2. Die Encyclopédie und ihr aufklärerisches Moment
Als Diderot und d'Alembert die Encyclopédie in Angriff nahmen, kannte die Geschichte bereits Enzyklopädien bis in die Antike zurück. Von 1732 bis 1750 kam in Deutschland Zedlers Universal-Lexikon in 64 Bänden auf den Markt.[15] In Frankreich hatte der Jesuit Louis Moréri mit dem Grand dictionnaire historique ou le melange curieux de l'histoire sainte et profane eines der erfolgreichsten Nachschlagewerke seiner Zeit herausgegeben. Es erlebte 24 Auflagen von 1674 und 1759.[16] Ein weiteres populäres Werk war die englischsprachige Cyclopaedia von Ephraim Chambers. Von 1674 bis 1750 erschienen in mehreren Sprachen über dreißig Wörterbücher – mehr als in den zwei Jahrhunderten zuvor.[17]
Die Enzyklopädien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit waren inhaltlich nach dem Konzept der Philosophia perennis aufgebaut, d.h., sie kommunizierten primär Monotheismus, Schöpfungstheologie und Heilsgeschichte.[18] Die Nachschlagewerke besaßen demnach eine theologische Zielsetzung und sind kein Spezifikum der Aufklärung. Die Enzyklopädien des Calvinisten Ramus im 16. Jahrhundert waren sogar rein eschatologisch motiviert: Sie sollten zeigen, dass sich das Wissen der Welt vollständig erschöpft hatte. Die vollständige Katalogisierung der Schöpfung hatte das Ziel, die Apokalypse zu beschwören.[19]
Die englische Restauration und der Dreißigjährige Krieg beendeten im 17. Jahrhundert die dominante Position der Theologie. In der Folge verloren auch die Enzyklopädien ihre theologische Grundlage. Die Gelehrsamkeit selbst, so Schmidt-Biggemann, sei zu einer Institution geworden, die sich keinem fremden Legitimationsdruck mehr zu beugen hatte. Die schwindende Dominanz der Theologie zeigt sich bereits bei der Cyclopaedia von Chambers: Das Alphabet ist ordnungsbestimmend, nicht mehr die Religion. Auch Zedlers Universallexikon war „eklektisch, praxisorientiert und metaphysikfern aus Einzellexika kompiliert.“[20]
Eine Enzyklopädie ist also nicht zwingend eine Publikationsform, die in ihren Aussagen subversiv und gegen die Autoritäten gerichtet ist. Wenn wir der Frage nachgehen, welche aufklärerischen Momente die Encyclopédie bereits in ihrer Struktur aufweist, so ist dies auch die Frage, wie in ihre Struktur enzyklopädische Merkmale entsprechend instrumentalisiert worden sind.
Für das Werk Diderots und d’Alemberts lassen sich zunächst folgende Charakteristika feststellen. Der Enzyklopädie liegt 1.) ein Ordnungsprinzip zugrunde, sie hat 2.) einen Totalitätsanspruch das Wissen betreffend, sie kann 3.) alphabetisch konsultiert werden, besitzt 4.) hintergründige Zielsetzungen und wurde 5.) nicht von einem einzigen oder einigen wenigen Autoren verfasst, sondern von einer mehr als hundert Personen umfassenden Gesellschaft von Gelehrten.[21] Mit dem Autorenkollektiv weist die Encyclopédie ein Merkmal auf, das es in der Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben hatte.[22]
Die Intentionen der Herausgeber erschließen sich nicht nur in der rein inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihrem Werk, sondern bereits in der Betrachtung von Struktur, Aufbau und den grundlegenden Ordnungsprinzipien. Die enzyklopädische Ordnung selbst trägt bereits aufklärerische Momente in sich, wie sie ein „herkömmliches“ Buch nicht hätte transportieren können. Bevor wir aber auf diese Merkmale eingehen, gilt es festzustellen, in welchen Traditionen sich die Enzyklopädisten bewegten.
Unmittelbarer Vorläufer der Encyclopédie war Ephraim Chambers. Von der 1728 erschienen Cyclopaedia übernahmen Diderot und d’Alembert die alphabetische Ordnung und die Idee der Querverweise. Sie werteten zudem seine Entscheidung als richtig, der Cyclopaedia einen Plan über die Einteilung der menschlichen Kenntnisse vorangestellt zu haben.[23] Das Werk erlebte fünf Auflagen in 18 Jahren und kann als erstes modernes Nachschlagewerk betrachtet werden. Ursprünglich war die Encyclopédie als schlichte Übersetzung der Cyclopaedia gedacht.[24] Obgleich dieses Wörterbuch als erste Ursache der Encyclopédie betrachtet werden kann, ist es kein ideologischer Wegbereiter. Chambers scheint zwar Sympathien für den Deismus aufzubringen, schreibt aber in seinen politischen und religiösen Beiträgen durchgehend sachlich und objektiv.[25] Auch Leibniz, auf dessen Forderung nach einer Enzyklopädie sich Diderot explizit bezieht, ist für die französischen Enzyklopädisten kein ideeller Vorläufer.[26] Das Nachschlagewerk, wie es sich Leibniz wünschte, sollte aus zwei Büchern zusammengesetzt sein: Das Inventarium müsste alles Wissen von Natur und Technik beinhalten, das Buch der Theorien sollte alle Beweise der Wahrheit, der Wahrscheinlichkeit und der sichersten Vermutungen, wie sie sich aus dem sinnlich Erkannten ergeben, enthalten.[27]
Einflussreicher ideeller Wegbereiter für die Encyclopédie war Francis Bacon (1561-1626), der sich mit De dignitate augmentis scientarum (1623) bereits an einer Universalenzyklopädie versucht hatte. Zweiter Vorläufer war Pierre Bayle (1647–1706), dessen Anti-Enzyklopädie sich der Forderung nach religiöser Toleranz verschrieben hatte und demonstriert, wie ein Dictionnaire subversives Gedankengut verbreiten kann.
Francis Bacon ist für das Projekt der Encyclopédie in zweifacher Hinsicht elementar. Die Einteilung der Wissenschaften, wie er sie in De dignitate darlegt, bestimmt die Struktur der Encyclopédie. Das Novum Organon (1620) betont die Notwendigkeit der Experimentalphysik und die Idee der Naturbeherrschung.[28] Damit nimmt Bacon entscheidende Charakteristika der französischen Aufklärung vorweg.
Bacon will nicht weniger als die große Erneuerung der Wissenschaften, wie er es bereits im Titel der Instauratio Magna ankündigt. Auch das Novum Organum drückt bereits im Titel den Anbruch eines neuen Zeitalters aus, weil es suggeriert, dass das aristotelische Organon keine Gültigkeit mehr besitzt.[29] Bei Aristoteles hatte Wissen noch einen intrinsischen Wert. Das theoretische Wissen war für ihn eine Erkenntnis, die man aus Liebe zur Weisheit (sophia) um der bloßen Erkenntnis willen gewinnt.[30] Bacon jedoch betrachtet Erkenntnis funktionalistisch und verlangt ihr einen konkreten, unmittelbaren Nutzen ab. Zudem dreht er den Weg über den man zu Erkenntnissen gelangen soll vollkommen um. Deduktiver Erkenntnisgewinn setzte einen übergeordneten Punkt voraus, von dem Ableitungen erstellt werden können. Bacon will aber induktiv arbeiten, d.h.: erst durch aufeinander aufbauende Lehrsätze soll man zu allgemeinen Prinzipien gelangen:
„Die, welche die Wissenschaften betrieben haben, sind Empiriker oder Dogmatiker gewesen. Die Empiriker, gleich den Ameisen, sammeln und verbrauchen nur, die aber, die die Vernunft überbetonen, gleich den Spinnen, schaffen die Netze aus sich selbst. Das Verfahren der Biene liegt aber in der Mitte; sie zieht den Saft aus den Blüten der Gärten und Felder, behandelt und verdaut ihn aber aus eigener Kraft. Dem nicht unähnlich ist nun das Werk der Philosophie; es stützt sich nicht ausschließlich auf die Kräfte des Geistes, und es nimmt denn von der Naturlehre und den mechanischen Experimenten dargebotenen Stoff nicht unverändert in das Gedächtnis auf, sondern verändert und verarbeitet ihn im Geiste.“[31]
Beobachtung und Interpretation werden damit entscheidende Instrumente. Schenken wir Voltaire Glauben, dann konnte Isaac Newton auf die Gesetze zur Bewegungslehre aus der bloßen Erfahrung heraus schließen, wie er die Früchte eines Baumes fallen sah.[32]
Weiteres Kernelement von Bacons Philosophie ist die Naturbeherrschung. Er will der Natur ihrer Geheimnisse entlocken, sie beherrschen und für den Menschen nutzbar machen. Das Postulat gipfelt in seinem berühmten Fanal „Wissen ist Macht.“ Die Beherrschung der Natur setzt also Wissen über die Natur voraus.[33] Allerdings ist die Naturbeherrschung nicht grenzenlos, sie erfährt durch die Religion eine Schranke, ja durch die Frömmigkeit legitimiert sie sich überhaupt erst. Das regnum hominis hat lediglich das Ziel, den Menschen an den Wundern Gottes teilhaben zu lassen. Kenntnisse über die Natur könnten niemals über die Absichten Gottes aufklären, sondern seine Werke nur aufzeigen.[34]
Obgleich Bacon Wissenschaft mit einem technisch-instrumentellen Wert versieht und auch mit dem Wechsel von Deduktion zu Induktion aufklärerische Kernelemente vorzeichnet, fällt der Bruch mit der Scholastik nicht so deutlich und kompromisslos aus, wie es die Enzyklopädisten gerne gesehen hätten. Die Theologie bleibt Philosophia prima.
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