GELEITWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
EINBEZOGEN IN die mannigfachen Kreise stärkster Bewegung, die in der Stauferzeit eine neue Menschheitsepoche anzubahnen beginnt, steht die heilige Hildegard als geistige Größe dennoch einsam in ihrer Umwelt. Gesucht von allen, wird sie nur von wenigen verstanden, nicht einmal immer von ihren geistlichen Töchtern, die sie mütterlich führt. Kaiser und Fürsten, Bischöfe und Äbte erbaten von ihr Licht, Rat und Hilfe. Ritter und Kaufleute, Pilger und Kreuzfahrer, Scholaren und Bettler gehen auf dem Rupertsberg ein und aus. Vornehme Damen und heimatlose Mädchen, Gelehrte und Künstler, Fischer und Jäger, Bauern und Winzer, arme Frauen aus dem Volke, alle blicken zur Äbtissin auf, lauschen ihrem Wort wie einer Offenbarung, gehen getröstet von dannen oder stellen die Arbeit ihrer Hände fürs Leben in den Dienst der Heiligen.
Ihre Persönlichkeit war überragend. Erleuchtete und hochstehende Männer beugten sich dieser Frau. Ihr Wort und ihr Tun ließen ahnen, daß ihr Geist in anderen Welten weilte und doch weder Großes noch Kleines in dem sie umgebenden Bereich der natürlichen Erscheinungen übersah.
Sie hatte für alles, für Baum und Strauch, für Blume und Frucht, für den Vogel in der Luft und den Fisch im Wasser ein Auge, ein Ohr, ein Wort, einen Namen. Das Leben und Treiben der kleinen Welt war ihr aber nicht nur ein willkommener Gegenstand ernster Beobachtung, eine unversiegliche Bereicherung des Wissens, sie ordnete vielmehr die Einzelwesen stets organisch in den Makrokosmos der ganzen Natur ein.
Aber auch hiebei blieb sie nicht stehen. Jede äußere Erscheinung ward ihr zum Sinnbild. Sie lebte noch ganz in einer symbolischen Weltanschauung und sah in den Menschen sowohl wie in allem Naturgeschehen die Verwirklichung göttlicher Gedanken und daher die engsten inneren Beziehungen zwischen dem Menschen und den vernunftlosen Geschöpfen, insbesondere der Pflanzenwelt.
Die tiefe Bedeutung der Naturauffassung Hildegards liegt gerade in der charakterologischen und symbolischen Erfassung der sichtbaren Schöpfung, einer Betrachtungsweise, die in unseren Tagen durch die phänomenologische Anthropologie wieder in ihre Rechte eingesetzt worden ist. Die Realontologie von Martius1 und die Untersuchungen über die Stufen der organischen Natur und die Sphäre des Menschen von Pleßner2 zeigen rein wesensanalytisch die Bezogenheit zwischen der Welt der Erscheinungen und der sinnlich-sittlichen Person des Menschen auf. Hier ergibt sich, daß Reales und Ideales, Objektives und Subjektives gleichsam einander zuwachsen, und Claudels3 Wortspiel: Connaissance est co-naissance findet seine wissenschaftliche Begründung. Diese Co-naissance – etwa zwischen der Pflanzenwelt und dem Menschen – hat aber schon bei Hildegard einen erstaunlich klaren Ausdruck gefunden: „Als der Mensch geschaffen wurde, ward Erde von der Erde genommen, und diese Erde ist der Mensch. Alle Elemente dienten ihm, weil sie in ihm das Leben spürten. Und sie neigten sich ihm zu in all seinem Handeln und Wandeln und wirkten mit ihm und er mit ihnen. Da gab die Erde ihre Grüne nach Art und Natur und Charakter und jeglicher Eigenschaft des Menschen. So tut die Erde in ihren nützen Kräutern die Beschaffenheit der geistlichen Anlagen des Menschen bezeichnend kund. In ihren unnützen Kräutern aber offenbart sie seine unnützen und teuflische Anlagen4.“ Nachdem die phänomenologische Analyse uns heute zeigt, daß psychologisch-erlebnismäßige, physiologische und physikalische Wirklichkeitsansichten durchaus ineinander überführbare Gesichtspunkte bezeichnen, finden wir eine charakterologische Analyse der hier angedeuteten Beziehungen durchaus nicht mehr unwissenschaftlich. Sie zeigt eine Bezogenheit der sinnlichen Qualitäten auf die leiblich-seelisch-geistige Einheit der Person, die uns ein Hilfsmittel an die Hand gibt, auch die ungehobenen Schätze der alten Natursymbolik wieder ans Tageslicht zu bringen. Wie tief hat die heilige Hildegard hier geschaut! Wie bei Claudel erscheint ihr die Baumgestalt als Ursymbol des Menschen: „Was der Saft im Baum ist, das ist die Seele im Körper, und ihre Kräfte entfaltet sie wie der Baum seine Gestalt. Die Erkenntnis (intellectus) gleicht dem Grün der Zweige und Blätter, der Wille (voluntas) den Blüten, das Gemüt (animus) ist wie die zuerst hervorbrechende, die Vernunft (ratio) wie die voll ausgereifte Frucht. Der Sinn (sensus) endlich gleicht der Ausdehnung des Baumes in die Höhe und Breite. So ist die Seele der innere Halt und die Trägerin des Leibes5.“
Die charakterologisch-symbolische Naturauffassung des Mittelalters erhebt sich dann später bei Albertus Magnus und in der klassischen Scholastik zu einer Charakterologie der Lebensstufen, die bei Thomas von Aquin zu immer vollkommeneren Bildern des trinitarischen Lebens aufsteigen. Sie lebt heute wieder auf in einer Wesensanalyse der Sphären des lebendigen Verhaltens bei Pflanze, Tier und Mensch und ist auch bereits einer streng wissenschaftlichen Behandlung zugeführt worden6.
Die heilige Hildegard nimmt in dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung eine ungewöhnlich hervorragende Stellung ein, uraltes, ererbtes Wissensgut der Menschheit hütend und dessen unvergänglichen Wert auch für eine ferne Zeit ahnend. Für Hildegard, die rein religiöse Frau, mußte alles Denken und geistige Streben weit über die Grenzen der sichtbaren Natur hinausführen. Auch ihr war „alles Vergängliche ein Gleichnis“. Aus ihrer seelischen Struktur, für die sich alle Zusammenhänge der verschiedenen Schöpfungsbereiche mühelos in die organische Einheit einer großen Gottesidee einordnen lassen, erblüht auch ihre theologische Spekulation, ihre mystische Schau.
Das Sinn-Bild ist ihr notwendige Voraussetzung. Sie schaut es als eine ihr von Gott gezeigte objektive Realität. Aber es ist ihr nur Grundlage und Weg zur Darlegung der geoffenbarten Glaubenswahrheiten und der aus ihnen abgeleiteten sittlichen Forderungen. Damit gewinnt ihr mystisches Wort prophetischen Ausdruck und apostolisch gebietende Kraft.
So tritt Hildegard gänzlich aus dem Rahmen ihrer mystischen Zeitgenossen heraus. Weder mit Hugo von St. Viktor noch mit dem größeren heiligen Bernhard teilt sie ihre mystische Art. Aus der Zeitgeschichte läßt sich demnach ihre Eigenart nicht erklären7, noch ist es zulässig, sie an den Anfang einer Linie zu stellen, die mit Mechthildis endigt8. Von der bräutlichen Minne, die für die Schule von Helfta kennzeichnend ist, finden sich bei Hildegard kaum Anklänge. Wenn Mehlis mit Recht sagt: „Die kirchliche Frühmystik ist geneigt, die Wirkung der Kräfte als der göttlichen Gnadenmittel besonders zu betonen, aber die spätere Entwicklung führt dahin, die Unmittelbarkeit der mystischen Beziehungen von Gott und Seele auf das leidenschaftlichste zu betonen und dadurch die Gefahr eines religiösen Individualismus zu schaffen9“, so gehört die heilige Hildegard unbedingt noch zur frühchristlichen Mystik. Nicht zwar zeitlich, aber geistig steht sie noch ganz in der patristischen Gedankenwelt. Von ihr gilt auch, daß die Dreiheit von Begriff, Handlung und Symbol noch durchaus gewahrt wird, die in einer späteren Entwicklung der Mystik der „sehnsüchtig ekstatischen Gottesliebe“ geopfert wird10.
Das vorliegende Buch, das uns Hildegards erstes und bedeutendstes Werk nahebringt, wird nicht nur ihre ganz aus dem Glauben geschöpfte Weltanschauung vor uns ausbreiten, von ihm darf auch erhofft werden, daß es die innerste Wesensart der Heiligen erkennen läßt.
Der erhabene Aufstieg aus der Fülle natürlicher Einzelerscheinungen zur gewaltigen Harmonie des gesamten Kosmos und von der als Symbol geschauten und erlebten Natur zu dem über der Welt thronenden göttlichen, schöpferischen Urbilde alles Seins ist in seiner organischen Entfaltung das Formprinzip für das Gesamtwerk der rheinischen Seherin.
Die dem Scivias folgenden größeren Schriften Hildegards: „Die Lebensverdienste“ und „Die göttlichen Werke“ nehmen – wenn auch jeweils wieder in ganz neuartiger Weise – den gleichen Weg über das Symbol zur ewigen göttlichen Wirklichkeit, dem Urquell alles Geschaffenen.
Diese großzügige Einstellung bewahrt unsere Heilige vor dem asozialen Charakter, der an sich der Mystik eigen ist. Für den Mystiker „handelt es sich in erster Linie um das Verhältnis des Einzelnen zum Absoluten, nicht aber um das Gemeinschaftsverhältnis der Individuen zueinander11“. Die Äbtissin vom Rupertsberge ist so stark mit allen Bezirken der Schöpfung und ganz besonders der Kirche verwoben und verbunden, daß ihre Werke geradezu einen vorwiegend sozialen Geist atmen. Hierin offenbart sich in weitestem Maße ihre apostolische Tendenz, und hierin beruht auch die großartige Wirkung ihres Wortes und ihrer Schriften in der Öffentlichkeit. Einsam ist sie nur in den innersten Lebensquellen ihrer Seelenkräfte. Mit ihrem Werke aber gehört sie der Kirche und ihrem...