Als Einführung: Unsere persönliche Geschichte
Wie Phoenix aus der Asche – ein Leben in Würde und Glück
Wir stammen beide aus Sofia in Bulgarien. Vor der Wende arbeiteten wir dort beide als Diplom-Ingenieure an der Akademie der Wissenschaften im Bereich „Technische Kybernetik“, das heißt Prozesssteuerung und Systemanalytik. Wir waren glücklich verheiratet und bekamen nach und nach im Abstand von etwas über sieben Jahren zwei Söhne, Jerko (geboren 1979) und Lubomir (geboren 1986), die gesund und zu unserem ganzen Glück und Stolz heranwuchsen. Nach der „Wende“ im Jahre 1989 allerdings begann sich unser Leben zu verändern. Vieles kam damals in Bewegung, in der Politik und in der Gesellschaft – all das wirkte stark in unser alltägliches Leben hinein. Das alte System musste abdanken. Es hinterließ eine Lücke und eine Zeitlang herrschte in unserem schönen Land ein ziemliches Durcheinander.
Georgi erzählt:
Ein neuer Anfang in Deutschland
Aus diesem Grunde ging ich 2000 nach Deutschland. Mit der von Herrn Gerhard Schröder eingeführten „Green Card“ für Wissenschaftler aus der ganzen Welt konnte ich dort arbeiten und leben. Tatyana blieb mit unserem jüngeren Sohn Lubomir, der inzwischen ein französisches Kolleg besuchte, in Sofia. Jerko, unser Ältester, war schon erwachsen und zu der Zeit beim Militär. Wir waren zufrieden, aber schnell merkten wir, dass wir gerne wieder eine „richtige Familie“ sein wollten und keine, die an zwei so weit voneinander entfernten Standorten lebte. Und weil ich nach einem Jahr sehen und fühlen konnte, dass die Situation in Deutschland gut war, besprach ich mit Tatyana, ob sie nicht mit Lubomir ebenfalls nach Deutschland kommen wollte. Sie entschloss sich dazu, und so reisten die beiden 2001 auch nach Deutschland.
Das war eine gute Entscheidung, und wir waren wiederum glücklich. Tatyana begann sofort, sich auf zu ihrem Profil passende Stellen zu bewerben, und Lubomir, inzwischen schon fast ein junger Mann mit seinen fünfzehn Jahren, besuchte das Käthe-Kollwitz-Gymnasium in München.
Tatyana erzählt:
Wir waren gut angekommen
Auf dieser neusprachlich ausgerichteten Schule jonglierte Lubomir als „Seiteneinsteiger“ gleich mit vier Fremdsprachen: Deutsch, Französisch, Spanisch und Englisch. In Französisch war er natürlich gut aufgestellt, weil er vorher in Sofia die französische Schule besucht hatte. Aber in Wirklichkeit machte ihm nichts davon Probleme, und er fand sich sehr schnell zurecht. Lubomir (sein Name bedeutet übrigens: „Ich liebe das Leben“ oder „Ich liebe den Frieden“) arbeitete sehr fleißig, und er war begabt. Die Sprachen interessierten ihn; er schrieb auch selbst viel und ließ seiner Phantasie und seiner Begabung in Geschichten und in Gedichten freien Lauf. Und die Musik, die Musik war noch so ein Steckenpferd von ihm: Er spielte damals begeistert Klavier und komponierte auch schon selbst. Dabei war er jedoch überhaupt kein Eigenbrötler, sondern hatte viele Freunde und sehr guten Kontakt zu seinen Mitschülern. Wir waren sehr glücklich, dass sich alles so entwickelte. Schließlich fand ich auch Arbeit und konnte wieder in meinem Beruf tätig sein – wir waren in Deutschland angekommen.
Tatyana und Georgi erzählen:
Das dunkelste Jahr unseres Lebens
Bevor Lubomir sein letztes Schuljahr in München begann, fuhr er 2003 in den Ferien nach Sofia. Sozial, freundlich und interessiert wie er war, hatte er dort noch immer gute Freunde aus seiner Zeit am französischen Kolleg. Sie planten, sich zu viert in Sofia zu treffen und dann von dort aus in die Berge zu fahren, um eine Woche lang wandern zu gehen. Sie hatten ein Hotel gebucht und genossen ein paar wunderbare Tage. Am folgenden Sonntag holte der Vater von Lubomirs bestem Freund sie mit dem Auto ab und sie machten sich gemeinsam auf den Rückweg. Ihr „Chauffeur“ hatte sich extra ein wenig Urlaub genommen und sie hatten Zeit für eine gemächliche Rückreise.
Doch das sollte nicht sein: Sie kamen nicht heil in Sofia an. Das Schicksal wollte es anders: Sie hatten unterwegs einen Autounfall. Und damit war unser Glück auf viele Jahre zu Ende.
Tatyana erzählt:
Der Anfang vom Nichts
Als mittags das Telefon klingelte, ahnte ich nichts Böses. Das sind entscheidende Momente im Leben, diese „Schaltstellen“, wenn so schreckliche Dinge passieren. Danach ist nichts mehr, wie es war und die alte Welt liegt für einen selbst in Trümmern.
Der Anrufer war Jerko, unser ältester Sohn. Er konnte kaum sprechen, so sehr weinte er, und ich fühlte, wie sich unter mir ein Abgrund öffnete. Stockend und nach vielen Unterbrechungen konnte ich schließlich nachvollziehen, was passiert war: Es hatte auf der Rückfahrt aus den Bergen einen Verkehrsunfall gegeben. Lubomirs bester Freund war tot, sein Vater, der Fahrer des Autos, verletzt, und Lubomir selbst lag im Koma. Die beiden anderen Freunde von Lubomir waren ebenfalls verletzt, aber nicht in Lebensgefahr. Ich war wie betäubt, aber die Kraft, die wir in solchen Momenten brauchen, kam zu mir und ich „funktionierte“. Mit der nächsten Maschine flog ich nach Sofia; Georgi sollte am nächsten Tag nachkommen.
In Bulgarien angekommen, stürzte ich mich in alles, was es zu organisieren galt: Im Krankenhaus sagte man mir, Lubomirs Diagnose liefe auf einen Hirntod hinaus; die Verbindung zwischen seinem Gehirn und seinem Körper war gebrochen. Aber wir gaben nicht auf und verlegten Lubomir in eine andere Klinik, weg von der Kleinstadt in der Nähe der Unfallstelle und nach Pleven, in die nächste große Kreisstadt, wo wir sicher waren, dass er die allerbeste Betreuung hatte. Doch es half nichts: Es blieb bei der Diagnose „Hirntod“, und Georgi und ich mussten uns der Situation stellen.
Georgi erzählt:
Schritte wie im Nebel
Ich kann mich noch an den Moment erinnern, als uns klar wurde, dass wir für Lubomir nichts mehr tun konnten, außer innerhalb der nächsten Zeit die Systeme abzuschalten, die ihn künstlich am Leben erhielten. Das war wie ein Sturz ins Nichts und wir fühlten eine große Verantwortung. Wer weiß schon, was das Leben ausmacht, was Körper und Seele nach so schweren Verletzungen noch fühlen und wie die Verbindungen wirklich sind? Aber wir trafen die Entscheidung auf der Basis dessen, was die Ärzte uns sagten und was wir zu wissen glaubten. Und wir gingen noch einen Schritt weiter: Wir spendeten alle Organe unseres jungen und gesunden Lubomir. Ihm konnten sie nicht mehr helfen, aber den Menschen, die dringend auf eine Organspende warteten, würden sie das Leben retten. Es war das erste Mal in Bulgarien, dass eine Familie überhaupt so etwas tat, und die Reaktionen darauf waren entsprechend kontrovers. Aber wir waren überzeugt davon, das Richtige zu tun. Rückblickend war das schon ein erster und wegweisender Schritt dafür, wie wir zukünftig mit unserem Leid umgehen würden und wie es uns langfristig gelingen würde, dem großen Nichts, das wir fühlten, zu entkommen. Aber davon hatten wir damals noch keine Ahnung.
Tatyana erzählt:
Rituale des Abschieds
Wir mussten weiterleben. Es war absurd, aber es gab doch viele Gründe, einfach weiterzumachen: Etwa unseren ältesten Sohn Jerko und seine Familie – wir hatten nämlich inzwischen auch schon unseren ersten Enkel bekommen. Und wir hatten uns beide. Aber dennoch war es schwer und wir sagten uns täglich mit aller Kraft, dass wir nicht aufgeben und in jedem Fall weiterleben würden – und zwar in Würde. Wir wussten noch nicht, wie das gehen sollte, aber irgendwoher nahmen wir beide die Energie, in der nächsten Zeit weiter zu machen und unseren Pflichten nachzukommen. Wir organisierten Lubomirs Begräbnis so, wie wir dachten, dass es in seinem Sinne wäre: Alle Mitglieder der Familie sprachen und wir ließen seine Musik bei der Trauerfeier laufen. Auch mit all seinen Freunden und Klassenkameraden aus der Schule in München gab es in Deutschland ein Abschiedsfest: Wir luden die ganze Klasse zu uns ein und jedes Kind, jeder junge Erwachsene, bekam eine CD mit Lubomirs Musik. Und die Klasse hatte bereits vor der Schule einen Rosenstrauch zum Andenken an Lubomir gepflanzt und jeder hatte noch einen persönlichen Brief für ihn verfasst. Diese ganze Zuneigung zu spüren, hat uns unglaublich geholfen. Zu einigen der jungen Leute haben wir lange den Kontakt gehalten und sie begleiten uns teilweise heute noch.
Georgi erzählt:
Die große Frage nach dem Sinn
Wir hatten uns tapfer geschlagen. Aber nach dem Abschiednehmen kam das große Nichts zurück – und noch viel schlimmer als vorher. Trotz unserer Vorsätze, auf jeden Fall mit unserem Leben in Würde fortzufahren, stellte sich uns immer wieder die Frage nach dem Sinn: Warum sollen wir überhaupt weiter machen? Was sollte das alles noch? Oft waren wir wie betäubt. Wir hatten auch wieder angefangen...