eigen, in dem wir auch mal ein junges Kälbchen transportierten, das mit Fleiß alles vollpinkelte.
Hernach kam ein Goliath, einem VW-Bus nicht unähnlich, mit dem mich mein Vater am Bahnhof abholte. Als der Bauer, der die anderen Kinder aus meiner Gruppe befördern sollte, nicht auftauchte, lud mein Vater sie...