Die frühen Jahre (1912–1930)
Im Alter von siebzehn Jahren verfasste Wernher von Braun eine Science-fiction-Geschichte mit dem Titel Lunetta. Darin schildert er, wie zwei im ewigen Eis gestrandete Polarforscher von einem Raketenflugzeug geborgen werden, das sie an Bord der «Lunetta», einer von Menschenhand geschaffenen Station im Weltenraum, bringt. Einer der beiden Geretteten beschreibt, wie sich das Leben hier unter den neuen physikalischen Umständen so ganz anders abspielte als auf der Erde. Infolge des Fehlens jeglicher Schwerkraft besaß der Raum überhaupt keinen richtigen Fußboden – er hatte vielmehr auf allen Seiten Fenster und war von verschiedenen Streben durchzogen, die […] den Zweck hatten, den in der Halle befindlichen Menschen Anhaltspunkte für ihre Fortbewegung zu geben. Der Kommandant der Station zeigt seinen beiden Gästen das Observatorium zur Beobachtung der Erde und erklärt ihnen, daß von hier aus ein verbreitetes Sicherungssystem auf der Erde dirigiert werde, welches auch das Scheitern der Polarmission registriert und ihre Rettung veranlasst habe.
Voller Faszination berichtet der Erzähler weiter: Wir kamen uns vor diesen Menschen hier oben unsäglich klein und deprimiert vor. […] Wir wollten es zunächst nicht recht glauben; aber die Anschauung lehrte uns bald, hier oben bei der Lunetta nichts mehr für unmöglich zu halten. So verfügt Lunetta beispielsweise über einen Spiegel zur Bündelung des Sonnenlichts von 350 Metern Durchmesser, mit dessen Hilfe das Wetter auf der Erde beeinflusst werden kann. Bevor der Kommandant seine Gäste mit dem Raketenflugzeug nach Berlin zurückbringen lässt, weist er sie auf die ethischen Dimensionen der Raumfahrt hin: Die Führung dieses Spiegels ist mit großer Verantwortung verknüpft, da ein kleiner Fehler unter Umständen einen Waldbrand und noch viel schlimmere Katastrophen herbeiführen kann.
Anhand dieses Schülerzeitungs-Aufsatzes – eines der wenigen Originaldokumente aus Wernher von Brauns Jugend – kann man ein Bild des jungen Gymnasiasten entwerfen. Auffallend ist zunächst das enorme Wissen in Sachen Raumfahrt, die Phantasie, das Gespür für praktische Anwendungen der damals noch exotischen Technik, vor allem aber die Fähigkeit, technische Projekte plastisch und für Laien verständlich zu schildern. Typisch ist jedoch auch die grenzenlose Faszination für die Raumfahrt und die mangelnde Sensibilität für die Frage nach Sinn und Zweck der neuen Technik. Denn es ist ein aufwendiger Umweg, die Havaristen zunächst zur Raumstation und erst von dort aus in ein Krankenhaus zu befördern. Die Frage, ob ein derartiger Aufwand erforderlich ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen, kam Wernher von Braun auch bei späteren Raumfahrtprojekten nicht in den Sinn. Die Entwicklung von Raumfahrttechnik war für ihn nicht Mittel zum Zweck, sondern ein nicht hinterfragter Selbstzweck. Auch das politische Weltbild von Brauns ist in der Lunetta-Erzählung in Ansätzen erkennbar; denn die Vision einer Steuerung und Kontrolle irdischer Vorgänge durch im Weltall stationierte Spezialisten enthält in ihrem Kern ein technokratisches Konzept, demzufolge die technischen Experten kraft ihres Wissens regieren. Politische Entscheidungsverfahren – etwa die der parlamentarischen Demokratie – werden damit tendenziell überflüssig.
Um zu erklären, wie ein derartiges Weltbild entstanden ist, muss man in von Brauns Kindheit und Jugend zurückgehen, über die allerdings wenig bekannt ist. Wernher Magnus Maximilian von Braun, so der vollständige Name, wurde am 23. März 1912 in der Stadt Wirsitz in Posen (im heutigen Polen) als Sohn einer aristokratischen Familie geboren. Er hatte einen älteren Bruder, Sigismund (geb. 1911), und einen jüngeren Bruder, Magnus (geb. 1919). Sein Vater, Magnus Freiherr von Braun, war ein hoher politischer Beamter, der verschiedene Funktionen in Berliner Reichsministerien, aber auch in den östlichen Provinzen innehatte. Er war ein deutschnationaler Antidemokrat, der aus seiner Ablehnung der Weimarer Republik keinen Hehl machte. Im März 1920 beteiligte er sich am Kapp-Putsch, dem Versuch rechtsextremer Nationalisten, die junge Republik zu liquidieren, und wurde deshalb seines Amtes als Regierungspräsident in Gumbinnen (Ostpreußen) enthoben. Als Mitglied des Reichswirtschaftsrates und Direktor der Deutschen Raiffeisenbank blieb er jedoch eine einflussreiche Person des öffentlichen Lebens. Im Juni 1932 wurde er Landwirtschaftsminister im Kabinett Papen, das als Wegbereiter der Nazis fungierte. Adolf Hitler übernahm ihn nicht in sein Kabinett, woraufhin er sich enttäuscht auf sein Gut in Oberwiesenthal bei Hirschberg in Schlesien zurückzog, das er 1930 erworben hatte.
Wernhers Mutter, Freifrau Emmy von Braun, wird als eine gebildete, weltoffene und warmherzige Frau geschildert. Sie war für den jungen Wernher eine wichtige Bezugsperson, von der er das Klavierspielen und fremde Sprachen sowie die Umgangsformen lernte, die später als Von-Braun-Charme sprichwörtlich wurden. Bei ihr fand das Kind die Zuwendung, die sein wacher Geist benötigte. Seine Mutter erinnerte sich später: «Er war wie ein trockener Schwamm und nahm jede Spur von Wissen begierig auf. Seine Fragen nahmen kein Ende.» Sie brachte Verständnis für ihren Sohn auf, der unermüdlich aktiv war und mit allem herumbastelte – ein Verständnis, das dem Vater vollkommen fehlte. Vergeblich versuchte dieser, seinem Sohn «ein wenig elterliche Führung zugute kommen zu lassen».
Die Kindheit zwischen diesen beiden gegensätzlichen Polen hat Wernher von Braun geprägt. Er wurde zu einer vielseitig gebildeten Persönlichkeit, deren Ausstrahlung alle Menschen beeindruckte, die mit ihm in Kontakt kamen. Wernher von Braun wusste stets, was er wollte, und hatte ein sicheres Gespür dafür, welches Risiko er eingehen konnte, um seine Pläne durchzusetzen. Die familiäre Konstellation mit der verständnisvollen Mutter als ruhendem Pol war eine ideale Situation, um die Verhaltensweisen einzuüben, mit denen von Braun später so viel Erfolg hatte. Ich tat nur das, was mir Spaß machte, und das waren meistens Dinge, die nicht auf dem Lehrplan unserer Klasse standen, schrieb er in seinen Erinnerungen.
Schon in den ersten Schuljahren auf dem französischen Gymnasium in Berlin schwänzte er den Physik- und den Mathematikunterricht, um zu Hause zu basteln. Er konstruierte ein Raketenauto, indem er Feuerwerksraketen auf einen Bollerwagen montierte, und jagte damit den Spaziergängern auf der Tiergartenallee Angst und Schrecken ein. Wernher hatte an die möglichen Folgen nicht gedacht; er sah in erster Linie die technische Leistung: Ich war überwältigt. Der Wagen war zwar völlig außer Kontrolle und zog einen kometenartigen Feuerschweif hinter sich her, aber meine Raketen funktionierten besser, als ich es mir erträumt hatte. Die Polizei nahm den Jungen in Gewahrsam; nur die Intervention des Vaters konnte eine Bestrafung verhindern.
Dieser reagierte mit Unverständnis auf seinen Sohn: «Diese technische Begabung, mit der Wernher so reichlich ausgestattet zu sein scheint, ist eine völlig neue Eigenschaft in unserer Familie. Ich weiß wirklich nicht, woher er sie hat.» In einer Familie, deren Söhne Landbesitzer wurden, zur Armee gingen oder in den Regierungsdienst eintraten, war Wernher ein Sonderling. Eine wichtige Quelle der Inspiration war seine Mutter, zu deren Hobbys die Astronomie zählte. Zur Konfirmation schenkte sie ihrem Sohn 1925 ein astronomisches Fernrohr, das die Leidenschaft auslöste, die ihn nicht mehr losließ. Denn beim Betrachten des Mondes fiel sein Entschluss, das Fahrzeug zu bauen, das man für eine Reise dorthin benötigt.
Die Hiobsbotschaft einer Nicht-Versetzung wegen schlechter Noten in Mathematik und Physik nötigte die Eltern zum Handeln; der Vater beschloss, dass der «Sohn mehr Anleitung und Führung brauchte, als er bereit war, von seinen Eltern anzunehmen». Wernher wurde daher mit dreizehn Jahren auf das Hermann-Lietz-Internat in der Nähe von Weimar geschickt, das für seine modernen Erziehungsmethoden bekannt war. In der Freizeit nutzte er sein Fernrohr ausgiebig, um seine astronomischen Kenntnisse zu vertiefen und dem Traum von Raumflug nachzugehen. Ein wichtiger Impuls war schließlich Hermann Oberths Buch «Die Rakete zu den Planetenräumen», das 1923 erschienene Grundlagenwerk der modernen Raketenforschung. Wernher hatte große Mühe, die vielen mathematischen Formeln zu verstehen. Doch der Traum vom Weltraumflug entfesselte in dem Jungen den Ehrgeiz, sein schwaches Fach Mathematik so lange zu pauken, bis er wenigstens die Hälfte des Buches von Oberth verstand. Bald war er der beste Schüler der Klasse, der im April 1930 sogar zur vorgezogenen Abiturprüfung zugelassen wurde. Wenn Wernher ein Ziel vor Augen hatte, war er nicht zu bremsen.
Bereits während seiner Schulzeit unternahm er die ersten Schritte zur Realisierung seines Traums. Gemeinsam mit Mitschülern baute er ein kleines Observatorium, wobei er – wie später noch oft in seinem Leben – als Führer eines Teams agierte, das eine außergewöhnliche Tat vollbrachte. Zudem beschäftigte er sich mit dem Projekt einer Mondreise und verfasste ein Manuskript Zur Theorie der Fernrakete, das seinen hohen wissenschaftlichen Anspruch verdeutlicht. Dort heißt es: Unter einer Fernrakete ist ein Apparat zu...