2 Vorurteile versus Forschungsstand
2.1 Zentrale Fakten im Überblick
Die meisten Menschen halten sich mutmaßlich für Individuen, die bewusst, rational und in einer freien Willensäußerung über Objekte, Personen oder Situationen entscheiden können. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen eine andere Sprache: Die Neurowissenschaftler zeigen, dass all unsere Entscheide letztlich von archaischen Teilen unseres Gehirns, dem limbischen System, determiniert werden; auch jene Entscheide und Bewertungen, welche in unser Bewusstsein dringen, werden für uns unbewusst im Vorfeld gesteuert. Ebenso gibt es keinen freien Willen – jedenfalls nicht in dem Sinn, dass wir in einer bestimmten Situation entgegen unserer genetischen und sozialen Prägung anders entscheiden könnten.
Auch die Psychologen haben – auf einer anderen Betrachtungsebene – einiges zur Entschlüsselung unseres Entscheidungsverhaltens beigetragen. Die Psychologen arbeiten mit »Konstrukten« wie Einstellungen, Motiven, Persönlichkeitsmerkmalen, die unser Verhalten und unsere Entscheide beeinflussen. Von Psychologen stammen z. B. Kenntnisse über »mentale Abkürzungen«: Dies sind genetisch geprägte und später durch unsere Erfahrung ergänzte »Wissensstrukturen« (Stereotype oder Heuristiken z. B.), die uns helfen, neue Situationen oder Personen gedanklich rasch einzuordnen und unbewusste Entscheide zu treffen. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass auch andere individuelle Fähigkeiten wie die klassische Intelligenz die Entscheidungsqualität fundamental beeinflussen. Wissenschaftlich erforscht und meist nicht allgemein bekannt bzw. anerkannt: Unser Entscheidungsverhalten ist maßgeblich von unseren Genen geprägt. Persönlichkeitsmerkmale, individuelle Fähigkeiten, Motivation etc. sind größtenteils vererbt.
Neben den Faktoren, die unserer Persönlichkeit selbst entspringen, gibt es weitere Aspekte. Vorhandene Informationen sowie Bildung und entsprechend der Wissensstand eines Menschendeterminiert wesentlich die Qualität eines Entscheides. Auch die Ausstattung an Ressourcen und die eigene Machtposition spielen eine Rolle. Wer über finanzielle Ressourcen verfügt, kann andere, z. B. riskantere, Entscheide treffen. Wer über Machtpositionen verfügt, kann ebenfalls an Alternativen anders herangehen und entscheiden. Unsere Entscheide werden schließlich fundamental durch Einflussnahme von »außen« geprägt: Werbung, Lobbyismus, Medienberichte u. a. bestimmen uns mehr als wir denken. Auch hier scheint unser Selbstbild weit entfernt von der Realität. Abbildung 3 zeigt die Einflussfaktoren im Überblick.
Abb. 3: Was unsere Entscheide beeinflusst
Der Aspekt Einflussnahme von außen führt zu einem weiteren wichtigen Themenkreis: Viele Entscheide kommen erst im Zusammenwirken von mehreren Personen zustande. Gruppenentscheide oder Verhandlungen gehören u. a. dazu. Kooperative Gruppenentscheide und nichtkooperative Entscheide sind in den Wissenschaften der Ökonomie, Politologie, Soziologie und Sozialpsychologie sehr gut erforscht. Ein wichtiges Instrumentarium, um speziell strategische Interaktion zu untersuchen, ist die Spieltheorie. Die Sozialpsychologie behandelt z. B. Konzepte wie Gruppendruck, Konformität etc. Machttheorien zeigen die Bedeutung der Ressourcenausstattung für Entscheide auf.
Mehrere Wissenschaftsdisziplinen haben sich mit der Erforschung des Entscheidungsverhaltens befasst und tun es weiterhin. Vor allem kann man die Ökonomie, die Psychologie und die »Neurowissenschaften« nennen. Darunter gibt es wiederum verschiedene Teilbereiche, wie z. B. Sozial- oder Evolutionspsychologie innerhalb der Psychologie. Die Neurowissenschaft ist von vornherein interdisziplinär aufgestellt. Die Neurowissenschaften (Neuroscience) sind eine jüngere interdisziplinäre Wissenschaftsdisziplin, die alle Untersuchungen über die Struktur und Funktion von Nervensystemen zusammenfasst und integrativ interpretiert. Oft wird im deutschen Sprachraum der Plural des Wortes benutzt, um die Forschungsbereiche zu kennzeichnen, die Aufbau und Funktion von Nervensystemen untersuchen. Sie vereinigt verschiedene biologische, medizinische und psychologische Disziplinen, unter ihnen z. B. die Molekularbiologie, die Evolutionsbiologie, die Neurophysiologie, die Anatomie, die Neurologie, die kognitive Neuropsychologie etc. Durch sogenannte bildgebende Verfahren wurden die Neurowissenschaften in jüngerer Vergangenheit äußerst populär, da diese erstmals ermöglichen, Gehirnaktivitäten bei Reizstimulierung konkret zu lokalisieren und sichtbar zu machen. Die Richtungen der Neurowissenschaft, die sich insbesondere mit der Untersuchung vom Aufbau und Leistungen des Gehirns von Primaten auseinandersetzen, werden oft als Hirn- oder Gehirnforschung bezeichnet.
Die Neuroökonomie (Neuroeconomics) ist ein häufig verwendeter Sammelbegriff für eine Wissenschaft, bei der Ökonomen, Neurowissenschaftler und Psychologen ihre jeweiligen Erkenntnisse untereinander austauschen und zu verbinden versuchen. Die Neuroökonomie nutzt die Möglichkeiten der Neurowissenschaft, um vor allem Antworten auf die Frage zu erhalten, wie Menschen Entscheidungen treffen. Weiterhin versucht sie, neuronale Prozesse innerhalb unseres Gehirns, die für die Wahl einer bestimmten Option bzw. für die finale Entscheidung verantwortlich sind, zu identifizieren und zu erklären. Dahinter steht auch die Absicht, die Lücke zwischen den Referenzmodellen des Homo oeconomicus und des Homo vivens zu schließen. Eine zentrale Schwachstelle enger ökonomischer Betrachtungsweisen ist das Ausblenden der Emotionen. Um die Bedeutung der Emotionen zu vergegenwärtigen, stehen der Neurowissenschaft die bereits erwähnten bildgebenden Verfahren zur Verfügung. Mit ihnen konnte z. B. empirisch nachgewiesen werden, dass es fundamentale Unterschiede in der Entscheidungsfindung zwischen Menschen, die Emotionen verwerten können und Menschen, deren Gehirn die Emotionen aufgrund der Beschädigung emotionaler Zentren nicht nutzen können, gibt. Die Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen ergänzen sich. Sie setzen – vereinfacht gesprochen – auf verschiedenen Ebenen an ( Abb. 4).
Abb. 4: Erkenntnisebenen
Die Ökonomen postulieren, dass der Mensch seinen Nutzen maximiert und eine entsprechende Präferenzordnung hat. Wie diese genau zustande kommt, wie sie im Detail aussieht, ist dort nicht Gegenstand. Aber allein mit diesem Konzept kann man schon viele Aspekte des Entscheidungsverhaltens speziell in der Wirtschaft analysieren und testen. Zentrale wirtschaftliche Entscheidungskriterien wie Kapitalwert, Renditeziele oder adäquate Risikomaße lassen sich damit herleiten. Die Psychologie erklärt Motivationen und Emotionen, sie legt dar, wie Präferenzen entstehen, sie liefert weiter die Erkenntnisse über kognitive Verzerrungen und beantwortet die Frage, warum letztlich »irrationale« Entscheide zustande kommen. Die Neurowissenschaften gehen, wenn man so will, tiefer und zeigen auf Ebene von Nervenzellen, Neurotransmittern etc. wie unser Gehirn agiert und letztlich die psychologischen Konstrukte Motivation, Emotion, Sympathie etc. »in Szene setzt«.
2.2 Wir denken nur, dass uns der Verstand leitet
Selbst ein scheinbar so einfacher Akt wie das Sehen, belehrte mich Crick in seinem forschen Britisch, erfordere einen gewaltigen Aufwand an neuronaler Aktivität. »Das Gleiche gilt für Bewegungen, etwa das Aufheben eines Kugelschreibers«, fuhr er fort, während er einen Kugelschreiber von seinem Schreibtisch hob und vor mir ›hin- und her schwenkte‹. Eine Menge Rechenarbeit ist erforderlich, bevor Sie diese Bewegung ausführen können. Der Entschluss ist Ihnen bewusst, nicht bewusst dagegen ist Ihnen die Art und Weise, wie dieser Entschluss zustande kommt. Was Ihnen als ein freier Willensentschluss erscheint, ist in Wirklichkeit das Ergebnis von Vorgängen, die Ihnen nicht bewusst sind.
Der Publizist John Horgan im Gespräch mit Francis Crick
Bewusstsein, Unbewusstes, Intuition u. a.
Die vorherrschende Meinung über unser Entscheidungsverhalten der breiten Öffentlichkeit ist wohl diese: Zumindest bei »sachlichen« Entscheidungen wägen wir rational Vor- und Nachteile ab und wählen dann die Alternative, die der Verstand für uns am besten erachtet. Emotionen werden als störend angesehen, um zum »besten« Entscheid zu gelangen. Es wird auch davon ausgegangen, dass wichtige Entscheide z. B. von Politikern, Managern tendenziell auf dieser Basis getroffen werden....