Zwei: Eine Minimalethik guter Kommunikation
Der Buddha lehrte vier Übungen der rechten Rede. In ihrer negativen Formulierung sagen sie uns, was wir vermeiden sollen, weil sie uns und anderen schaden. Positiv formuliert sagen sie uns, was wir stattdessen tun sollen. Bei den vier Übungen geht es nicht um Verbote und Gebote, sondern um Bemühungen. Wir bemühen uns, nicht wissentlich zu lügen, sondern zu sagen, was wahr ist. Wir bemühen uns, andere nicht gezielt durch Worte oder Schweigen zu verletzen, sondern sie durch unsere Worte zu heilsamem Tun zu inspirieren und es zu fördern. Wir bemühen uns, nicht hinter ihrem Rücken schlecht über andere zur reden, sondern ihre guten Seiten zu sehen und anzusprechen und streitende Parteien zu versöhnen. Und wir bemühen uns, unser Leben und das von anderen nicht durch dummes Geschwätz zu vergeuden, sondern zu sagen, was sinnvoll und hilfreich ist. Wir üben etwas, weil wir es noch nicht können. Wenn wir mit diesen Übungen beginnen, werden wir immer wieder scheitern, aber dabei lernen wir uns und unsere Gewohnheiten besser kennen. Und wenn wir geduldig und ausdauernd üben, lernen wir auch, anders miteinander zu reden.
5. Wahrheit und Lüge
Lügen haben kurze Beine.
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,
auch wenn er dann die Wahrheit spricht.
»Im Anfang war das Wort.« So beginnt das Johannes-Evangelium. Westliche und buddhistische Philosophie sind sich einig: Wir nehmen nur das wahr, wofür wir einen Begriff beziehungsweise ein passende Konzept haben. Im Sommer 1977 war ich zum ersten Mal in Dharamsala, dem indischen Dorf, in dem der Dalai Lama mit einer großen Exilgemeinde lebt. Am zweiten Tag lernte ich bei einem Spaziergang eine Tibeterin kennen. Sie bat mich mit unverständlichen Worten und klaren Gesten in ihre gute Stube und fragte: »Söcha?« Sie meint bestimmt indischen Schwarztee, dachte ich, nickte und war glücklich, dass sie dieses lautlose Ja verstand. Voller Vorfreude nahm ich einen Schluck und – hätte das salzige und fettige Gebräu am liebsten ausgespuckt. Das war kein Schwarztee mit Milch, auf indisch »Chai«, sondern tibetischer Buttertee, »Söcha«, eben.
Der Umgang mit Wahrheit und Lüge ist keine einfache Sache und doch sehr wichtig für gute Beziehungen. Wir lernen Menschen vertrauen, die ehrlich sind und meinen, was sie sagen, und es dann auch tun. Das verstehen wir unter Wahrheit. Wenn wir etwas länger über das Thema nachdenken, wird es kompliziert. Es gibt »Wahrheiten«, die auf Übereinkunft beruhen. Damit haben wir in der Regel kein Problem. Eine Tasse heißt Tasse und funktioniert auch als Tasse. Ein Meter hat hundert Zentimeter. Das ist das Rathaus von Lübeck und nicht von Hamburg. Und das ist meine alte Freundin Maria und nicht mein Bruder Klaus. Schwieriger wird es, wenn Ansichten und Meinungen ins Spiel kommen. Sie sind persönlich und kulturell bedingt und gefärbt, und jeder Mensch trägt seine eigene Brille.
Die Schwierigkeiten verstärken sich, wenn unsere Mitmenschen anderer Meinung sind als wir oder die Dinge nicht so laufen, wie wir es gerne hätten. Dann verteidigen wir unsere Ansichten mit heftigen Emotionen und giftigen Worten. Was passiert da genau? Die deutsche Sprache sagt es uns deutlich: Wir sind enttäuscht, weil wir uns getäuscht haben.
Wir machen Pläne für die nächste Woche und erwarten, dass Kollegin Anita pünktlich zur Arbeit kommt und Kollege Bernd seine Aufgaben vollständig erledigt. Wir erwarten, dass uns die Verkäuferin kompetent und geduldig bei der Auswahl unter fünfzehn Käsesorten berät und die Deutsche Bahn rechtzeitig über die Ursachen von Verspätungen informiert. Wenn wir unsere Erwartung als Erwartung verstehen und begreifen, dass erst die Erfahrung zeigen wird, ob sie realistisch ist, sind wir auf der sicheren Seite. Wir haben eine Arbeitshypothese und beobachten, ob sie auch funktioniert. Das nennen wir allgemein »wissenschaftliches Denken«. In der buddhistischen Tradition wird es als »gültiges Denken« bezeichnet.
Normalerweise stützen wir uns den ganzen Tag und eher unbewusst auf unrealistische Erwartungen. Wir erwarten »einfach«, dass alle ihre Aufgaben perfekt erledigen, pünktlich sind und immer freundlich. Und – dass sie verstehen, dass wir selbst das leider nicht immer schaffen. Ein solches Denken stützt sich auf falsche oder »ungültige« Konzepte. Vorstellungen, Ansichten und Meinungen sind dann falsch, wenn wir nicht bemerken, dass es lediglich Arbeitshypothesen sind, und wenn sie nicht funktionieren. Eigentlich ist es ganz einfach, und die deutsche Sprache »sagt« es uns jeden Tag: Enttäuschungen basieren auf Täuschungen.
Wie können wir die Wahrheit sagen, wenn wir uns ständig täuschen? Die Antwort: Wir versuchen unser Bestes. Wir beginnen mit dem Verständnis, das wir jetzt haben. Zunächst bemühen wir uns, bewusste Lügen zu vermeiden und andere nicht absichtlich zu täuschen. Das ist leichter, als uns nie mehr zu täuschen. Wir können uns das für die nächsten zwei Stunden oder für den morgigen Tag vornehmen. Dann bemerken wir, ob und wie wir lügen. Manches würden wir nicht Lüge nennen, sondern vielleicht eine kleine Notlüge oder eine Konvention. Wir haben keine Zeit, und eine gute Freundin ruft an. Sie fragt uns, wie es uns geht, und wir sagen schnell: »Danke gut«, obwohl wir Magenschmerzen haben weil uns der gestrige Streit mit der Nachbarin immer noch ärgert. Wenn uns eine Freundin einen Seidenschal zum Geburtstag schenkt, der zwar ihr gefällt, aber uns nicht, sagen wir trotzdem: »Danke für das hübsche Geschenk«, und nicht: »Oh Gott, dieses Grün mag ich überhaupt nicht.« Es geht nicht darum, immer sein Innenleben authentisch zur Schau zu stellen oder auf Biegen und Brechen anderen »die Wahrheit« um die Ohren zu schlagen. Im ersten Schritt geht es einfach darum zu bemerken, ob und wie wir manchmal die Wahrheit zwar wissen, sie aber nicht oder weniger verbiegen.
Übung: Lügen
...
Wir denken an eine Situation aus den letzten Tagen, in der wir bewusst und willentlich die Unwahrheit gesagt haben. Wir fragen uns: »Was war mein Motiv? Was wollte ich damit erreichen? Wen wollte ich schützen? Was genau sollte die andere Person nicht erfahren?« Wir lassen die Situation noch einmal vor unserem inneren Auge ablaufen und fragen weiter: »Wie hat sich das auf die andere Person ausgewirkt? Hat sie es bemerkt? Hat die Lüge sie entspannt oder irritiert? Wie wirkt sich diese Lüge auf mich aus? Stärkt sie die Neigung, nicht genau hinzuschauen? Vermeide ich damit einen Konflikt? Vermeide ich damit Kontakt?« Dann denken wir an zwei, drei weitere Situationen, in denen wir wissentlich die Unwahrheit gesagt haben, und fragen uns: »Was steckt dahinter? Gibt es ähnliche Motive? Was spielt mit? Ängste, Abwehr, Unsicherheit?« Zum Abschluss nehmen wir uns vor, die nächsten drei Stunden oder einen ganzen Tag, so gut es geht, Lügen zu vermeiden.
Der nächste Schritt ist nicht so einfach. Statt zu lügen versuchen wir, die Wahrheit zu sagen. Genauer: Wir bemühen uns, nur das zu sagen, von dem wir wissen, dass es wahr ist. Wenn wir diese Empfehlung beherzigen, fällt es uns leichter, Ansichten und Meinungen als Arbeitshypothesen zu erkennen. Allerdings übertreiben wir es dann gerne und stolpern in eine Falle, in der schon viele gelandet sind, die ehrlich sein wollten. Da wir häufig nicht wissen, was »wirklich« wahr ist, meinen wir, keinen Standpunkt beziehen zu dürfen. Es geht aber darum zu bemerken, was wir denken, und dass das unser Standpunkt ist.
Was können wir tun, wenn wir ehrlich sein wollen, aber nicht genau wissen, was richtig oder wahr ist? Wir können häufiger die »Ich-Sprache« verwenden, wie das Kommunikationshandbücher seit den 1980er Jahren empfehlen. Wenn wir uns bemühen, die Wahrheit zu sagen, bemerken wir häufiger, dass wir zwar Meinungen haben, aber nicht wirklich wissen, was das Beste für die Freundin in ihrer Beziehungskrise ist oder wie man den Nahostkonflikt löst.
Wir müssen herausfinden, was wir denken. Und es auch mitteilen, wenn der rechte Zeitpunkt dafür gekommen ist und wir andere damit nicht verletzen. Wenn wir Wahrheiten über andere verbreiten, sollten wir überlegen, was wir damit erreichen wollen. Wollen wir uns mit dem Segen der ethischen Regeln rächen und eine Verletzung heimzahlen, nach dem Motto »gemein, aber wahr«? Es geht nicht darum, auf Biegen und Brechen die Wahrheit zu sagen, sondern es klug und angemessen zu tun. Manchmal sagen wir am besten nichts.
Übung: Die Wahrheit sagen
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Wir denken an eine Situation in den letzten Tagen, in der wir die Wahrheit gesagt haben, auch wenn es uns vielleicht schwerfiel. Wir fragen uns: »Was war der erste Impuls? Was wollte ich verschweigen oder beschönigen? Was hat mich motiviert, doch die Wahrheit zu sagen? Wie hat sich das augewirkt? Auf mich und die anderen?« Dann denken wir an eine Situation, in der wir jemanden mit einer Wahrheit verletzt haben. Wir fragen uns: »Was hat mich dazu gedrängt, klare Worte zu gebrauchen? Was habe ich mir davon erhofft? Was haben die offenen Worte bewirkt? Bei der anderen Person und bei mir? Gab es ein klitzekleines Gefühl der süßen Rache?« Sie können die Situation noch einmal durchspielen und versuchen, die Worte so zu wählen, dass sie die andere Person weniger oder gar nicht verletzen. Wenn es gelingt, freuen Sie sich darüber. Wenn nicht, versuchen Sie es später noch einmal.
Wann ist der rechte Zeitpunkt für ein klärendes Gespräch? Wann ist es sinnvoll und konstruktiv, »Tacheles« zu reden und die Wahrheit zu sagen? Dafür gibt es keine Patentrezepte....