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UNSER ERSTER FINNMARK-LAUF
Wir hatten einen Plan, einen ambitionierten Plan: Ich sollte in drei aufeinanderfolgenden Jahren am Finnmark-Lauf über 1000 Kilometer teilnehmen, mich von Jahr zu Jahr steigern und im letzten Jahr ganz vorne an der Spitze mitlaufen.
Mit etwa hundertdreißig Teilnehmern und über tausend Hunden am Start ist der Finnmark-Lauf das Langstreckenrennen mit dem größten Prestige in Norwegen. 2015 erhielt er sogar den Status einer Weltmeisterschaft, was die Konkurrenz noch einmal verschärfte.
Auf den Lauf hatten wir uns mehrere Jahre lang vorbereitet und an Langstreckenrennen im ganzen Land teilgenommen. Dazu gehörte auch der Femund-Lauf, der seit 2010 für uns das wichtigste Rennen der Saison war. Er ist in mehrfacher Hinsicht anstrengend, denn es geht viel bergauf und bergab, die Spur ist schwierig und es herrschen oft eisige Temperaturen. Doch der Finnmark-Lauf nimmt eine Sonderstellung unter den Langstreckenrennen ein: Er ist nicht nur das längste und härteste Rennen Europas, er führt auch durch eines der schönsten und wildesten Gebiete des Landes, die Hochebene ganz im Norden Norwegens. Es gibt drei Klassen: die Juniorklasse, die 500-Kilometer-Klasse und die längste Distanz über 1000 Kilometer. Hier darf man mit bis zu vierzehn Hunden starten.
Bei meinem Debüt an jenem windigen Tag im März 2015 war es schon ein kleiner Sieg, überhaupt an den Start gekommen zu sein und die Menschenmenge zu erleben, die uns im Zentrum von Alta zujubelte. Ein enormes Trainingspensum von mehreren Hundert Stunden und über 5 000 Kilometern sowie viel Zeit für Planung und Logistik lagen hinter uns. Jetzt galt es nach vorne zu blicken.
Am Start herrschte Hochspannung. Alle sprachen vom Wetter und dem vorhergesagten Wind. Unsere Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Ich wusste, dass wir im Vorfeld einen soliden Trainingsplan verfolgt hatten. Auf die Herausforderungen, die mich und die Hunde erwarteten, hatten wir uns gut vorbereitet. Und dennoch war ich unruhig. Würde ich es schaffen, mich auf einem Schlitten mit vierzehn gut trainierten Hunden im Gespann zu halten? Würde ich mit Wind, Kälte und schlaflosen Nächten zurechtkommen? Würden die Hunde die vielen langen Etappen schaffen? War Gøy, meine Leithündin, stark genug, die ganze Strecke durchzuhalten?
In mir rangen Zweifel und Zuversicht miteinander. Ich schluckte ständig Schmerzmittel. Die gesamte linke Seite meines Oberkörpers tat weh, eine Folge von Überanstrengung. Begonnen hatte das vor ein paar Jahren, als ich mir die rechte Hand mit einem Messer verletzt und mir deshalb Fehlhaltungen angewöhnt hatte. Gelegentlich waren die Schmerzen so schlimm, dass ich zu Hause in Valdres jammernd auf dem Boden herumkroch. Ich hatte alle möglichen Behandlungsmethoden ausprobiert. Die Ärzte waren der Meinung, ich solle lieber keine Hundeschlittenrennen fahren und schon gar nicht am längsten dieser Rennen teilnehmen. Doch meinen Traum aufzugeben kam überhaupt nicht infrage.
Auf der Startlinie standen vierzehn ungeduldige Hunde, die genauso aufgeregt waren wie die Zuschauer. Da ich nur eine kleine Hundezucht betreibe und gerade mal fünfzehn Hunde im Training hatte, war die Auswahl nicht schwergefallen. Gøy, die älteste und erfahrenste im Gespann, lief mit ihrem Sohn Peak zusammen ganz vorne. Darauf folgten die beiden ruhigen, fünf Jahre alten Schwestern Is und Føyke. Føykes gesamter Wurf, fünf Geschwister von etwas über drei Jahren, waren auch dabei: Safety, Gypsy, Sjaman, Nanuk und Buddha. Die fünf Dreijährigen stürmten mit hochgereckten Schwänzen und begeistertem Gekläff vorwärts. Mose und Skare waren mit zwei Jahren die jüngsten Hündinnen im Gespann. Mose hatte ich im letzten Sommer als Junghund ausgeliehen. Dafür sollte ich sie trainieren und ihr zu einer guten Lauferfahrung im Finnmark-Lauf verhelfen. Ganz hinten sorgte Kimbo, ein Krawallmacher, der eigentlich nie Ruhe gibt, zusammen mit Spirit und dessen Kumpel Cabelas für Stimmung. Die beiden letztgenannten hatten schon immer eine ganz besondere Beziehung zueinander. Ihr ganzes Leben lang haben sie sich eine Hütte geteilt und sie arbeiten gut im Team zusammen.
Dieser Finnmark-Lauf war für uns alle eine Premiere. Unser Rennplan sah deshalb viele Ruhepausen vor. Hauptsache, wir standen das Rennen bis zum Ende durch und konnten dabei so viel Erfahrung wie möglich sammeln. Letzteres galt für die Hunde ebenso wie für mich und mein Team.
Die ersten Etappen von Alta nach Jotka und weiter nach Skoganvarre und Levajok verliefen gut. Auf diesem ersten Stück waren wir alle Gewinner und voller Energie. Es konnte noch alles passieren. Als es dunkel wurde, tanzten Nordlichter über uns, leuchtend und verspielt, als wollten sie uns auf der Vidda willkommen heißen. Die Hunde stürmten nur so voran. Sowohl vor als auch hinter mir sah ich eine lange Reihe von Stirnlampen. Das Gefühl von Freiheit wurde immer stärker: Jetzt leben wir unseren Traum, dachte ich dankbar.
Doch auf der langen Etappe von Levajok nach Tana bru, etwa 300 Kilometer nach dem Start, verwandelte sich das magische Licht plötzlich in klaustrophobische Dunkelheit. Die Eintönigkeit und die Schmerzen brachten mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Es herrschte eine finstere, bedrückende Atmosphäre, als würde nichts um mich herum mir etwas Gutes wünschen. Normalerweise liebe ich es, mit den Hunden allein im Gebirge unterwegs zu sein, doch jetzt bemühte ich mich verzweifelt, Kontakt mit meiner Umwelt aufzunehmen. Ich spielte mit dem Telefon und versuchte, jemanden anzurufen, hatte jedoch auf den kahlen, weißen Höhen keinen Empfang. Die Fahrt war lang und monoton. Die Dunkelheit überflutete mich mit einem Gefühl von Verlassenheit, das mich beinahe zu ersticken drohte. Mir kam es vor, als sei ich der einzige Mensch auf der Welt. Zugleich war es eine intensive, überwältigende Begegnung mit der Unendlichkeit. Die karge, nie enden wollende Vidda. Kein Licht, keine Hütte, nur Einsamkeit.
Es war ein gutes Gefühl, mit dem Checkpoint Tana bru wieder die Zivilisation zu erreichen. In diesem Ort wohnen nicht viele Menschen, vielleicht etwas über 700, aber die wissen, wie man Stimmung macht, wenn die Hundeschlittenführer kommen – mit Wintermarkt, Festival und jeder Menge Spaß.
Auf dem Gelände des Checkpoints bekamen die Hundegespanne nebeneinander einen Platz zum Ausruhen zugewiesen. Schnell holte ich ein Bündel Stroh, das an den Checkpoints immer vorrätig ist. Ich verteilte es am Boden, damit die Hunde trocken und warm schlafen konnten. Danach holte ich die Säcke mit dem Hundefutter aus dem Depot, die mit einem Kühlwagen vorausgeschickt worden waren. Vor dem Rennen werden viele Tonnen Futter in Säcke verpackt und mit dem Namen des Mushers versehen: Fleisch, Fisch, Öl, Trockenfutter und ein paar besondere Leckereien, die die Musher bei der Verpflegung ihrer Hunde einsetzen und über die sie strengstes Stillschweigen bewahren. Zum größten Teil enthalten die Säcke Fleisch und Trockenfutter, das auch im Alltag verwendet wird, es ist jedoch wichtig, auch noch etwas einzupacken, was für Abwechslung sorgt, falls die Hunde das Futter leid werden. Manche Musher nehmen sogar Biberfleisch mit – darauf sind die Hunde ganz wild. Andere haben Koteletts, Dosenfutter, gekochte Eier oder Makrelen in Tomatensoße dabei. Selbst Katzenfutter kommt bei einigen in die Depotsäcke. Es wird als Geschmacksverstärker über das Futter gestreut, denn viele Hunde mögen es gerne.
Während sich die Hunde ausruhten, suchte ich den Schlafsaal auf, der für uns Fahrer eingerichtet worden war. Hier gab es genügend Platz, weil sich viele Fahrer eigene Hütten gemietet hatten und ein paar auch in Wohnmobilen schliefen. Ich schaffte es, mich auf einer Matratze am Boden zumindest eine Stunde auszuruhen. Es tat gut, den Kopf auf ein Kissen zu legen, obwohl die Nervenschmerzen im Oberkörper mich so heftig quälten, dass ich unruhig wach lag.
Die Fahrt nach der Pause in Tana bru war exakt das Gegenteil von dem, wie es am Abend zuvor gelaufen war. Ich fuhr im Morgengrauen los, in der Stunde, wenn die Nacht den neuen Tag trifft. Diese Stunden auf dem Schlitten vor Sonnenaufgang sind ganz besonders. Während der Rest der Welt schläft, fahren wir dem Licht entgegen.
Zwischen Tana bru und Neiden war die Stimmung gelöst und gut. Wir kamen an zwei Elchen vorbei, die uns aus einem Birkengestrüpp beobachteten, und über uns flog ein Rabenpaar. Ich tanzte auf dem Schlitten und sang für die Hunde. Wir waren stark, wir waren frei, nichts konnte uns aufhalten.
Als die Sonne aufging, wurde es warm. Die Landschaft war hügelig, aber wesentlich flacher, als wir es von Valdres gewohnt waren. Ich bremste immer noch, nicht stark, aber genug, um die Fahrt in einem moderaten Tempo zu halten. Voller Galopp ist bei einem so langen Rennen von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Hier geht es darum, einen Rhythmus und eine energieeffiziente Gangart zu finden. Um nicht zu schnell zu werden, schärfte ich mir immer wieder ein, wie unendlich lang dieses Rennen war, doch erst auf den nächsten Etappen wurden mir die enormen Entfernungen wirklich bewusst. Vom nächsten Checkpoint trennten uns ungefähr hundert Kilometer. Es fühlte sich an, als würden wir nie ankommen. Erst auf den letzten Kilometern vor Neiden sahen wir ein anderes Gespann vor uns. Die Hunde rochen die Konkurrenten und den Checkpoint und wussten, dass dort Futter auf sie wartete. Auf dem letzten Stück wollten sie Vollgas geben, doch ich hielt sie zurück. Um für bestmögliche Regeneration zu sorgen, sollte man den Pausenpunkt langsam anfahren.
Neiden ist ein kleiner Ort in der Gemeinde Sør-Varanger. Der Checkpoint selbst liegt außerhalb, bei einer Berghütte direkt am Fluss Neiden. Dieser...