Menschenkenntnis
Wir alle sind Menschenkenner – doch nur wenige sind »Menschen-Erkenner«. Menschenkenntnis hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen wir kennen, sondern viel mehr, ob wir die Auffassungsgabe haben, diverse Charaktereigenschaften von Menschen binnen Bruchteilen von Sekunden zu erkennen.
Das Wort »erkennen« ist eine stärkere Bildung des Wortes »kennen«. Dieses stammt aus dem Althochdeutschen für »sich gewahr werden, erfassen, urteilen«. Wenn wir also Menschen erkennen, so ist das eine ausgeprägtere Form dessen, Menschen nur zu kennen. Es ist eine Fähigkeit, nüchtern in den Menschen hineinzublicken, dessen Tiefen zu erkennen.
Doch woher kommt Menschenkenntnis? Wieso haben gewisse Menschen die Fähigkeit, andere Menschen zu lesen, andere hingegen wissen selbst nach langen Gesprächen immer noch nicht wirklich, wer ihnen gegenübersitzt?
Für Menschenkenntnis gibt es diverse Gründe. Befassen wir uns doch mal mit den unterschiedlichen Formen von Menschenkenntnis und deshalb zunächst mal mit jenen Arten von Menschenkennern, die nicht wirklich Menschenkenner sind, es aber von sich stark behaupten. Ich unterscheide hierbei zwischen den vermeintlichen Menschenkennerinnen und -kennern, die primär mit sich selbst reden, also extrem im Inneren sind. Und deren Gegenstück, die vermeintlichen Menschenkennerinnen und -kenner, die primär im Außen orientiert sind und in wirren Sphären herumschwirren, derer sie nicht mächtig sein können. Diese beiden Formen – im Innen und im Außen sein – haben nicht viel damit zu tun, ob man eher introvertiert oder extrovertiert ist. Denn beispielsweise extrovertierte Menschen, also Menschen, die sehr kommunikativ und mitteilungsbedürftig sind, können sich zwar mitteilen, sich selbst darstellen, aber trotzdem »Menschenkenner« sein, die sich primär mit ihrem Inneren befassen. Ob man ein innerer oder ein äußerer »Menschenkenner« ist, hat also nichts mit dem Geltungsdrang oder mit dem kommunikativen Energieniveau zu tun, sondern lediglich damit, ob ich mich mit Informationen befasse, die von innen kommen, oder mit Informationen, die von außen kommen.
Befassen wir uns zunächst mit zwei Typen vermeintlicher Menschenkenner, die sich vorwiegend mit Informationen beschäftigen, die lediglich von innen kommen, und die deshalb die Menschen um sich herum nicht wirklich kennen können. Alles steht immer im Zusammenhang mit ihm selbst:
Der Geprägte
Eine der Formen von vermeintlichen Menschenkennern ist die des Geprägten. Sie handeln insofern »geprägt«, dass sie die im Laufe des eigenen Lebens erfahrenen Tiefschläge einstecken und unterbewusst als schützende Mechanismen auf andere Menschen übertragen. Es ist das unbewusste Einprägen von Eigenschaften jenes Menschen, der sie geprägt hat, woraus Konditionierungen entstehen und das Gehirn beginnt, Menschen in Schubladen zu stecken, was natürlich überhaupt nicht objektiv sein muss, sondern primär subjektiv. Zum Beispiel bei Beziehungsschwierigkeiten:
Eine Frau wird von ihrem Mann, mit dem sie sich verbunden fühlt und dem sie vertraut, betrogen und verletzt. Fortan ist sie von dieser Erfahrung geprägt, die sie natürlich mit diesem Mann verbindet. Dieser Mann liebt Spinat. Der nächste Mann, bei dem sie Trost sucht, hat sie von vornherein belogen, was seinen Familienstand betrifft. Und auch er aß gern Spinat. Kurzum beginnt unser Unterbewusstsein Regeln zu finden, wo es gar keine gibt, und liefert nach intensiver Analyse beider Herren das Ergebnis: Alle Männer, die Spinat lieben, lügen.
Bizarr an der ganzen Sache ist, dass die geprägten Menschen mit ihrem Bewusstsein natürlich wissen, dass dieses »Erkennen«, eben hier als Urteil, nicht stimmen kann – trotzdem aber hält ihr Unterbewusstsein an dieser erfundenen Regel fest, die merkwürdiger nicht sein könnte. Und was geschieht? Jene Frau meidet Männer, die Spinat mögen, wird misstrauisch, wenn sie von dieser Vorliebe erfährt, oder stellt einem potenziellen Partner schon beim Kennenlernen direkt oder indirekt die Frage, ob er Spinat mag.
Menschen, die aus eigener Prägung durch andere Menschen versuchen, Schablonen zu entwickeln, laufen Gefahr, dass sie anderen ihre eigene Erfahrung »andichten«. Deshalb sollte diese Form der Menschenkenntnis eigentlich nicht unter dem Begriff laufen, sondern unter Selbstkenntnis. Wenn wir aus eigenen Erfahrungen unsere falschen Vernetzungen, wie zum Beispiel »Männer, die Spinat mögen, lügen«, verallgemeinern, hat dies lediglich mit unserer eigenen Geschichte zu tun, nicht aber mit der Wahrheit, ist zutiefst subjektiv statt objektiv.
Dieser Mechanismus, aus schlechten Erfahrungen heraus Verknüpfungen zu erstellen, war zu Urzeiten überlebenswichtig. Wurde ein Mensch von einem Raubtier gefressen, einer dem Menschen noch völlig unerforschten Spezies, hat man diese Erfahrung mit dem Tier verinnerlicht, ein Gefühl für Gefahr entwickelt und so gelernt, sich davor in Acht zu nehmen. Nur so konnten die Menschen in einer vergleichbaren Situation ihr eigenes Überleben sichern.
Aussagen von Geprägten wie »Ach, du magst Spinat – wie mein Ex, der mochte auch gern Spinat, aber er hat mich auch betrogen. Wird das bei dir auch so sein?« kontert man am besten mit einer Frage wie: »Meine Ex-Freundin trank gern Wasser, so wie du – sie hat mich hintergangen. Ist dies nun bei dir auch zu erwarten?«
Der Egozentriker
Eine nächste, nur vermeintliche Form von Menschenkenner ist der Egozentriker. Das ist derjenige selbsternannte Menschenkenner, der sich, seine Emotionen, sein Denken und seine Verhaltensweisen in den Mittelpunkt stellt. Der Egozentriker ist derjenige Menschenkenner, der glaubt, dass andere das Gleiche denken wie er, das Gleiche fühlen wie er und auch aus den gleichen Beweggründen gewisse Handlungen an den Tag legen wie er. Der Egozentriker leitet immer stets alles von sich selbst ab und glaubt, auch andere Menschen sehr gut fühlen zu können. In Wirklichkeit fühlt er nur sich selbst.
Die Egozentriker erkennt man oftmals sehr schnell daran, dass sie sich selbst als Empathiker bezeichnen. Sie glauben, sich in andere Menschen hineinfühlen zu können, doch die oder der Einzige, in die oder den sich solche Menschen hineinfühlen, sind sie selbst. Wenn sie glücklich sind, beteuern sie anderen, sie (die anderen) seien heute auffallend gut drauf. Haben sie schwierige berufliche Zeiten, übertragen sie ihre Probleme auf andere mit Sätzen wie: »Man sieht dir an, dass auch an dir die Krise nicht spurlos vorbeigeht.«
Oft leiden die vermeintlich empathischen Egozentriker unter einem subjektiven Wahrnehmungsfehler, mitunter dem Ähnlichkeitsfehler, dass sie in allen anderen das sehen, was sie eigentlich bei sich selbst feststellen, oder dem Kontrastfehler, dass sie in anderen immer nur das sehen, wonach sie eine innere Sehnsucht haben und was sie deshalb in sich selbst suchen.
Ein typisches Beispiel eines egozentrischen Menschenkenners ist, dass er dir, obschon du supergut drauf bist, in die Augen blickt und sagt: »Ich sehe in deinen Augen, dass dich etwas bedrückt.«
Die beste Antwort, die mir hier einfällt, wäre wohl: »Ich glaube, du sieht die Reflexion in meinen Augen.«
Die beiden nun folgenden Menschenkenner sind jene, die sich vorwiegend im Außen befinden und sich dadurch mit sich selbst kaum auseinandersetzen mögen.
Ein im Außen herumschwirrender Menschenkenner, der lediglich versucht, Informationen von außen zu gewinnen, und dabei sich selbst und den Balken vorm Auge vergisst:
Der Fantast
Eine bemerkenswerte Gattung von vermeintlichen Menschenkennern ist die der Fantasten. Fantasten haben eine kreative Fähigkeit, die ihnen auch viele Türen öffnet – auch die in ein neues, noch unergründetes Universum. Denn Fantasten haben die Eigenschaft, etwas hineinzuprojizieren, wo nichts ist, Zusammenhänge zu erschaffen, die es nie gab und auch nie geben wird, weder beim Fantasten, noch bei demjenigen, der gerade vom Fantasten analysiert wird. Fantasten sind wenig feinfühlig, dafür umso philosophischer. Sie können Fragen offen stehen lassen, ohne darauf Antworten finden zu müssen. Sie können dort, wo alles in Ordnung ist, völlig unnötige Fragen stellen.
Fantasten bewegen sich in philosophischen Sphären, die scheinbar fast nur Fantasten vorbehalten bleiben – weil es Sphären mit stets offenen Fragen sind, in die kaum andere sich verirren wollen.
Deshalb sind Fantasten eigentlich harmlos – weil sie lediglich verdeutlichen wollen, dass wir nicht alles wissen müssen und auch nicht alles erklären müssen.
Der Fantast begegnet dir und hinterfragt deine Glücksgefühle – nicht aber in der Rolle eines Therapeuten, der dich behandeln will, sondern vielmehr im philosophischen Sinne von »Ich habe mich mit dir befasst, denn wie du sehen kannst, habe ich dir eine Frage gestellt, auf die es beinah keine Antwort geben kann«.
Dies könnten sie zu vermitteln versuchen mit einer Aussage wie: »Es freut mich, dass es dir gut geht. Aber ist das Leben nicht immer auch ein Auf und Ab? Und möchte man wirklich immer allen Menschen sagen, wie es im Inneren tatsächlich ausschaut?«
Fantasten antwortet man am besten mit einer ebenfalls offenen Frage, welche die Sphären des Fantasten so sehr ins Unermessliche erweitern lässt, dass sie früher oder später mit ihren fantastischen Analysen aufhören müssen.
Der Sehende
Die letzte, wirklich bemerkenswerte Gattung der vermeintlichen Menschenkenner ist die der vorgeblich Sehenden. Sehende sind Menschen, die glauben, Dinge zu sehen,...