III Induktion, Verifikation, Falsifikation
Die moderne Wissenschaftstheorie hat das Induktionsproblem nicht erfunden. Es wurde aber zu einer ihrer zentralen Fragen, und insbesondere Karl Popper hat einen wichtigen Beitrag zur Klärung dieser Fragen geleistet. Die praktische Konsequenz seiner Analysen, die Forderung nach einer Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Hypothesen, ist heute im Prinzip generell anerkannt und von großer Bedeutung – in den Grenzen, die im Folgenden aufgezeigt werden.
1. Hume und die Kausalität
Die folgende Darstellung knüpft an David Humes (Kap. II.1) Skepsis bezüglich der Erkennbarkeit von Kausalität an, auf die Popper seine Gedanken aufbaut. Die oft missverstandenen ontologischen und erkenntnistheoretischen Folgerungen Humes werden hier aber nicht ausdrücklich betrachtet.
Hume stellte die Frage, wie wir Vorhersagen über die Zukunft machen können, bzw. wie wir kausale Zusammenhänge erkennen können. Seit Menschen den Himmel beobachten, ist jeden Morgen die Sonne aufgegangen. Und wir gehen selbstverständlich davon aus, dass das auch am nächsten Morgen um eine bestimmte Uhrzeit der Fall sein wird. Aber: Ist diese Vorhersage logisch notwendig? Es gibt keinerlei logischen Grund, von der beobachteten Regelmäßigkeit darauf zu schließen, dass dieselbe Regelmäßigkeit auch in Zukunft gelten wird. Auch eine kausale Erklärung (durch die Erddrehung) unterliegt im logischen Sinn derselben Willkür.
Im Prinzip ist damit das logische Problem der Induktion schon dargestellt:
• Induktion, also der Schluss von beobachteten Regelmäßigkeiten bzw. regelmäßigen Verknüpfungen von Ereignissen auf zukünftige Regelmäßigkeiten, insbesondere auch auf »Naturgesetze«, ist ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens und insbesondere der empirischen Wissenschaften. Tatsächlich ist in der Wissenschaft die Zahl der beobachteten Fälle, mit denen man ein Gesetz begründet, sogar oft erstaunlich klein, was von einem großen Vertrauen in Induktion zeugt.
• Gleichzeitig gibt es aber keine logische Rechtfertigung für Induktion.
• Dieses Problem führt insbesondere dann in einen Widerspruch, wenn man eine naive positivistische Auffassung vertritt, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur auf Beobachtungen beruhen kann. Dann sind wissenschaftliche Gesetze aufgrund des Induktionsproblems unerkennbar.
2. Popper: Falsifikationismus
Popper tritt mit dem unbescheidenen Anspruch auf, das Induktionsproblem gelöst zu haben. Dabei legt er großen Wert darauf, mehrere Prinzipien aufrecht zu erhalten:
• Das Prinzip des Empirismus, das er wie folgt formuliert: Die Wissenschaft soll über die empirische Erkenntnis hinaus keine Zuflucht nehmen zu irgendeinem metaphysischen Prinzip. Popper sagt über dieses »metaphysische Prinzip« sehr spitz, er habe von ihm »bis heute keine Formulierung zu Gesicht bekommen (…), die auch nur etwas versprach und nicht von vorneherein unhaltbar war.« [Popper 1995, 85]
• Den »Realismus des Alltagsverstandes; das ist die Ansicht, dass es eine wirkliche Welt gibt, die wirkliche Menschen, Tiere und Pflanzen, Autos und Sterne enthält.« [Popper 1995, 89 f.]
Poppers Lösung besteht darin, die Notwendigkeit von Induktion schlichtweg zu leugnen. Dann löst sich der dargestellte Widerspruch auf:
»Wir begreifen das sofort, wenn wir uns klarmachen, dass die Wissenschaft ein Naturgesetz oder eine Theorie immer nur vorläufig akzeptiert; das heißt, dass alle Gesetze und Theorien Vermutungen oder vorläufige Hypothesen sind (ich habe diese Anschauungsweise manchmal als ›Hypothetizismus‹ bezeichnet); und dass wir ein Gesetz oder eine Theorie aufgrund von neuen Tatsachen verwerfen können, ohne deshalb die alten Tatsachen aufgeben zu müssen, die uns ursprünglich bewogen hatten, das Gesetz oder die Theorie zu akzeptieren. (…)
Das Grundprinzip des Empirismus (…) können wir uneingeschränkt aufrechterhalten, da das Schicksal einer Theorie, ihre Annahme oder Ablehnung, durch Beobachtung und Experiment entschieden wird durch das Ergebnis von Prüfungen. Solange eine Theorie die schwersten Prüfungen besteht, die wir uns ausdenken können, wird sie akzeptiert; wenn nicht, wird sie verworfen. Aber sie wird niemals, in irgendeinem Sinn, aus empirischen Tatsachen abgeleitet. Es gibt weder eine psychologische noch eine logische Induktion. Nur die Falschheit einer Theorie kann aus empirischen Tatsachen abgeleitet werden, und diese Ableitung ist rein deduktiv.« [Popper 1995, 86]
Hypothetischer Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnis
Popper meint, der entscheidende Schritt sei, den »Vermutungscharakter der menschlichen Erkenntnis« [Popper 1995, 88] anzuerkennen, also den hypothetischen Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis. Als Beispiel führt er die Newton-Mechanik an, die sich mehr als 200 Jahre lang hervorragend bewährt hatte, die also eine bestmögliche induktive Bestätigung erfahren hätte, falls es eine solche gäbe. Sie wurde aber im 20. Jahrhundert durch die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie abgelöst.
»Und fast alle Physiker finden jetzt, dass die klassische Newtonische Mechanik nichts weiter ist als eine erstaunliche Vermutung, eine merkwürdig erfolgreiche Hypothese, und eine verblüffend gute Annäherung an die Wahrheit.« [Popper 1995, 89]
Den Ursprung des Missverständnisses von Induktion sieht Popper in der Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes, die er ironisch als »Kübeltheorie« bezeichnet:
»Dabei geht es um das Problem, wie wir Erkenntnis über die Welt erlangen. Die Lösung des Alltagsverstandes ist: indem wir unsere Augen und Ohren öffnen. Unsere Sinne sind die wichtigsten, wenn nicht die einzigen, Quellen unserer Erkenntnis.« [Popper 1995, 90]
Der Geist wird dabei wie ein »Kübel« aufgefasst, in dem sich die Erkenntnisse ansammeln, die durch die Sinne in ihn eindringen.
Woher stammt dann die menschliche Erkenntnis, wenn nicht von den Sinneswahrnehmungen? Popper geht von der logischen Überlegung aus, dass Erfahrung niemals eine Theorie (logisch) beweisen kann. Erfahrung kann aber eine Theorie widerlegen, durch Beobachtungen, die der Theorie widersprechen. So kommt Popper zu folgender »methodologischer Regel«:
»Du sollst kühne Theorien mit großem informativem Gehalt ausprobieren und anstreben; und dann lass diese kühnen Theorien konkurrieren, indem du sie kritisch diskutierst und strengen Prüfungen unterziehst.« [Popper 1995, 97]
Naturgesetze werden also nicht durch Erfahrung erkannt, sondern sie sind eine konstruktive Leistung des menschlichen Geistes. Die Erfahrung dient in erster Linie dazu, falsche Hypothesen auszumerzen. Es gibt dabei zwei wesentliche Kriterien für gute Hypothesen:
Jede Hypothese, die durch die Erfahrung widerlegt wird, die also einer Beobachtung widerspricht, muss verworfen werden. (Einschränkungen dazu werden unten diskutiert.)
Wenn allerdings nur dieses erste Kriterium gelten würde, dann wären diejenigen Hypothesen die besten, die nicht oder nur sehr schwer durch Erfahrung widerlegt werden können. Diese Hypothesen sind aber gleichzeitig nichtssagend. Daher kommt noch eine Forderung hinzu:
»Wir wollen neue und interessante Wahrheit. So gelangen wir zu der Idee des Wachstums des informativen Gehalts, und besonders des Wahrheitsgehalts. Das heißt, wir gelangen zu dem folgenden Prinzip der Bevorzugung: Eine Theorie mit einem großen informativen Gehalt ist im Großen und Ganzen, sogar bevor sie geprüft wurde, interessanter als eine Theorie mit wenig Gehalt. Zugegeben, wir müssen möglicherweise die Theorie mit dem größeren Gehalt, oder, wie ich sie auch nenne, die kühnere Theorie, aufgeben, wenn sie Prüfungen nicht standhält. Aber selbst in diesem Fall haben wir vielleicht mehr von ihr gelernt, als von der Theorie mit wenig Gehalt, denn falsifizierende Prüfungen können manchmal neue und unerwartete Tatsachen und Probleme zum Vorschein bringen.« [Popper 1995, 97]
Popper beruft sich ausdrücklich auf den Vorrang der logischen Lösung des Induktionsproblems gegenüber der psychologischen. Damit meint er, dass der richtige Ausgangspunkt die logische Unmöglichkeit jedes Induktionsbeweises ist (wie von Hume dargestellt), nicht aber die psychologische Frage,...