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Eine Frage der Dosis
Am Anfang war der Urknall. Es war der Anfang der Zeit und des Raumes gleichermaßen, und es wurde auch Licht. So jedenfalls lehrt es uns das kosmologische Standardmodell der Physik.
Kurz danach hat das Universum mit über Lichtgeschwindigkeit sehr schnell weiteren Raum gewonnen, es war die Phase der Inflation, und auch in den folgenden Milliarden von Jahren expandierte der Kosmos weiter fort. Heute und 13,8 Mrd. Jahre nach dem großen Knall würde man nun erwarten, dass die Materie einigermaßen gleichmäßig im Raum verteilt ist, auch wenn hier und da eine gewisse Klumpenbildung erfolgte, und zwar zu jenen Strukturen, die wir heute als Galaxienhaufen, Galaxien und Sonnensysteme bezeichnen.
Aber es ist im Weltraum und überhaupt in der Natur nicht alles gleichmäßig, oder wie der Naturwissenschaftler sagen würde, homogen und isotrop verteilt. Die gleichen Kräfte und Gesetze der Physik, die für eine Expansion des Universums sorgten, bewirkten auch die bekannten lokalen Konzentrationen von Masse und Struktur, die galaktischen Verklumpungen.
Unter einer homogenen Verteilung versteht man übrigens eine solche wie etwa bei einem Gas in einem Luftballon oder wie bei der Durchmischung des Kaffees mit der Milch nach ausreichend langem Rühren. Das ist ein Idealfall und es hat etwas mit der immer zunehmenden Entropie zu tun, einem natürlichen Drang der Dinge zur Verteilung. Mikroskopische Substanzen oder Stoffe neigen, wenn man sie sich selbst überlässt, nicht zur Konzentration, sondern zu Unordnung oder Zerstreuung. Dies ist auch der Grund, warum unsere Atmosphäre mit ihren Hauptbestandteilen Stickstoff und Sauerstoff so gut durchmischt ist und weshalb der Salzgehalt in den Weltmeeren lokal nicht besonders schwankt.
Durchmischung unter dem Einfluss von Bewegung ist ein physikalisches und gleichzeitig ein statistisches Phänomen. Ein Lied davon singen kann jeder, dem schon mal eine Tüte Erbsen auf den heimischen Fliesenboden gefallen ist oder einmal ein Kinderzimmer nach einem Kindergeburtstag aufräumen musste. Eine solche Art der Unordnung scheint ein natürliches Prinzip zu sein, aber vielleicht sagen Sie dies erst einmal besser nicht weiter an Ihre lieben Kleinen … sie könnten es als Rechtfertigung für ihr Tun verwenden.
Doch wozu dient diese Eingangsbetrachtung? Es veranschaulicht, dass wir zwar in einer unordentlichen Natur leben, in unserer technisch hochgerüsteten und zivilisierten Gesellschaft aber dazu neigen, stoffliche Elemente, chemische Komponenten oder Rohstoffe aufwendig zusammenzusuchen und zu sortieren. Oder wir holen sie aus der Tiefe der Erde, um sie danach zu filtern, zu raffinieren, zu veredeln und dann in konzentrierter Form in unsere Industrieprozesse oder engste Alltagsumgebung einzuführen. Dort dienen sie dann zum technischen oder ganz persönlichen Gebrauch, bis sie wieder entsorgt werden.
Ständig müssen wir unter Energieaufwand die Umwelt bearbeiten, um die benötigten Materialien, Produkte oder auch Nahrungsmittel zu erhalten. Dieses Prinzip ist die eigentliche Grundlage unserer Zivilisation und des technischen Fortschritts: Ordnung schaffen aus dem vermeintlichen natürlichen Chaos. Auf diese Weise bilden wir hilfreiche Strukturen, gestalten Lebensräume und schaffen Werte.
Zwangsläufig aber konzentrieren wir dabei auch Schadstoffe und Gifte in unserer unmittelbaren Umwelt, auch da, wo diese nicht hingehören. Durch den fortwährenden Prozess der Konzentration bestimmter Stoffe in unseren Behausungen, Produkten oder auch deren Abfallresten generieren wir Risiken und Bedrohungen für Umwelt und unsere eigene Gesundheit. Dabei wird niemand bestreiten, dass alles das, was uns als Rohstoff dient, natürlich auch ohne menschliches Zutun existent ist und damit ein gewisses Risiko darstellt. Jedoch finden wir es normalerweise an Orten, in Zuständen und in Mengen vor, wie die Erdgeschichte es uns über Jahrmillionen hinterlassen hat, und worauf sich die langsame menschliche Evolution einstellen konnte.
Als aktuelle Beispiele für typisch anthropogene Schadstoffkonzentration mit fatalen Auswirkungen lässt sich vieles anführen. Neben den generell verwerflichen Industrieabwässern in Flüssen, Luftverschmutzungen oder illegaler Giftmüllentsorgung in entlegenen Gebieten der dritten Welt sind es aber auch die scheinbar ganz normalen Vorgänge unseres Alltags. Es beginnt mit dem energieintensiven Einkauf per Auto und endet mit der Entsorgung der sogenannten Verpackungswertstoffe. Dazu kommen Risiken aus der Konzentration neuer Problemstoffe in unserer Lebensumgebung, ob nun karzinogenes Asbest in Gebäudeteilen, chronisch toxisches PCB (polychlorierte Biphenyle) in unserer Nahrungskette oder der berüchtigte vielschichtige Feinstaub in urbaner Atemluft.
Nicht umsonst bestehen die Lösungsansätze nicht nur aus einer vielenorts schon übertriebenen Regulierung mit allerlei Verboten und Verordnungen, sondern auch aus einer umfassenden Aufklärung von Bürgern und Verbrauchern, um über die Vermeidung von Risiken auch selbst entscheiden zu können.
Da aber das Übel prinzipiell in einer anthropogenen Konzentration von Schadstoffen in der eigenen Lebenswelt besteht, dürfte die effektivste Maßnahme dagegen in einer Reduzierung oder Unterlassung liegen. Endlagerlösungen, wie sie beispielsweise in der deutschen Atomenergiefrage seit gefühlten hundert Jahren diskutiert werden, müssen nicht notwendigerweise auch richtig für konventionelle Schadstoffe und Umweltgifte sein. Die Alternative könnte auch lauten: solution by dilution of pollution, also gewissermaßen die Wiederherbeiführung des natürlichen Ausgangszustandes, wenn denn jener in einer weitläufigen Verteilung unbedenklicher Konzentration bestand.
Die Umweltproblematik erfasste man erkenntnistheoretisch erst relativ spät am Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts und erfand dafür auch extra das neue Wort Umweltverschmutzung. Mittlerweile begleitet uns das Thema auf Schritt und Tritt, mit eigenen Gesetzen, EU-Verordnungen und entsprechender Bußgeldbedrohung. Wir unterscheiden zwischen unbedenklichen normalen Müllarten, die wir ebenfalls fleißig sortieren, und Schadstoffen sowie den eigentlichen Giften. Umweltgesichtspunkte prägen mehr oder weniger unser Verhalten und haben ihren festen Platz in den Nachrichten und unserem Bewusstsein, namentlich dem Umweltbewusstsein.
Noch anders verhält es sich mit der Radioaktivität. Hier generieren wir teilweise sogar schädliche Substanzen aus vorher vollkommen unproblematischer Materie durch eine künstliche Veränderung der Identität des chemischen Elements. Es entsteht etwas, was vorher gar nicht da war, der Traum der Alchemisten, leider manchmal auch mit der lästigen Konsequenz, dass der hierbei generierte radioaktive Abfall noch tausende von Jahre in die Zukunft strahlt und unserer sorgsamen Überwachung bedarf.
Unbestritten scheint jedenfalls, dass der Mensch durch die zivilisatorischen Erfordernisse, oder das, was er dafür hält, eine Veränderung seiner eigenen Umwelt betreibt und sich damit zusätzlichen Risiken aussetzt. Diese sind zumeist eine Frage der Dosierung.
Alle Dinge sind Gift (Sola dosis facit venenum) wusste bereits im 16. Jahrhundert Paracelsus1) und wird mit diesem Zitat noch heute viel gepriesen.
Nicht immer zu Recht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass er sonst auch sehr viel, wenn auch aus seiner Zeit verständlichen Unsinn über die Ursachen von menschlichen Krankheiten verbreitet hat. So existierten für ihn dafür die fünf Hauptfaktoren Gestirneinfluss, Macht Gottes, Geistereinfluss, konstitutionale Vorherbestimmung und erst als letztes der Gifteinfluss. Er war eben ein Alchemist und er lebte in der Hochzeit der Hokuspokus-Medizin, die schon immer mit viel Magie und einem Schuss Astrologie operierte. Tragisch übrigens für ihn selbst, dass er offenbar aus seinem revolutionären Wissen nicht die richtigen Konsequenzen zog. Es wird nach wissenschaftlichen Untersuchungen seiner sterblichen Überreste vermutet, dass er an einer Quecksilbervergiftung verstarb. Übrigens nicht der erste Prominente, der mit diesem äußerst giftigen Metall allzu leichtfertig herumexperimentierte, denn bereits der erste Kaiser von China teilte sein Schicksal auf dem Wege in die vermeintliche Unsterblichkeit. Er glaubte der Beratung seiner Alchemisten, durch die beständige Einnahme von Quecksilberpräparaten das ewige Leben zu gewinnen.
Vielleicht hat Paracelsus auch einfach nur nicht die richtigen Konsequenzen aus seinen eigenen Weisheiten gezogen, es kommt eben auf die richtige Dosierung an.
Die Grenzen zwischen Heilmittel oder Gift sind oft recht schmal. Hiervon überzeugt uns auch heute immer wieder das unangenehme Studium des Beipackzettels unserer Medikamente. Erst 1976 beschloss der deutsche Bundestag ein neues Arzneimittelgesetz als Antwort auf die 15 Jahre vorangegangene Contergan-Katastrophe der Firma Grünenthal GmbH mit ihren tragischen Folgen der schweren Behinderungen für viele Menschen.
Ohne Nebenwirkung keine Wirkung… und keine Wirkung ohne Ursache
Ursache und Wirkung gehören zusammen, und...