JOÃO DE DEUS
Abadiânia, Brasilien
Um mein Vorhaben, alternative Heiler aufzusuchen anstatt mich operieren zu lassen, nachvollziehen zu können, muss ich auf ein Erlebnis zurückgreifen, das Jahre zurückliegt, in eine Zeit, als die Sonne für mich noch vom leuchtend blauen Himmel strahlte und sämtliche Herausforderungen meines Lebens flauschigen weißen Wattewolken glichen und nicht dunklen, bedrohlichen Gewitterwolken, wie nach dieser Tumordiagnose. Damals bat mich ein Freund, der an einer unheilbaren Krankheit litt, ihn zum mächtigsten Heiler der Welt, zu João Teixeira de Faria nach Brasilien, zu begleiten. Zwar hatte ich zu dieser Zeit noch keinerlei Erfahrung mit Themen wie diesen, aber ich war interessiert, und nachdem ich mich ein wenig mit João und seinem Wirken auseinandergesetzt hatte, konnte ich kaum glauben, dass jemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, diese Theorien ernst nehmen könnte. Aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb spielte ich auch gleich mit dem Gedanken, ein Buch über diesen außergewöhnlichen Menschen zu schreiben, ein kritisches Buch, eines mit Besinnung auf den Hausverstand. Denn so etwas fand ich nirgends.
João Teixeira de Faria wird von seinen Anhängern João de Deus genannt, ins Englische übersetzt heißt das nicht weniger als John of God, Johann von Gott also. Der Mann aus Brasilien gehört zweifellos zu den großen Mysterien der Menschheit. So behandelt er nicht etwa drei, sieben oder dreißig Personen an einem einzigen Tag, sondern bis zu tausend Menschen. Tausend Menschen. Pro Patient nimmt er sich dabei oft nur Bruchteile einer Sekunde Zeit. Er begibt sich dabei in eine Art Trancezustand und überlässt sowohl seinen Körper als auch sein Bewusstsein Geistern von bereits Verstorbenen. Sein Erscheinungsbild verändert sich durch die Besitznahme der fremden Geister oft dramatisch. Mal tritt er rau und bestimmt auf, dann wieder dominieren gutmütige Gesichtszüge sein Antlitz, voller Fürsorglichkeit, manchmal ist er auch dermaßen gebrechlich, dass er gestützt werden muss. Er wirkt dann, als ob er selbst Hilfe bräuchte und nicht wie ein Mensch, der anderen Menschen helfen könnte.
Aber das sind bloß nichtssagende Äußerlichkeiten, denn unabhängig von seinem Erscheinungsbild stecken seltsame Kräfte in seinem Körper, sobald die Geistwesen Besitz von ihm ergriffen haben. Insider erkennen allein an Joãos Wesensveränderung, welcher verstorbene Geist gerade in ihm wohnt. König Salomon oder Dr. Augusto de Almeida, um nur zwei zu nennen. Insgesamt wirken über dreißig verschiedene Wesenheiten durch John of God, allesamt waren sie außergewöhnliche Menschen in ihrer letzten Inkarnation in der physischen Welt. Dr. Oswaldo Cruz zum Beispiel war zu Lebzeiten für die Ausrottung des Gelbfiebers in Brasilien verantwortlich und wirkte an einer Vielzahl von wissenschaftlichen medizinischen Experimenten mit. Angeblich war er ein Mensch mit hoher Selbstdisziplin. Wenn er heute mit João verbunden ist, kommt es nicht selten vor, dass er undisziplinierte Besucher mit Strenge maßregelt.
Nun könnte man all das als Hirngespinste eines Sonderlings abtun, und jeder vernünftige Mensch wird das wahrscheinlich auch reflexartig tun. Denn den Verdacht, dass da bei John of God etwas Pathologisches mit im Spiel sein könnte, kann man niemandem verdenken, und selbst Menschen mit lediglich laienhaftem medizinischem Wissen kommt wohl nur allzu leicht das Krankheitsbild multiple Persönlichkeitsstörung in den Sinn. Menschen dieses Schlages haben abwechselnde Vorstellungen von sich selbst. Sie ändern ihre Identitäten, sind einmal Lehrer, dann wieder Mechaniker, Polizist oder Hure. Und je nachdem benehmen, fühlen oder denken sie auch, je nach angenommener Identität, teils völlig unterschiedlich. Im Filmklassiker »Das geheime Fenster« mimt Johnny Depp eine derartige Person. Depp killt darin sein gesamtes nahes Umfeld, ist sich dessen aber nicht bewusst, sondern fürchtet sich selbst vor dem mysteriösen Mörder. Er weiß bis zuletzt nicht, dass er selbst der Mörder ist. Und tatsächlich können sich auch im echten Leben Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung oft nur schemenhaft oder eben gar nicht an das Handeln der jeweils anderen, ihnen innewohnenden Persönlichkeiten erinnern.
Allesamt Symptome, die durchwegs auch João de Deus nachgesagt werden. Auch er jongliert mit verschiedenen Wesen herum, die angeblich seinen Körper besetzen. Auch er kann sich, nachdem er wieder er selbst ist, an nichts erinnern, befindet sich in einer Art Schlummerschlaf und weiß nicht, was er in dieser Zeit getan hat. Handelt es sich also auch bei João bloß um einen Menschen mit massiven psychischen Auffälligkeiten?
Verlockend wäre dieser Ansatz. Weil diese Erklärung nicht nur die naheliegendste und logischste sondern zweifelsohne auch die angenehmste Antwort wäre. Wunderbar ließe sie sich in unser Denken integrieren, ließe sich einfügen in unser herkömmliches Weltbild wie ein Puzzleteil, das dem finalen Bild letztlich mehr Ordnung schenkt. Aber John of Gods Wirken wirkt wie ein Puzzleteil, das nirgendwo hineinpasst, es sprengt herkömmliche Vorstellungen über unsere Welt.
Nicht wegen der Tausenden Menschen, die mittlerweile seit Jahrzehnten wöchentlich zu ihm pilgern und um Hilfe bitten, nicht wegen der mittlerweile Millionen Patienten, von denen er vielen helfen konnte. Und auch nicht wegen der angeblichen sekundenschnellen, meditativen Heilungen. All das ist verwunderlich, aber keineswegs als ernsthafter Angriff auf die Parameter unseres weltlichen Selbstverständnisses zu werten. Massen können sich täuschen, Menschen können sich schier Unglaubliches einreden, und selbst die außergewöhnlichste Heilung versetzt heutzutage keinen Arzt mehr ins Staunen, auch weil die Wirkkraft des Placeboeffekts und der menschlichen Selbstheilungskräfte längst erwiesen ist und in Zweifelsfällen immerzu als mögliche Erklärung bereitsteht. Nein, all das ist es nicht. Es sind jene sichtbaren Operationen, die John of God dreimal in der Woche, in Brasilien in dem kleinen Örtchen Abadiânia, vor Hunderten Zeugen durchführt, die wirken wie nicht von dieser Welt.
Mit einem Skalpell schneidet er bei diesen Operationen tief ins Fleisch der Patienten und reißt mittels sonderbaren Haken gallertartige Geschwülste aus den Wunden, er schabt mittels Küchenmesser am Auge des Hilfesuchenden herum, oder, und das repräsentiert die vielleicht sonderbarste Darbietung, er rammt die Klingen einer Schere so weit in die Nasenlöcher der Patienten, bis nur noch die Griffe sichtbar sind, und dreht die Schere danach wie einen Kreisel mehrmals um sich selbst, bevor er sie wieder aus den Nasenlöchern des Betroffenen zieht. Blut tropft dann zumeist aus den Nasen der Behandelten, die seltsam verstört wirken. Aber angeblich sind all diese Behandlungen absolut schmerzfrei, obwohl João de Deus ohne Narkose arbeitet. João de Deus wirkt während dieser Tätigkeiten eigenartig abwesend, Mimik und Gestik erscheinen auf das Wesentliche reduziert, sein Gesichtsausdruck gleicht jenem eines Sedierten, eines Menschen, dessen bewusste Wahrnehmung so stark gedämpft ist, dass er fremdgesteuert scheint.
Aber es wird noch mysteriöser. Während João operiert, kommt es vor, dass sein Blick nicht seinen Händen folgt, sondern auf andere Menschen oder Dinge gerichtet ist. João schabt dann zum Beispiel mit dem Skalpell die Pupille eines Patienten ab und blickt währenddessen die ganze Zeit zu seinem Assistenten, um ihm bereits detaillierte Anweisungen für den nächsten Patienten zu geben. Und hin und wieder operiert er mit verbundenen Augen, als Beweis quasi, dass nicht er operiert, sondern fremde Wesenheiten durch ihn wirken.
Man kann sich all das ansehen. Auf YouTube gibt es eine Vielzahl von Videos davon. »Videos?«, ruft der Kritiker, »auf Videos kann man alles türken.« Stimmt. Wer so denkt, ist mir Bruder im Geiste. Auch ich habe so gedacht. Das war vor sieben Jahren. Mit der Klarheit eines Bodenständigen, dessen Glaube lediglich in weltlichen und beweisbaren Errungenschaften wurzelte, flog ich nach Brasilien, um Antworten zu finden. Anfangs spiegelte das Erlebte meine Vorstellungen wider. Ein Haufen esoterisch angehauchter Menschen, deren Streben Erleuchtung und nicht Wissen galt und Unerklärliches höherhielt als sämtliche beweisbare Realitäten. Die ersten Tage in dem brasilianischen Dörfchen Abadiânia verstrichen zäh wie dickflüssige Lava kurz vor der Erstarrung. Täglich stellte ich mich in die Hunderte Menschen zählende Schlange, die sich durch sakrale Gebäude schlängelte, um mich nach Stunden des Wartens ein Sekündchen vor John of God zu wissen. Der saß mit eigenartiger Körperhaltung und wirrem Blick in einem hölzernen Stuhl und winkte mich jedes Mal durch, ohne sichtbar von mir Notiz zu nehmen. Sechsmal trottete ich an ihm vorbei, und es hätte wahrscheinlich keinen Unterschied gemacht, wenn anstelle von John of God mein Nachbar, mein Hund oder ein bunt bemalter Hydrant mir gegenüber gestanden wäre....