- 2 Persönliches Wissen und persönliches Wissensmanagement
Richard Pircher
„All we have in this world, is what we notice.“
Richard Baker Roshi
Eine Besprechung Bei der Besprechung zum Umsatzeinbruch des Handelsunternehmens für Spezialmetallwaren sind die Geschäftsführerin, die Leiterin des Vertriebs, die Produktionsleiterin, der Leiter der Forschung und Entwicklung (F&E) und der Personalchef anwesend. Die Geschäftsführerin bittet die Anwesenden um ihre Meinungen bezüglich Ursachen dieser Entwicklung und dazu, ob sie befürchten, dass dies der Anfang einer sich verstärkenden negativen Entwicklung sein könnte. Die Produktionsleiterin hält den Rückgang für nicht wesentlich. Der Leiter der F&E sieht die Entwicklung als Bestätigung für seine in den vergangenen Jahren immer wieder vorgebrachte Kritik an dem seiner Meinung nach zu geringen F&E-Budget. Mitanbieter brächten bereits neue Produkte auf den Markt, die ein besseres Preis-Leistungs-Niveau bieten, und würden in Zukunft weitere neue Entwicklungen zur Marktreife bringen. Der Personalchef hält den sinkenden Marktanteil für eine Folge der schlechter werdenden Qualifikation und Motivation der am Arbeitsmarkt verfügbaren Kräfte und die dadurch verursachte, sinkende Produktqualität. Die Produktionsleiterin verwehrt sich dagegen, dass die Produktqualität sinken würde. Die Geschäftsführerin hinterfragt, ob es der Konkurrenz mit der Personalsituation nicht gleich gehen müsste. Der Vertriebsleiterin, Frau Müller, präsentiert die Ergebnisse ihrer Recherchen und Analysen. Die Absatz- und Marktdaten hält sie für nicht besonders aussagekräftig. Allerdings hat sie über informelle Kontakte erfahren, dass Mitanbieter intensiv an einer verbesserten Versorgung des Vertriebs mit Kundeninformationen und neuen Absatzkanälen arbeiten. Dies kann zwar nicht die Ursache für die jüngste Negativentwicklung sein, aber ihrer Meinung nach sollte darauf sobald wie möglich reagiert werden. |
Die in der Besprechung vertretenen Positionen sind höchst unterschiedlich. Aus der individuellen Sicht sind sie alle gerechtfertigt, beruhen auf langjähriger Erfahrung und tiefgehendem Fachwissen. Dennoch widersprechen sie einander.
Wahrnehmung, Wissen, Handlungsmöglichkeiten
Wie kann es zu widersprüchlichem Wissen kommen? Warum unterscheiden sich individuelle Realitäten so stark voneinander? Wie entstehen höchst unterschiedliche Persönlichkeiten, die ihr persönliches Wissen als untrennbaren Bestandteil ihres Selbst betrachten? Warum ist es trotz dieser Unterschiede möglich, dass in Organisationen und Familien überwiegend konstruktiv zusammengewirkt wird, statt dauernd im Konflikt zu sein? Mit welchen Methoden ist es möglich, das persönliche Wissen zur Lösung komplexer Fragestellungen einzusetzen und es gezielt weiterzuentwickeln?
Kann man seinen Sinnen trauen?
- Bild 2.1 Blinder Fleck
Vermutlich haben Sie schon vom sprichtwörtlichen „blinden Fleck“ gehört, ihn vielleicht aber noch nicht gesehen. Wenn Sie das entsprechende Experiment durchführen wollen, schließen Sie das linke Auge und fixieren das Kreuz. Bewegen Sie nun das Buch ca. 30 cm vor Ihren Augen so lange langsam vor oder zurück, bis der Kreis rechts verschwunden ist. Diese lokale Blindheit besteht auf dem Punkt, wo alle Fasern der lichtempfindlichen Schicht des Auges zusammenkommen und den Sehnerv bilden, der die aufgenommenen Signale vom Auge zum Gehirn leitet. An dieser Stelle sehen wir nicht. Doch nehmen wir wahr, dass wir an diesem blinden Fleck nicht sehen?
Nein, wir müssen erst dieses Experiment durchführen, um wahrzunehmen, was wir sonst nicht wahrnehmen, nämlich dass wir an diesen zwei Punkten nicht sehen. Normalerweise sehen wir nicht, dass wir am blinden Fleck nicht sehen. Doch warum haben wir nicht tagtäglich zwei schwarze Flecken in unserem Sichtfeld?
- Bild 2.2 Schließen der Lücke
Wenn Sie das Experiment mit dem zweiten Bild wiederholen, zeigt sich vielleicht, dass der graue Balken ununterbrochen fortgesetzt erscheint, wenn der schwarze Kreis auf dem blinden Fleck liegt. Unser Gehirn vervollständigt automatisch unsere Wahrnehmung mit der wahrscheinlichen Variante der visuellen Eindrücke rund um den blinden Fleck.
Warum nehmen wir in derselben Situation häufig Unterschiedliches wahr?
Die über unsere Sinne aufgenommenen Daten werden nicht nur bei Bedarf retuschiert, sondern auch automatisch gefiltert. Die gesamte Fülle an Eindrücken und Daten, die von den Sinnen kommen, würde unser Gehirn bei weitem überlasten. Wir müssen Schwerpunkte setzen und unsere Aufmerksamkeit lenken. So, wie wir den blinden Fleck nicht sehen, bleiben über 95% der durch unsere Sinne aufgenommenen Impulse unregistriert. Wir treffen Sekunde für Sekunde unbewusst eine Auswahl innerhalb unseres Gesichtsfeldes, unserer akustischen Eindrücke, etc. Es werden jene Ausschnitte ausgewählt, die unsere Aufmerksamkeit an sich ziehen. Wir nehmen nicht alles wahr, was um uns geschieht, sondern treffen eine individuelle Auswahl, was wir wahrnehmen und welches Bild von der Außenwelt wir in unserem Inneren konstruieren. Wir sehen intentional, wählen also – meist unbewusst – jene Sinnesangebote, die wir aufgrund unserer inneren Strukturen sehen wollen, die für uns momentan Bedeutsamkeit besitzen.
Im Gehirn erhalten diese Eindrücke eine Färbung, in die unsere Gefühlslage des Momentes mit einfließt. Unsere körperliche Verfasstheit (Hunger, Durst, Hitze, Kälte, etc.), vorangegangene Ereignisse (Begeisterung, Erregung, Erschöpfung, etc.) bzw. Erwartungen an die Zukunft (Vorfreude, Angst, etc.) können den Eindruck anreichern und „färben“, ebenso wie der Raum, in dem wir uns befinden, der Sauerstoffgehalt in der Luft oder die Anwesenheit anderer Personen. Selbst „reine Fakten“ besitzen in unserem Gehirn diese individuelle, kontextuelle Färbung. Diese gefilterten, angereicherten und kontextualisierten Daten können als Informationen betrachtet werden, wenn sie für uns von Bedeutung und subjektiv relevant sind – doch Information wird nicht gewusst. Von Wissen lässt sich sprechen, wenn diese Informationen mit unserem Vorwissen vernetzt und darin integriert werden, wenn wir lernen. Wissen bildet die Grundlage von Handlungen und Entscheidungen, es kann umgesetzt werden, weil es mit den bereits vorhandenen inneren Strukturen verknüpft ist und damit selbst Teil der inneren Strukturen wurde.
Das Managementteam in der Besprechung am Beginn dieses Textes hat unterschiedliches Wissen, bringt eine jeweils spezifische Sichtweise ein. Wissen und strategische Positionierungen werden in die soziale Interaktion eingebracht und abgeglichen. Die Akteure handeln in ihrer Praxis aufgrund ihres Wissens, sammeln damit positive Erfahrungen oder stoßen an Grenzen und auf Widerstände bzw. auf Gegen-Wissen. Die Ausschnitte unterscheiden sich von Person zu Person, weil der Blickwinkel, aus dem wahrgenommen wird, beispielsweise bezüglich des Vorwissens oder der momentanen Gefühlslage, ein anderer ist. In der Besprechung entwickeln die Teilnehmer neues und auch geteiltes Wissen zu der Frage: Welche Bedeutung und Ursachen hat der Rückgang des Marktanteiles?
Wie entstehen innere Strukturen und persönliches Wissen?
Ein Baby wirft einen Löffel oder anderen Gegenstand so lange vom Tisch, bis entweder die Erwachsenen das Interesse am Aufheben verlieren oder es selbst das Interesse am Hinunterwerfen verliert (letzteres dürfte wesentlich unwahrscheinlicher sein als ersteres). Warum tut es das?
Im Baby ist eine Energie aktiv, die es fast unentwegt nach interessanten Reizen suchen lässt. Jeder empfangene Impuls stimuliert sein Gehirn. Wenn gleiche oder ähnliche Stimuli wiederholt auftreffen, dann bilden sich stabile Vernetzungen und eine Struktur oder Erkenntnis hat sich etabliert. Die Impulsverarbeitung hinterlässt im Gehirn eine Gedächtnisspur (vgl. Spitzer 2006, Spitzer/Bertram 2010). Wesentlich dabei ist nicht die Einzelerfahrung, sondern die aus vielen Erfahrungen abgeleitete Regelmäßigkeit und die dahinter angenommene allgemeine Regel bzw. Erwartungshaltung. Daraus bilden sich komplexe Muster, wie beispielsweise die Überzeugung, dass der Löffel irgendwann hinunter fällt, wenn man ihn nur weit genug weiter und über die Kante schiebt (Schwerkraft), und dass „ich etwas bewirken kann, wenn ich lange genug daran arbeite“ (Selbstwirksamkeitserwartung).
Das Umfeld, das einen wachsenden Mensch vor allem in den ersten Lebensmonaten und -jahren umgibt, stellt so etwas wie das „Umgebungsklima“ für die sich entwickelnden inneren Strukturen dar (vgl. Bild 2.8). Es bildet den Nährboden für den Aufbau grundlegender innerer Bilder, die dem Menschen für sein Leben Anhaltspunkte geben. Diese inneren Bilder speichern, wie mit eigenen Bedürfnissen umzugehen, wie auf angenehme oder unangenehme Gefühlslagen und emotionale Ungleichgewichte zu reagieren ist. Diese „Rezepte“ geben an, was zu tun ist, um ein Ziel zu erreichen, um letztlich das innere Gleichgewicht aufrecht zu erhalten oder es wieder zu erlangen. Sie stellen grundlegendste Formen unseres Weltwissens dar und beeinflussen, wie wir mit unseren Wahrnehmungen und unserem...