Einleitung
Mein Weg zum Wasser
Das Prinzip aller Dinge ist das Wasser, denn Wasser ist alles, und ins Wasser kehrt alles zurück.
Thales von Milet
Aufgewachsen bin ich im »Kneippland Unterallgäu« und habe, wenn man so sagen möchte, die Kneipp’sche Lehre schon mit der Muttermilch aufgesogen. Denn der Name »Kneipp« spielte in unserer Gegend immer eine wichtige Rolle, die Zeitungen waren voll mit Berichten aus Bad Wörishofen, und regelmäßig hörte man von berühmten Persönlichkeiten, die dort zur Kur anreisten. Hinzu kommt, dass mein Großvater als Landarzt im Unterallgäu tätig war und meine Mutter und meine Tante ihn bei der täglichen Sprechstunde unterstützten, sodass ich sehr früh mit medizinischen Dingen in Berührung kam. Mein Großvater war ein eingefleischter Kneippanhänger und machte zusammen mit meiner Großmutter selbst jedes Jahr eine Kur in Bad Wörishofen oder einem anderen Kneippkurort in der Umgebung. In seinem Sprechzimmer hing ein großes Bild vom »Wasserdoktor«, weswegen ich als Kind immer glaubte, Ärzte und Wasser seien untrennbar miteinander verbunden.
In unserer Kindheit bekamen wir natürlich bei Bedarf auch Anwendungen aus dem Kneipprepertoire. Bei Fieber gab es Wadenwickel, Brustwickel bei Husten und Bronchitis, und im Garten konnten wir Tau und Schnee treten, was uns Kindern immer besonders viel Spaß bereitete. Vermutlich nach einem Keuchhusten, der mich sehr geschwächt hatte, wurde ich eines Tages zu einer Tante in die Niederlande verschickt. Diese lebte an der Küste in der Nähe von Rotterdam, wo ich die heilklimatischen Bedingungen der Nordsee kennenlernte. Bei Wind und Wetter ging meine Tante mit mir zum Strand. Bekleidet war ich wie die einheimischen Kinder mit kurzen Hosen und einem warmen Wollpullover. Anfangs fror ich noch und mochte eigentlich nicht nach draußen, aber nach einiger Zeit machte mir das Reizklima nichts mehr aus, und ich wollte abends gar nicht mehr nach Hause. Ein paar Wochen später war der Husten völlig verschwunden, ich war gekräftigt und hatte wieder an Gewicht zugelegt, was sicher nicht unbedingt am niederländischen Essen lag.
Zu der Zeit fielen auch oft Begriffe wie »Abhärtung« oder »Verweichlichung«, und einige Bewohner aus meinem Heimatdorf, darunter meine Mutter, gingen bis in den Herbst hinein zum Schwimmen in die nahe gelegenen Seen und Weiher, und einige Verwegene schlugen sogar im Winter Löcher ins Eis, um sich dann dem extremen Kaltreiz des Eisbadens auszusetzen. Kaltes Wasser war also etwas für die »Harten« und durchwegs positiv besetzt. Wenn man trotzdem mal eine Erkältung bekam, dann verordnete man oft Dampfbäder mit verschiedenen Kräutern, darunter häufig Kamille oder Spitzwegerich zur Entzündungshemmung und Schleimlösung. Bei Halsentzündungen gurgelten wir zusätzlich mit Salzwasser, was für uns Kinder schon eine große Überwindung bedeutete.
Eines Tages sollte auf dem Nachbargrundstück meiner Eltern nach Wasser gebohrt werden. Der Besitzer hatte viele Pflanzen zu bewässern und wollte daher einen Brunnen anlegen. Hierfür hatte er eine Mannschaft engagiert, die sonst in unserer Gegend auf der Suche nach »schwarzem Gold«, also Erdöl, war. Diese Männer rückten mit ihren riesigen Geräten an und begannen zu bohren. Immer und immer wieder senkte sich der Bohrkopf in die Erde, aber nichts passierte. Weder Wasser noch Erdöl sprudelten an die Oberfläche. Mittlerweile hatte sich eine ansehnliche Gruppe an Schaulustigen um die Bohrstelle gruppiert und gab zahlreiche mehr oder weniger hilfreiche Kommentare ab.
Einer sagte dann schließlich, man müsse »den Toni« mit seiner Rute holen, dann würde es schon funktionieren. Etwa fünfzehn Minuten später kam »der Toni« dann angeradelt. Er hatte eine sogenannte Wünschelrute dabei und lief damit über das Grundstück, kreuz und quer und immer wieder, aber nichts geschah. Irgendwann sagte er: »Das könnt ihr vergessen, da ist kein Wasser«, und radelte davon. Es folgte ein allgemeines Schulterzucken, und dann gingen alle nach Hause, einschließlich des Bohrtrupps.
Wenn der bekannteste Wünschelrutengänger der Gegend sagte, es gäbe kein Wasser an einer bestimmten Stelle, dann war das Gesetz. Jahre später stellte sich bei Baggerarbeiten heraus, dass hier meterdicke Lehmschichten vorhanden waren, die kein Grundwasser durchließen. »Der Toni« hatte also recht gehabt.
Es folgten dann die Jahre bis zum Abitur, und in dieser Phase spielte Wasser als Heilmedium eher eine untergeordnete Rolle in meinem Leben. Erst im Rahmen des Zivildienstes, den ich im nahe gelegenen Kreiskrankenhaus absolvierte, kam ich wieder mit Wasser als Heilmittel in Berührung. Häufig verlegte man die Patienten nach erfolgreicher Operation oder Akutbehandlung ins benachbarte Bad Wörishofen zur Rehabilitationsbehandlung, oder das Kreiskrankenhaus nahm akut erkrankte Patienten aus dem Kurort auf. Hier sah ich auch zum ersten Mal, welche Folgen es haben kann, wenn ältere Menschen zu wenig trinken – wenn sie sozusagen »austrocknen«.
Das anschließende Medizinstudium in Würzburg war insgesamt sehr naturwissenschaftlich ausgerichtet. In dieser Zeit erwarb ich die wichtige Basis für meine spätere ärztliche Tätigkeit: Anatomie, Physiologie, selbstverständlich inklusive Nierenfunktion und Wasserhaushalt des Menschen. Während des Studiums blieb also wenig Raum für naturheilkundliche Ansätze, lediglich im Rahmen einer Exkursion besuchten wir einmal die dort ansässigen Kneippwerke. In der Psychiatrie begegnete ich Patienten mit Waschzwang, in der Kardiologie sah ich Patienten mit Herzschwäche und Wassereinlagerungen, und in der Rechtsmedizin gab es Wasserleichen. Die Heilkräfte des Wassers kamen aber so gut wie nicht vor.
Nach dem Studium ging ich zurück ins Allgäu und begann meine Assistentenzeit an einer Allgäuer Klinik. Es war eine sehr arbeitsintensive Zeit, und etwas wie die Wassertherapie kam höchstens als Hebe-senk-Einlauf bei Darmträgheit vor. Erst der Anruf eines Kollegen, der mich fragte, ob ich mich nicht in Richtung Allgemeinmedizin orientieren möchte, brachte mich wieder näher ans Wasser. Die Idee einer allgemeinärztlichen naturheilkundlichen Schwerpunktpraxis begeisterte mich, und so ging ich erst einmal nach Bad Wörishofen und widmete mich dort unter anderem im bekannten Kneippianum intensiv den Naturheilverfahren.
Mit viel Theorie und etwas Handwerkszeug ausgestattet, ging es nun in die Praxis. Dort konnte ich vieles von dem Erlernten umsetzen, und die Menschen waren meist sehr aufgeschlossen und dankbar für die Tipps und Anleitungen zur Selbsthilfe.
Nach drei Jahren Praxisassistenz brauchte ich noch einmal neue Impulse und ging nach Marburg, um an der dortigen Uniklinik zu forschen und zu promovieren. Obwohl ich an einem chirurgischen Thema arbeitete, hörte ich aus Interesse Vorlesungen im Sonderforschungsbereich »Adaptation und Rehabilitation«, der seinerzeit von Professor Gunther Hildebrandt (1924–1999) gegründet wurde. Hier erfuhr ich viel über biologische Rhythmen im menschlichen Körper, über Reiz-Reaktions-Analyse und die Anpassungsfähigkeit biologischer Systeme.
Nach Beendigung meines Forschungsprojekts und Fertigstellung der Promotionsarbeit begab ich mich in die Ausbildung zum Chirotherapeuten und lernte dabei einen interessanten Menschen kennen, mit dem ich bis heute beruflich verbunden bin. Sein Name ist Gustav Dobos, und er hatte die Vision, Europas größte Naturheilklinik zu eröffnen. Er nahm mich in sein Projektteam auf, und wir machten uns an die Arbeit. Nach knapp einem Jahr war es dann so weit, das 240-Betten-Haus wurde feierlich im ehemaligen Osten Deutschlands in Bad Elster eröffnet.
Die Zeit dort war ein einziges Feuerwerk an Erfahrung und Erkenntniszugewinn. Kollegen und Mitarbeiter aus der ganzen Republik sowie erfahrene Kollegen aus dem Umland kamen an diesem Ort zusammen und entwickelten ein Therapiekonzept, das bis heute erfolgreich ist. Hier lernte ich unter anderem ortsständige Heilmittel in Form von verschiedenen Heilquellen kennen. Die Moritzquelle etwa hatte den Ruf, bei unerfülltem Kinderwunsch besonders hilfreich zu sein; und so begaben sich junge Frauen aus ganz Deutschland nach Bad Elster, um eine Trinkkur mit dem Wasser dieses Borns durchzuführen. Tatsächlich gab es wohl zu DDR-Zeiten häufig Erfolge in Hinblick auf den Kinderwunsch – ob dies allerdings an der Mineralquelle oder eher am benachbarten Bergarbeitererholungsheim lag, konnte nie abschließend geklärt werden. Die berühmte Moritzquelle, im Volksmund auch »Bubiquelle« genannt, wurde bei unerfülltem Kinderwunsch aber wohl schon immer richtig eingeschätzt. Auf einer alten Postkarte steht zum Beispiel der Spruch: »Und klappt’s nicht mit der Bubiquelle, so schafft’s bestimmt die Kurkapelle …«
Das erfolgreiche Konzept und die gute Arbeit machten uns über Bad Elster hinaus bekannt, und eines Tages reiste eine Delegation medizinischer Fachleute aus Essen an, um uns näher kennenzulernen. Später entwickelte sich daraus unsere heutige Abteilung an den Kliniken Essen-Mitte. Hier konnten wir nun die gesammelten Erfahrungen zusammenführen und im Konzept der sogenannten Integrativen Medizin im Rahmen einer »Modellklinik des Landes Nordrhein-Westfalen« perfektionieren. Zusammen mit der Universität Duisburg-Essen realisierten wir zahlreiche Forschungsvorhaben, und diesen Zugewinn an Wissen konnten wir unmittelbar in die tägliche Arbeit integrieren. Im Rahmen der universitären Lehre wird dieses Wissen auch an Medizinstudenten weitervermittelt. Wir konnten zusammen mit Kollegen aus China und Indien die jeweiligen Medizinsysteme TCM (Traditionelle Chinesische...