Wir sind immer unterwegs, wir sind immer in Bewegung. Unser Leben kennt keinen Stillstand, unser Leben ist ein beständiger Prozess, unser Leben entwickelt sich. Mittlerweile passiert es mir manchmal, dass ich erschrecke, wie alt ich mit meinen 45 Jahren schon bin. In meinem Zimmer gibt es ein Regal mit Fotoalben aus den 80er und 90er Jahren, also aus der schon versunkenen Zeit, wo unsere Fotos noch nicht in die Unsichtbarkeit von Computerfestplatten verbannt waren, sondern als Bilder in Alben gesammelt wurden. Eineinhalb Meter Fotoalben über mein Wirken als Kaplan und als Pfarrer, Fotos, die Erinnerungen hochblitzen lassen. Auf den Bildern Kinder, die schon lange erwachsen sind; Menschen, die schon gestorben sind; Gesichter, die ich nicht mehr identifizieren kann. Diese Fotoalben schaue ich mir nie alleine an, denn sie erwecken in mir das Gefühl, dass die Zeit viel zu schnell und viel zu unausgenützt verrinnt, und das macht mich traurig. Ehrlich! Es macht mir schon aus meiner persönlichen Stimmungslage heraus keine wirkliche Lust, über das Verrinnen der Zeit nachzudenken. Ich tue es mehr aus Disziplin und weil ich das Gefühl habe, dass es doch heilsam ist, ab und zu über die Zeit und ihre Flüchtigkeit nachzudenken.
Das Wort »Ich habe keine Zeit« höre ich sehr oft. Dabei ist es sprachlich absolut paradox: Das, was wir heute wirklich »zu jeder Zeit« zu wenig haben, das ist »Zeit«. Junge Leute »haben keine Zeit«. Ich erlebte als Pfarrer, dass die 7-jährigen Kinder, die zur Erstkommunionvorbereitung kommen, schon »keine Zeit« mehr haben. Schon da zückten die Eltern den Terminkalender, und es war eine endlose Prozedur, bis man einen wöchentlichen Termin für die Kids gefunden hatte, weil sie zugepflastert sind mit Schule, Nachhilfe, Ballett, Reiten, Turnen, Fechten, Kinderyoga und so weiter. Die armen Kinder! Und wir noch viel, viel ärmeren Erwachsenen! Ich selber erwische mich auch oft dabei, mich mit einem »Leider, da habe ich keine Zeit« zu entschuldigen. In letzter Zeit bin ich ein paar Mal erschrocken, nachdem ich diesen Satz gesagt habe, und zwar über dieses innere Gefühl der Erleichterung: Denn »Ich habe keine Zeit« ist eine unschlagbare Entschuldigung, die jeder versteht. Es entpflichtet einen sofort davon, eine Herausforderung anzunehmen, für jemanden da zu sein, sich um ein Problem zu kümmern. Das »Ich habe keine Zeit« ist, wie gesagt, sonderbar und paradox, denn Zeit haben wir ja immer. Im Prinzip wollen wir nur sagen: Ich kann nicht, denn da verwende ich meine Zeit für etwas anderes. Als Ausrede besagt »Ich habe keine Zeit« sogar: Das ist mir nicht wertvoll genug, dass ich meine Zeit damit verbringe. Oder: Dafür will ich meine Zeit nicht verschwenden. Tatsache ist, dass wir immer Zeit haben. Niemand kann sich herausstehlen aus dem Prozess des ständigen Vergehens und Werdens. Wir sind also immer auf dem Weg, und indem wir die Zeit verbringen, vergeht sie auch schon und wir mit ihr. Ist das nicht paradox: Wir haben zu jeder Zeit keine Zeit mehr! Ich denke, dass jeder instinktiv spürt, dass dieses Immer-Weiter-Treiben einen letzten Sinn haben muss, ein Ziel, eine Zukunft. Wohin rinnt der Sand in der Sanduhr unseres Lebens? Woher kommt die Traurigkeit, wenn wir das permanente Vergehen betrachten?
Der deutsche Mystiker Jakob Böhme sagt: »Der Mensch hat Heimweh, weil er Heimweh ist.« Ich glaube, dass er eine tiefe philosophische Einsicht getroffen hat, wenn er den Menschen als Sehnsuchtswesen definiert. Die sehnsüchtige Offenheit in Richtung einer Zukunft haben viele große – alte wie neue – Denker erspürt und auf verschiedenste Weise formuliert. Für die einen, die Existentialisten etwa, ist der Mensch gerade deshalb so elendiglich tragisch, weil er auf die Zukunft hin lebt und doch nur in die Endlichkeit hinein verdämmert. Die Offenbarung sagt uns, woher diese Sehnsucht kommt: Sie kommt von Gott, weil ein Funke des Göttlichen in uns liegt. Wir sind selbst ein Stück Unendlichkeit, weil Gott etwas von seiner Unendlichkeit in uns gelegt hat: unsere geistige Seele. Die Offenbarung verbürgt uns schließlich auch, dass diese Sehnsucht gestillt wird. Hier auf Erden, indem uns Gott berührt, wenn wir uns in einem gläubigen Leben mit ihm verbinden. Und dann vollends nach dem Tod. Der Mensch hat Heimweh, weil er Heimweh ist. Damit kann ich mich gut identifizieren. Ich habe wirklich das Gefühl, dass das Leben vorantreibt und dass man mit zunehmendem Alter immer schneller vom Fluss der Zeit vorwärtsgespült wird. Ich denke, dass die Frage eigentlich jeden Menschen betrifft, ob er sie nun ausdrücklich stellt oder nicht: Ob mein Heimweh auch je erfüllt wird? Ob mein Leben ein letztes Ziel hat? Ob es etwas gibt, das alle kleinen Lebenssinne, die doch immer vergänglich sind, zusammenfasst, bündelt und vielleicht sogar erlöst? Ich glaube, dass es notwendig ist, wieder zu beginnen, tiefer zu denken. Die materialistische Lösung, sich mit den letzten Fragen erst gar nicht zu beschäftigen, weil es – angeblich – keine Antwort darauf gibt, scheint mir nicht empfehlenswert. Wir tragen in unserem Geist diese Wunde, und sich nicht mit ihr zu beschäftigen, an ihr vorbeisehen zu wollen, kann zu Entzündungen und Infektionen führen. Zumindest bedeutet es einen Verlust an Lebensqualität, wenn man die Frage nach dem Ziel unseres dahinfließenden Lebens erst gar nicht zulässt oder von vornherein als sinnlos abtut. Sie ist einfach da, diese Wunde, diese permanente Frage: Wohin geht der Weg, was ist der Sinn, wo liegt das Ziel?
Natürlich kann man eine Zeit lang das Heimweh verdrängen, man kann sich selbst manipulieren und so tun, als könnte man es nicht zulassen. Jugendliche sind ein gutes Beispiel dafür, und in der Jugend funktioniert das phasenweise auch ganz »cool«. Schon aus einem entwicklungspsychologischen Grund: Der junge erwachsen werdende Mensch hat ja von Natur aus die Aufgabe, sich die Welt und das Leben »zu erobern«, seinen Platz in dieser Welt zu suchen: Bildung, Freundschaft, Liebe, Beruf, soziale Position, Weltanschauung, Erfolg, Anerkennung … all das muss erobert werden. Und es macht durchaus Sinn, Eifer und Anstrengung zu investieren, um eine gute Ausbildung zu bekommen; es gibt eine Fülle von kleinen Lebenssinnen. Das große Aber liegt darin, dass alle diese Sinne wortgemäß »klein« sind; so wichtig und richtig es ist, ihnen nachzujagen, so sind sie doch vergänglich. Und dieser Vergänglichkeit ist nun einmal jedes Glück und jeder Lebenssinn in dieser Welt unterworfen. Alles vergeht. Dem Philosophen Heraklit um 500 vor Christus wird die Formel »Pantha rhei«, »alles fließt, zerfließt«, zugeschrieben. Raphael hat ihn in den Stanzen des Vatikanischen Palastes als trübsinnigen Grübler dargestellt, und damit vermutlich Michelangelo portraitiert. Aber angesichts des ständigen Vergehens muss man ja depressiv werden. Plato hat es später mit den Worten formuliert: »Alles fließt und nichts bleibt.« Auch das Glück bleibt nicht, es zerfließt. Darum machen die einen Fehler, die meinen, dass sie eine endgültige Glückseligkeit erreichen können, indem sie alle ihre Wünsche erfüllen. Das funktioniert sicher nicht, denn man kann viele Wünsche erfüllen, aber nicht alle. Und kaum ist die eine Sehnsucht erfüllt, dämmert das Glücksgefühl schon wieder in die gewöhnliche Alltäglichkeit hinüber. Warum gewöhnt man sich so schnell an das, was man gestern und vorgestern noch so gierig und heißhungrig ersehnte?!
Das Leben treibt voran. Wie sehr man sein Herz an einen kleinen Lebenssinn hängen kann, habe ich als Jugendlicher erlebt, als ich mein erstes Auto gekauft habe. Mein Heimatdorf ist ein winziger Fleck im südlichen Umland von Wien mit dem originellen Namen Wampersdorf; es liegt zwar nicht am Rande der Zivilisation, aber doch weitab von guten Bus- oder Bahnverbindungen. Ein »Fortgehen« am Abend oder sonstige Unternehmungen sind da ohne Auto fast unmöglich. Der Führerschein war eine echte Befreiung, und die Erinnerungen an den Kauf meines ersten Autos sind unauslöschlich: Es handelte sich um einen rostigen, zehn Jahre alten Ford Escort, und als ich zum ersten Mal damit vor dem Elternhaus vorfuhr, kam mir das so toll vor, als hätte man alle Weihnachten und Ostern zusammengelegt. Schließlich hatte ich tagelang auf den Kauf des Autos hingefiebert, und da stand es nun: mein Auto! Endlich konnte ich die Welt erobern. So ähnlich muss sich Christoph Kolumbus gefühlt haben, als er nach langem Betteln und Ringen mit dem spanischen Königshaus endlich »seine« Santa Maria übernehmen durfte. Und dann? Die Begeisterung der Vorfreude war schnell der Gewöhnung gewichen. Heute ist das Autofahren für mich weder Befreiung noch Freude, sondern ein notwendiges Übel. Die Zeit drängt voran, und was uns heute als große Sensation erscheint, uns mental blockiert und dominiert, weil es uns als das einzig Wichtige und Wesentliche erscheint, ist morgen abgetaut wie der Schnee von gestern, ist alltäglich und banal.
Wer im Dahinstrudeln nicht stehen bleibt und in seiner Seele durchatmet, der wird den Weg verlieren oder erschöpft zusammenbrechen. Das Nachdenken über das Dahinfließen der Zeit und das Ziel, auf das wir zutreiben, nimmt uns nichts. Wehe uns, wenn wir nicht reflektieren und innehalten, dann sind wir bloß Getriebene, Fortgerissene und Taumelnde!
Alles, was uns hilft, aus diesem Fortgerissenwerden »Ich habe keine Zeit« auszusteigen, ist gut. Alles, was uns hilft, dieses Gefühl von Sehnsucht und Heimweh im Herzen zuzulassen, kann uns nur helfen, tiefer und erfüllter zu leben. Als Dogmatiker habe ich einige Artikel geschrieben, in denen ich sehr pointiert meine Frustration über den Esoterik- und New-Age-Boom zum Ausdruck gebracht habe. Ich habe das...