Better aging
»Better aging« – so heißt das Angebot eines exklusiven Gesundheitszentrums. Die Besitzer können nichts dafür, dass das Wort »alt« so einen schlechten Geschmack im Mund erzeugt. Und für Revolutionen sind sie nicht zuständig, das Gesundheitszentrum muss seine Produkte gut verkaufen. In meiner ersten Ehe habe ich mit meinem Mann immer auf Englisch gestritten, als ob ich den Streit aus unserem deutschsprachigen Leben auslagern wollte. Und mit dem Wort »alt« ist es genauso. Wir übersetzen es ins Englische und schaffen so Distanz. Die Aufgabe, einen Begriff, der gut für Kunstwerke und Wein, aber nicht für Menschen ist, von seiner abwertenden Deutung zu befreien, ist auch mir zu groß. Also dann – »better aging«.
Das fühlt sich zunächst gut an – bis ich die beiden Worte aus der Nähe betrachte.
Ich darf also nur auf englisch altern, und frage mich, was jene tun, die nie Englisch gelernt haben. Aber die haben wahrscheinlich ohnehin andere Sorgen, als ihren Körper fit zu halten.
Und – wenn ich besser altern soll, heißt das ja auch, dass ich es bisher schlecht gemacht habe. Nachdem ich mich der Illusion, dass ich für den Rest meines Lebens jeden Bissen vierzig Mal kauen und kaum mehr Fett essen werde, nicht mehr hingebe, werde ich leider wieder »schlechter« altern.
Ich habe dennoch gebucht in dem Gesundheitszentrum und mir diese Auszeit geschenkt, um mich meinem persönlichen »better aging« zu nähern. Ich nahm mir vor, weniger kritisch zu sein und mir diese Woche für Körper und Seele zu gönnen.
Meine Mutter ist schon lange davon befreit, sich um ihren Körper zu kümmern. Denn das tut seit Jahren ihre hingebungsvolle Betreuerin. Sie ist inzwischen neunzig, hat schon vor langer Zeit vergessen, wer ich bin, und ich habe aufgehört, darum zu betteln, dass sie mich erkennt.
Dafür lehrt sie mich vieles. Mit ihr erlebe ich, was es bedeutet, im Augenblick zu leben. Und wenn sie, weit weg in ihren eigenen Welten, stundenlang am Seeufer sitzt und stumm in die Wolken schaut, dann wird es auch in mir ganz ruhig. Sie lebt schon lange in einer stillen Seinsqualität, in der Glück und Unglück keine hohen Wellen mehr schlagen.
Inzwischen liegt sie nur noch in ihrem Bett, das sie seit Monaten nicht mehr verlässt, ein mageres Häufchen Frau, mühsam mit kleinen Bissen ernährt, für die sie immer unwilliger den Mund öffnet. Ich halte ihre Hand und weiß plötzlich, dass ich nicht weiterfahren darf in mein Gesundheitszentrum. Meine Reise endet hier, bei ihr, eine Stunde entfernt von meinem Ziel.
Ich sitze an Mamas Bett und bin dankbar, dass »better aging« jetzt bedeutet, dass ich ihre Hand halten darf, während sie langsam auf das große, goldene Tor zugeht, durch das wir alle gehen.
Sie ist eine Frau, die nie Zeit hatte, sich Gedanken um ihren Körper und ihre Gesundheit zu machen. Das Essen war karg im Krieg, und niemand zählte Kalorien und kämpfte gegen Fettpölsterchen.
Sie gehört einer Generation an, die die dunklen Wolken, die auf der Seele lagen, mit Arbeit verscheuchte.
Kinder starben, Beziehungen zerbrachen und wurden irgendwie gekittet, der Preis der Sprachlosigkeit wurde als Teil des Lebens akzeptiert.
Und was von ihrem Erbe werde ich mitnehmen? Es ist zu früh, darüber nachzudenken, jetzt geht es nur um sie. Berühren, küssen, reden, auch wenn sie nicht antwortet. Ein letztes Mal, bevor sie endgültig geht und ich dann die Nächste bin, die vor dem Tor steht. Wann immer das sein wird.
Ein paar Tage später stehe ich an ihrem Sarg und verspreche ihr, dass es gut mit mir weitergehen wird. Dass ich vieles von dem, was sie ausgezeichnet hat, auf meiner eigenen Reise zum goldenen Tor mitnehme: ihren Mut, ihre Fröhlichkeit (auch wenn sie dahinter traurig war), ihre Liebe zur Natur, ihre Güte, ihren Optimismus, ihr Durchhaltevermögen, ihre Schönheit.
Zehn Tage danach fällt eine Betonplatte, die nach dem Umbau unseres Hauses liegen geblieben ist, auf mein Schienbein und schlägt mir eine tiefe Wunde. Es blutet filmreich und tut kaum weh. Wochenlang Stille und sitzen auf dem Sofa, damit der Heilungsprozess schneller geht. Ein köstliches, unbekanntes, neues Gefühl entfaltet sich in mir: Ich genieße es, langsam sein zu dürfen. Dieses Stoppzeichen auf meinem Bein, das als Narbe für immer bleiben wird, hat sich meine Mutter für mich ausgedacht. Ich höre ihre Stimme: »Nimm meine Rastlosigkeit nicht mit. Ich bin meinem Schmerz davongelaufen, für mich war das gut so. Du darfst wählen.«
Und so sitze ich auf meinem weißen Sofa und lege alle ihre Eigenschaften vor mich hin. Über vieles bin ich froh und lasse manches zurück. So trete ich dein Erbe an, du Frau vor mir. Viel später, aber das weiß ich in diesem Augenblick noch nicht, werde ich einen Fersensporn als nächste Erinnerung brauchen, dass ich nicht immer so schnell rennen soll. So tief sind die Spuren in mein Gehirn eingegraben. Und was ist mit der Frau vor ihr? Meiner Großmutter? Wie hat sie gelebt?
Sie war eine Heilkundige, sprachbegabt, literarisch begabt. In aller Stille. Sie blieb immer nur »die Frau des Lehrers« und Mutter von sechs Kindern, von denen zwei nicht ihre eigenen waren.
Auch ihr Erbe trage ich in mir, und erst ich gehöre zu der Generation, die eine Chance hat, die Fülle dessen, was ihr als Begabungen anvertraut wurde, zu leben – mir und diesen beiden Frauen zu Ehren. Und all jenen, die davor waren und deren Spur sich in den Fotoalben verloren hat.
Sechs Wochen später:
Meine Mutter beim Sterben begleitet und beerdigt, das Bein verheilt, der zweite Anlauf meines Projekts »better aging« beginnt pünktlich um elf Uhr in der Halle des Hotels.
Die ersten Minuten erlebe ich fast so, wie die Literatur sie uns immer wieder beschreibt. Nichts als eine uninteressante Gruppe älterer Menschen, zu der ich nun auch gehöre. Wir haben uns hier zusammengefunden, um uns Anweisungen für ein darmschonendes Leben abzuholen. Meine Irritation dauert nur kurz. Dann öffne ich meine Augen für die Schönheit und finde sie. Ich sehe Frauen meines Alters, die ihrer Persönlichkeit Ausdruck in ihrer Kleidung geben, mutige und weniger mutige Haltungen, Gesichter, in denen die Zuversicht oder das Verzagen Spuren hinterlassen hat.
Ich kann meine eigene Schönheit wieder spüren und freue mich auf meine ärztliche Untersuchung am nächsten Vormittag. Ich bin gesund und attraktiv – bis ich meiner Kurärztin begegne.
Sie hält mir liebevoll und gleichzeitig streng einen Vortrag über meinen Darm, und schon werde ich zur nachlässigen Sünderin, die sich daran gewöhnen soll, für den Rest des Lebens am frühen Abend eine basische Suppe zu essen. Zu viel, zu schwer, zu schnell, zu spät. So esse ich. Mein mediterraner Lebensstil, durchsetzt mit Backhendlsalat in der Hafenschenke mit Blick aufs Wasser, ist ganz und gar ungesund. Bedrückt von so viel Unzulänglichkeit, besuche ich die morgendliche Turnstunde, obwohl ich Gymnastik hasse. Denn mein Turnsaal ist die Natur, dort bewege ich mich gern und viel.
Das Urteil der Kurärztin bringt die schöne Frau zum Verschwinden, und ich merke, wie empfindlich sie ist. Wie anfällig für Kritik und wie zart ihr Selbstverständnis. Es dauert zwei Tage, bis ich mich nicht mehr auf meinen unzulänglichen Darm (der schulmedizinisch gesund ist) reduziere.
Dann taucht die schöne Frau wieder auf, genießt den Luxus der Rundumversorgung und schaut sich nach Verbündeten um.
Sie fallen mir zu, weil es keinen Zufall gibt, jede Einzelne attraktiv, auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Marcella, mit der ich am Tisch sitze, mit ihrem ebenholzschwarzen, gefärbten Haar, die wie Schneewittchen aussieht und sich romantisch in duftige Kleider mit Spitzen am Saum und am Ärmel kleidet. Katharina, der ich in der Sauna begegne und die, gemeinsam mit ihrem Mann, das Restaurant durchquert wie eine Königin. Sie könnte in jeder Modezeitschrift für die elegante Dame Werbung machen und trägt ihr schlohweißes, kurzes Haar mit Grazie. Und schließlich Hedwig, der Wirbelwind. Sie ist mir schon am ersten Tag in der Lobby beim Wellcomedrink aufgefallen. Frech, pfiffig, im Gipsylook, mit kurzen, edlen Jäckchen, Longshirts und engen Hosen. Ihr Haar ist gelockt, halblang und vielleicht Natur oder auch nicht.
Aber sehen sie sich auch so, wie ich sie sehe? Als schöne Frauen ihres Alters, denen die Spuren des Lebens gut zu Gesicht stehen? Mögen sie sich genauso, wie sie sind, und kennen sie ihren Weg? Ich frage nach.
Marcella, 60
Wir sitzen einander gegenüber und kauen uns an. Im wahrsten Sinn des Wortes. Wie Kühe auf der Weide. Marcella kann es schon, ich lerne es gerade. Von ihr. Einfach weil ich versuche, meine Kursemmel so lange im Mund zu behalten wie sie. Wir reden nicht viel, weil Reden vom Kauen ablenkt und eigentlich nicht erwünscht ist während des Essens. Aber mit den Tagen kommt Vertrautheit auf. Der Moment, in dem ich sie frage, wie alt sie ist, öffnet die Türe in ein Leben, das ihren verzagten Blick erklärt, wenn sie nicht lächelt, weil ich sie anspreche.
»Wie schön, du gehst durch das Tor zur weisen Frau«, sage ich begeistert, als sie mir antwortet, dass sie nächste Woche sechzig wird. Sie schweigt einen Moment, und ich sehe in ihrem schönen Gesicht mit den Kummerlinien, dass sie sich das Bild vorstellt. Nach einer langen Weile beginnt sie zu erzählen.
»Das Tor klemmt, und ich weiß nicht einmal, in welche Richtung es sich öffnet. Ich bin orientierungslos. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich älter werde, und ich merke es noch immer nicht wirklich. Zum ersten Mal ist es mir...