Einführung
Dieses Buch ist alles andere als eine erschöpfende Studie der menschlichen Anatomie oder der unüberschaubaren Wissenschaft vom Yoga. Ein solches Buch wäre unmöglich. Beide Wissensgebiete bergen unendlich viele Facetten, auf mikroskopischer wie auf makroskopischer Ebene – und alle sind unendlich faszinierend und unter Umständen auch nützlich. Wir möchten nur einige wichtige anatomische Details vorstellen, die für all jene von hohem Nutzen sind, die sich mit Yoga befassen, ob als Schüler oder als Lehrer.
Das wahre Selbst ist ein verkörpertes Selbst
Beim Yoga geht es darum, an etwas zu rühren, was tief in uns steckt: das wahre Selbst. Das Ziel dieser Suche wird oft in mystische Begriffe gefasst, so als existiere unser wahres Selbst nur auf einer nichtmateriellen Ebene. Dieses Buch vertritt die entgegengesetzte Haltung, nämlich dass wir unser Innerstes gerade dann erreichen, wenn wir uns in unseren physischen Körper begeben. Sobald wir dort angekommen sind, werden wir nicht nur unsere Anatomie begreifen, sondern diejenige Wirklichkeit erfahren, die uns mit den Grundprinzipien des Yoga in Einklang bringt.
Dies ist eine echte körperlich-spirituelle Erfahrung. Wir unterscheiden streng zwischen Mystik (der Behauptung einer wahrnehmbaren, übernatürlichen Wirklichkeit, die auf außersinnliche Weise erfahrbar ist) und Spiritualität (abgeleitet vom lateinischen Wort spiritus, das für »Atem« steht und für das Seelenhafte, Empfindsame und Lebendige im Menschen).
Der Grund für das wechselseitig Erhellende in der Beziehung zwischen Yoga und Anatomie ist ganz einfach: Die Urprinzipien des Yoga gründen auf einem feinen und tiefen Verständnis der Konstruktionsweise des menschlichen Körpers. Yoga befasst sich mit dem Selbst, und das Selbst ist eine Eigenschaft des physischen Körpers.
Yoga-Praxis und unterschiedliche Sichtweisen
Die alten überlieferten Lehren entwickelten sich einst durch weise Beobachtung des Lebens in all seinen Formen und Ausdrucksweisen. Die kenntnisreiche Beobachtung von Menschen machte das Praktizieren des Yoga (Kriya Yoga) möglich, wie es als Erster Patañjali formulierte und wie es Reinhold Niebuhr in seinem berühmten Gelassenheitsgebet nachempfand.1 Durch das Praktizieren lernen wir, zwischen Dingen zu unterscheiden (swadhyaya), die wir ändern können (tapah) und solchen, die wir nicht ändern können (isvara pranidhana).
Ist das nicht ein hervorragender Grund, im Zusammenhang mit Yoga die Anatomie zu studieren? Wir wollen wissen, was in uns ist, damit wir verstehen können, warum manche Dinge relativ leicht zu ändern sind, während es bei anderen so schwierig scheint. Wie viel Energie sollten wir darauf verwenden, unseren eigenen Widerstand zu überwinden? Wann sollten wir lieber daran arbeiten, uns in etwas zu fügen, was wahrscheinlich nicht veränderbar ist? Beides ist mühsam. Denn sich zu fügen, ist ein Willensakt. Dies sind nicht enden wollende Fragen, deren Antworten sich mit jedem Tag zu ändern scheinen – und genau deshalb müssen wir sie immer wieder stellen.
Ein paar anatomische Kenntnisse sind bei diesem Unterfangen hilfreich, besonders wenn wir das Thema Atmung in unsere Forschungen miteinbeziehen. Was macht den Atem zu einem derart fähigen Yoga-Lehrer? Die Atmung ist von zwiespältiger Natur, denn sie ist einerseits willkürlich, andererseits unwillkürlich und versinnbildlicht so die ewige Frage danach, was wir steuern oder ändern können und was nicht. Wir alle stehen irgendwann vor dieser persönlichen und doch universellen Frage, wenn wir uns weiterentwickeln wollen.
Willkommen in meinem Laboratorium
Yoga gibt dem Anatomiestudium einen Beziehungsrahmen, der auf der Frage gründet, wie sich die Lebenskraft selbst durch Bewegungen des Körpers, des Atems und des Geistes ausdrückt. Die uralte Metaphernsprache des Yoga hat sich durch anatomische Experimente von Millionen von Forschenden während Tausenden von Jahren gebildet. All diese Forschenden benutzten das gleiche Labor: den menschlichen Körper. Ziel dieses Buches ist es, eine Führung durch dieses Laboratorium anzubieten, die erklärt, wie die Gerätschaften funktionieren und welche Versuchsanordnungen einen Erkenntnisgewinn versprechen. Statt genauer Anleitungen für eine bestimmte Yoga-Richtung möchte ich solide Grundkenntnisse vermitteln, die der Ausübung aller Arten von Yoga zugrunde liegen.
Da es beim Yoga auf das Zusammenwirken von Atem und Wirbelsäule ankommt, werden wir diesen Systemen besondere Beachtung schenken. Indem alle anderen Körperstrukturen bezüglich ihres Verhältnisses zu Atem und Wirbelsäule untersucht werden, wird Yoga zur Grundlage für das Verständnis der Anatomie. Außerdem würdigen wir die yogische Sichtweise der dynamischen Verbundenheit, indem wir eine reduktionistische Analyse der Haltungen und eine Aufzählung ihrer Vorteile vermeiden.
Alles, was wir brauchen, ist da
Die alten Yogis waren der Ansicht, dass wir drei Leiber besitzen: einen physischen, einen astralen und einen kausalen. So gesehen ist die Yoga-Anatomie ein Studium der feinen Energieströme, die durch die Schichten oder »Hüllen« dieser drei Leiber fließen. Es geht in diesem Buch nicht darum, diese Ansicht zu untermauern oder infrage zu stellen. Aber ich möchte Ihnen als Leser dieses Buches die Vorstellung nahebringen, dass Sie einen Geist und einen Körper besitzen, der ein- und ausatmet und sich in einem Gravitationsfeld bewegt. Und so können Sie unermesslichen Nutzen aus einem Lernprozess ziehen, der Sie dazu befähigt, klarer zu denken, leichter zu atmen und sich effizienter zu bewegen. Das ist unser Ausgangspunkt und gleichzeitig die grundlegende Definition des Yoga-Praktizierens: die Integration von Geist, Atem und Körper.
Eine weitere alte Weisheit sagt uns, dass die Hauptaufgabe beim Yoga-Praktizieren darin besteht, Blockaden zu lösen, die dem natürlichen Funktionieren unseres Organismus im Wege stehen. Das mag einfach klingen, widerspricht jedoch der weitverbreiteten Ansicht, dass unsere Probleme auf einem Mangel an etwas beruhen. Durch Yoga können wir lernen, dass alles, was wir für Glück und Wohlbefinden brauchen, in unserem System bereits vorhanden ist. Wir müssen nur einige der Blockaden identifizieren und beseitigen, die die naturgegebenen Kräfte in ihrem Wirken behindern, »wie ein Bauer, der einen Damm ansticht, damit Wasser dort auf das Feld fließen kann, wo es gebraucht wird«2. Diesen Ausspruch darf sich jeder zu Herzen nehmen, egal wie alt, schwach oder unflexibel er ist: solange es Atem und Geist gibt, kann es auch Yoga geben.
Von der Wiege zur Schwerkraft
Statt den Körper als ein aus Zügen und Scharnieren bestehendes System zur Überwindung der Schwerkraft anzusehen, begreifen wir ihn als dynamisch verbundene Reihe von spiralförmigen Röhren, Kanälen und Kammern, die sich von innen heraus selbst stützen.
Diese Stützfunktion geschieht teilweise unabhängig von der Muskeltätigkeit und ihrer Stoffwechselleistung. Dieses Phänomen nennen wir »intrinsisches Gleichgewicht« und seine Wirkungsprinzipien lassen sich daran messen, wie Wirbelsäule, Brustkorb und Becken durch mechanische Spannung miteinander verknüpft sind. Die von diesen Strukturen gebildeten Hohlräume weisen einen Druckunterschied auf, der unsere Organe aufwärts streben lässt, hin zum Brustkorb, der Körperregion mit dem niedrigsten Druck.
Warum braucht man eine gewisse Praxis, um diese tief im Innern liegende Stützfunktion nutzen zu können? Gewohnheitsmäßige Anspannung häuft sich an im Laufe des lebenslangen Einsatzes von Zügen und Scharnieren gegen die ständige Belastung durch die Schwerkraft und laufend modulierte Atemmuster sind eine Methode, um unsere innere Gefühlswelt zu regulieren. Solche Atmungs- und Haltungsgewohnheiten wirken meist unbewusst, es sei denn, absichtliche Veränderungen (tapah) beeinflussen durch eine Praxis wie Yoga das System. Daher bezeichnen wir Yoga auch oft als kontrollierte Stresssituation.
Vor diesem Hintergrund wird das Praktizieren der Asanas zu einer systematischen Erforschung und Befreiung der tiefer liegenden, sich selbst erhaltenden Kräfte von Atem und Haltung. Vorschläge hinsichtlich Atmung, Körperhaltung und Achtsamkeit, die bei dieser Erforschung weiterhelfen können, bietet der Asana-Teil des Buches.
Asanas sind keine Formen, die dem menschlichen Organismus aufgezwungen werden sollen. Stattdessen sollten sie als Möglichkeit begriffen werden, die von der Natur vorgesehene innere Ordnung aufzudecken. Was nicht bedeutet, dass wir Fragen zur Haltung, Stellung oder zum Bewegungsablauf vernachlässigen sollten. Wir möchten nur betonen, dass die richtige Haltung ein Mittel zu einem höheren Zweck ist und kein Selbstzweck. Wir leben nicht, um Yoga auszuüben, sondern wir praktizieren Yoga, damit wir leben – leichter, freudvoller und anmutiger.
1 Reinhold Niebuhr (1892–1971), US-amerikanischer Theologe: »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«
2 Aus Yoga-Sutras von Patañjali, 4....