Einführung.
Als unbekannter Autor fühle ich mich verpflichtet meinem eventuellen Leser zu begründen, warum ich es wage „Eine Mentalgeschichte des Menschen“ zu schreiben, diese von „Kulturgeschichten“ abgrenze und ein Schisma erkenne zwischen dem christlichen Abendland und dem Rest der Welt. Ein erster Grund waren Erfahrungen und Erlebnisse als Entwicklungshelfer in Afrika: Mehrere Jahre durfte ich an der Universität von Butare in Ruanda junge Ärzte ausbilden und Land und Leute kennen lernen. Wer in Afrika als Entwicklungshelfer auftaucht will mithelfen „Rückständigkeit“ zu beheben. „Rückständigkeit“ aber ist ein belasteter Begriff. Er moralisiert und wertet. Die Menschen in Ruanda sind arm, leben auf ihren Hügeln von ihrer kleinen Landwirtschaft und sind mit der Aufarbeitung einer Spaltung der Gesellschaft durch einen Genozid als kolonialem Erbe beschäftigt. Diese Menschen sind vielleicht ökonomisch noch nicht konkurrenzfähig, aber „rückständig“ sind sie nicht. Sie haben andere Prioritäten. Wo wir im Westen planen und spekulieren, mit Wissen argumentieren, Fortschritt und Wachstum fordern und die Zeit zum Kostenfaktor erklären, ist man in der ruandischen Gesellschaft geduldig. Wichtig ist, was jetzt geschieht. Man setzt auf Spontaneität und Improvisation. „On se débrouille“. Die Menschen gestikulieren, argumentieren gefühlsbetont und suchen mehr das Gegenüber als dessen Überzeugung. „Riez sainement, toujours sérieux n`est pas sérieux“ ist eine afrikanische Weisheit. Die in Ruanda erlebte Spontaneität und Improvisationslust, ihre Fähigkeit trotz Not und erlebter Geschichte das Lachen nicht zu verlieren, sind zutiefst menschliche Werte. Sie machen das Leben menschlich und liebenswert. Eine solche Gesellschaft als „rückständig“ oder „entwicklungsbedürftig“ einzuschätzen ist gemessen an ihren menschlichen Qualitäten eine unzulässige Beleidigung. Als Entwicklungshelfer kam ich ins Land und wollte Lehren. Als Lernender habe ich das Land verlassen.
Nach den Jahren in der Entwicklungshilfe und beruflicher Entpflichtung werden schließlich unsere Enkelkinder zum Mittelpunkt meines Lebens. Was ich durch berufliches Engagement und Streben mit meinen Kindern verpasste durfte ich mit unseren Enkelkindern Tim, Emile und Lisette erleben. Tims Erlebnisse, Träume und Gedanken in der Pubertät und anschließender Adoleszenz frischten eigene Erinnerungen an diese Jahre auf. Zu einer neuen Beobachtung aber wird die frühe Kindheit von Emile und Lisette, zumal die physiologische Amnesie eigene Erinnerungen an diese Zeit verhindert. Jeder ihrer neuen Lernschritte wird von Gefühlen begleitet: Sie freuen sich, wenn das Vorhaben klappt und sind traurig wenn nicht. Kindheit ist die dichteste, aber nicht von Wissen, sondern von Gefühlen begleitete Lernzeit des Menschen. Aufrechtes Gehen, Greifen, Sprechen, Schreiben, Denken und soziales Zusammenleben wird in der Kindheit im überschaubaren Milieu von Familie, von Freunden und Nachbarschaft gelernt und Gefühle lenken das Lernen.
Kindheit, dann Pubertät und Adoleszenz sind Perioden einer menschlichen Entwicklung, die auf ein unter-schiedliches mentales Erbe zurückgreifen. Von Gefühlen begleitetes Lernen bestimmt die Kindheit, von Gedanken gelenktes Streben die Pubertät und die Adoleszenz. Ich begann mich zu fragen: Sind die ersten dreißig Jahre der geistig seelischen- oder mentalen Entwicklung des Menschen eine Wiederholung seiner mentalen Evolution? Wie sind Gefühl und Geist des Menschen in der mentalen Evolution entstanden? Wie bedeutsam ist ihr Zusammenspiel für das menschliche Verhalten und für menschliche Geschichte? Wenn ein doppeltes mentales Erbe, wenn emotionale- und kognitive Intelligenz gemeinsam das menschliche Verhalten und sogar die menschliche Geschichte bestimmen, wie kann dann erklärt werden, warum in unserem westlichen- oder christlich geprägten Kulturkreis Gefühlen eine viel geringere Bedeutung zugemessen wird als dem Denken und dem rationalen Verstand. Wo wir ganz überwiegend Ideen und Wissen betonen pflegt man in anderen Regionen unserer Erde und auch in unserer Kindheit das von Gefühlen geprägte Miteinander als ein wichtiges mentales Erbteil. Ich suche Erklärungen.
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Dieses Buch will dazu aufrufen den Menschen als ein Produkt der belebten Evolution zu begreifen und eine menschliche Mentalität aus Gefühlen und Verstand als ein von der biologischen Evolution entworfenes Geschenk zu erkennen. Wer mit den Sinnen wahr-nimmt und Gefühle entwickelt macht das Umfeld zum Mittelpunkt seines Erlebens. Er wird von einer blühenden Wiese oder einem singenden Vogel verzaubert, wird von seinen Kopf-schmerzen beherrscht oder fühlt sich von Gefahren bedroht. Gefühle erfahren wir und weil wir sie auch in Anderen erkennen, werden diese für uns zu glücklichen- oder leidenden-, zu sympathischen- oder traurigen-, zu geliebten und manchmal auch zu gehassten Menschen. Über seine Gefühle erst wird der Mitmensch zum Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Dies ändert sich wenn wir nachdenklich werden. Wir suchen nach Erklärungen, entwickeln Wünsche und beginnen zu planen. Wir ziehen uns in eine gedankliche Innenwelt zurück und entfernen uns aus einer Welt des zugehörenden Erfahrens in eine Innenwelt des Denkens, des Analysierens, des Alleinseins. Für ein gelingendes Miteinander brauchen wir Gefühle und Verstand: Treffen wir Fremde oder Fremdes so reagieren wir oft emotional und sind verunsichert, denken dann nach und finden keine Erklärung. Eine gedankliche Korrektur erst wird die Verunsicherung überwinden. Dann wieder werten wir Andere wegen ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer nationalen- oder religiösen Zugehörigkeit. Halt ruft dann eine innere Stimme oder Emotion und widerspricht. Im ersten Beispiel hat der Verstand eine unsinnige Emotion korrigiert. Im zweiten Beispiel korrigiert eine emotionale Erregung eine gedankliche Verirrung. Gefühle und Verstand, emotionale- und kognitive Intelligenz sind in uns jene Opponenten, die zusammen das menschliche Verhalten lenken.
In Wirklichkeit lenken viele Eigenschaften das menschliche Verhalten. Wer nur eine Eigenschaft oder eine Idee zur Charakterisierung des Menschen missbraucht macht aus dem Menschen ein Produkt der Spekulation und sich selbst zum Ideologen. Wer im Menschen nur ein egoistisches Wesen oder einen „homo homini lupus“1 sieht, wird aus dem Menschen eine Bestie machen. Wer beschreibt, dass „Selbstlosigkeit in der Evolution siegt“2, aus dem Menschen einen „homo empathicus“ macht und die „empathische Zivilisation“ besingt, wird eine „Geschichte, die nie erzählt wurde“3 erzählen. Auch diese Geschichte konnte nicht stimmig sein, weil Empathie zwar eine wichtige Eigenschaft des Menschen, aber nicht die allein ihn charakterisierende Eigenschaft ist. Der Mensch ist altruistisch und egoistisch und wird von vielen Eigenschaften gelenkt. Menschliche Geschichte wird zum Objekt von Spekulation und Interpretation wenn ein Gedanke oder eine Vorstellung deren Analyse leitet. Natur und Geschichte werden zu einem religiösen-, zu einem philosophischen-, zu einem „reflexiven Produkt“4. Für den sich an der biblischen Schöpfungsgeschichte orientierenden Christen beginnt dann die Menschheitsgeschichte vor 6000 Jahren. Wer allein in menschlichem Verstand und in menschlicher Rationalität den Motor der Geschichte sieht wird vom menschlichen Geist entwickelte Events in eine Kulturgeschichte verwandeln. Er lässt diese vor 70 000 Jahren beginnen5 und wird, Spekulationen folgend, mit einer „Geschichte von Morgen“6 enden. Menschlicher Geist und Verstand sind ein wichtiger Teil menschlicher Mentalität und schaffen menschliche Kultur. Menschliches Verhalten aber wird von einem mentalen Erbe, von menschlicher Mentalität gesteuert, die mehr ist als Geist und Verstand. Mentale Vielfalt kontrolliert den menschlichen Verstand, korrigiert gedankliche Irrtümer oder „Verrücktheiten“, wie auch der Verstand Emotionen korrigiert. Mentalität ist das Produkt einer langen mentalen Evolution und steuert das menschliche Verhalten. Eine Mentalgeschichte wird sich deshalb von einer Kulturgeschichte des Menschen unterscheiden müssen, wird menschliches Verhalten analysieren und wird eine andere Geschichte des Menschen beschreiben. Diese Mentalgeschichte zu beschreiben ist Ziel dieses Buches.
Tatsächlich beginnt die Mentalgeschichte des Menschen vor zwei bis drei Millionen Jahren mit seiner „mentalen Evolution“7. Sie ist die Basis, von der alles ausging. In Stufen ist uns ein die Primatenintelligenz ergänzendes Erbe aus „emotionaler Intelligenz“ und schließlich „kognitiver Intelligenz“ zugewachsen, deren unterschiedliche Betonung in der Geschichte zu Magie und Mythos, zu Religionen und Ideologien, dann zu Wissen und Theorien führt und schließlich ein menschenmögliches Verhalten oder eine humane Ethik zum Ziel der Geschichte erklärt. Ein kontinuierlich wachsender Zugewinn an Freiheitsgraden des Menschen ist das evolutionäre Ergebnis. Doch wird das freie Entscheiden des Menschen auch wieder kontrolliert von Trieben und Instinkten, von natürlichen- und erworbenen Bedürfnissen, von unbewussten- und geäußerten Wünschen, von erreichbaren- oder neurotisch verfehlten Zielen, schließlich von Gefühlen und Verstand oder einer emotionalen- und kognitiven...