INDUSZAHLEN NACHWELLS
2011 ist die Dissertation von Bryan K. Wells „Epigraphic Approaches to Indus Writing“ erschienen, der 2015 eine weitere Publikation mit dem Titel „The Archaeology and Epigraphy of Indus Writing“ folgte. Wells hat unter Beteiligung von Andreas Fuls ein Programm zur Erforschung der Indusschrift entworfen.101 Er systematisiert das Material mithilfe des Computers und stellt eine Liste der Induszeichen auf. Dabei wurden 3903 Artefakte mit Inschriften berücksichtigt, 4794 Texte konnten bestimmt werden. Im Korpus befinden sich 17650 erkennbare Induszeichen. Detaillierte Untersuchungen führten zum Ergebnis, dass darin 694 Zeichen vorkommen.102 Wells unterscheidet zwischen den geformten (patterned) und den komplexen Texten. Die geformten Texte bestehen aus drei Gruppen (cluster) - Terminal, Medial und Initial: „When we have clear texts of any kind, we can analyze them with structural analysis and segmentation routines to define sub-elements. The most common structure is three-part with initial, medial and terminal sign cluster. These are most likely subject-objectverb elements, not necessarily in that order. What we do know is that, in their fullest from these subunits consist of 1-5 signs, but on average about 3 signs per cluster.”103 Zu den komplexen Texten heißt es weiter: “Complex texts do not follow the method of sign cluster sequencing described in the sections above. Some of these texts do contain one element of Patterned Texts, but often in a different order and always with sign sequences that cannot be easily segmented into separate syntactic elements.”104
Was die Ergebnisse seiner Untersuchungen anbelangt, fasst sie Wells im Vorwort seiner 2011 erschienenen Arbeit in sieben Punkten zusammen, die er in nachfolgenden Kapiteln weiter erörtert:105
- Die Indusschrift entstand am Ort und wurde von Markierungen auf Tonscherben/Keramiken aus Baluchistan und nördlichen Pakistan beeinflusst.
- Die Indusschrift ist logosilbig, d. h. die Schrift verwendet beide Wortzeichen und Wortbildungszeichen. Auf der Basis des Zusammenhanges der Zeichen ist es möglich, einige Zeichen entweder als Logographen, oder als Silben zu identifizieren.
- Um die Zeichen in längeren Reihen zu kombinieren, werden in der Indusschrift Präfix, Infix und Suffix verwendet.
- Die Reihenfolgen der Zeichen und die Zeichengruppen sind relativ beständig. Dieses Charakteristikum deutet auf die Syntax der Indussprache hin.
- Die Art der Textbildung schließt die dravidischen Sprachen als der Ursprung der Indussprache aus. Proto- und Para-Munda-Sprachen als Ursprünge der Indussprache können weder ausgeschlossen, noch überprüft werden, folglich bleiben sie Kandidaten für weitere Forschung.
- Das Indus-Zahlensystem ist kompliziert und verwendet drei grundlegende Systeme, ergänzt durch mehrere Sonderzeichen. Diese Systeme zählen von 1 bis 7 (kurze Striche), 2 bis 9 (gestapelte, kurze Striche) und 1 bis 6 (lange Striche). Größere Zahlen werden mit Reihen von Zahlzeichen gebildet.
- Bei dem derzeitigen Stand des Sachverhaltes dürfte es nicht möglich sein, die Indusschrift zu entziffern, jedoch ist die Situation derart, dass die Entdeckung eines Textes aus 50 oder mehr Zeichen eine Entzifferung möglich machen könnte.
Was hier den Punkt 5 anbelangt, revidiert Wells später seine Ansicht, und geht nun davon aus, dass die dravidische Sprache als der Ursprung der Indussprache nicht ausgeschlossen werden kann.106 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Objekt mit Inschriften, gefunden in dem Ort Dholavira auf einer Insel in Rann von Kutch des indischen Bundesstaats Gujarat. Wells meint, dass darin der Ortsname erhalten sein könnte: “The closest thing to monumental inscription in the Indus corpus is the Dholavira sign board (Parpola 1994). The text consisted of nine signs formed by arranging pieces of crystalline stone inlayed into a wooden plank, with signs about 30 cm high. Discovered in a side chamber near one of the main entrances to Dholavira…. It has been suggested that it hung over the entranceway of the gate. I would postulate that some of these signs could be spelling the ancient name of Dholavira.”107 In seiner späteren Arbeit begründet Wells seine Auffassung, in der er seine Vorstellung von „den geformten Texten aus drei Gruppen“ Gebrauch macht, und bringt den Befund aus Dholavira mit der dravidischen Sprache in Verbindung: “Assuming that this identification of the toponym and name are correct, this has implications for the root language of the script. This is the pattern you would expect for a Dravidian language.”108
Nach Wells sind alle kurzen und langen Striche der Induskultur Zahlzeichen, manche von ihnen haben zugleich eine andere Funktion. Die langen Striche und die beiden kurzen Striche eins und zwei können polyvalent sein, d. h. ein und dasselbe Zeichen je nach dem Kontext unterschiedlichen Wert gehabt haben. Es wird in diesem Zusammenhang auf ähnliche Verwendung der Zahlen in anderen Kulturkreisen der Antike hingewiesen. Wells bemüht sich die Striche zu systematisieren, um ihre Eigentümlichkeiten erkennbar zu machen (Tab. 1). Dabei werden die kurzen Striche in drei Gruppen eingeteilt, in der ersten Gruppe die Striche 1 bis 7 nebeneinander in einer Reihe, in der zweiten Gruppe 2 bis 10 Striche gestaffelt übereinander in zwei Reihen und in der dritten Gruppe 5 bis 9 ebenfalls übereinander in drei Reihen. Die langen Striche sind von 1 bis 7 und 9 belegt, 8 ist bisher nicht bekannt geworden. Wells schließt nicht aus, dass sich die Striche auf zwei Systeme beziehen könnten. Außer den genannten Strichen kommen noch vier Zeichen als Zahlzeichen in Frage, die als Sonderzeichen bezeichnet werden. Es handelt sich um folgende:
Tab.1: Verteilung der kurzen und langen Striche (hier Abk. Str.) in den Zahlzeichen der Induskultur nach Wells (2015, 66, Fig.5.1).
Dass die Zeichen B und C Zahlzeichen sein könnten, ist zuvor vermutet worden. Das Zeichen C fällt unter die Gruppe 3 der kurzen Striche. Wells ist über die Bedeutung des Zeichens D als ein Zahlzeichen unschlüssig und lässt es in seiner späteren Publikation aus. Das Zeichen A ist ein wichtiges Zahlzeichen, sollte Wells mit seiner Deutung Recht haben, dann ist es ein bedeutsamer Schritt zum Verständnis des Induszahlensystems, wie unten noch zu erkennen sein wird. Trotz einiger Schwierigkeiten hält Wells ein dezimales Zahlensystem der Induskultur für wahrscheinlich, ohne ein oktales System völlig auszuschließen.109 Außerdem vermutet er, dass die Zahlen im Zahlensystem Stellenwert (positional numerals) gehabt haben könnten.110
Eine Besonderheit seiner Forschungsarbeit ist sein Versuch, Zahlzeichen mit den Volumen der Töpfe in Verbindung zu bringen. Er macht zunächst darauf aufmerksam, dass auf einem Flachrelief aus Mohenjo-daro (M 478) einige Zeichen dargestellt werden111. Darunter finden sich ein V-Zeichen mit 4 kurzen Strichen und ein vor einem Baum sitzender Mensch, der ein V-Zeichen in der Hand hält (s. hier Abb.7, darin wird das Objekt statt V-Zeichen U-Zeichen genannt). Wells geht davon aus, dass es sich bei diesem Zeichen um einen Topf handelt und bemüht sich zu erkennen, ob zwischen den Strichen und den Volumen des Topfes eine Relation besteht.112 In den 20er/30er Jahren hatte Madho S. Vats in Harappa ausgegraben, er fand 3 Tontöpfe, an einem davon wurden 1 V-Zeichen und 2 lange Striche (H 372) angebracht.113 Die anderen beiden Töpfe weisen jeweils nur lange Striche auf, also ohne V-Zeichen. Dabei lassen sich an einem Topf 7 Striche (H 370) und an dem andren nach Wells 6 Striche (H 371) erkennen.114
Abb. 1: Tontopf, darauf 7 senkrechte Striche und schräger Strich, Harappa (CISI-1, 234, H-371).
Um seine Fragestellung betreffend der Beziehung zwischen Zahlzeichen und V-Zeichen zu klären, macht Wells diese Töpfe zum Gegenstand seiner Betrachtung. Hierzu kommt noch ein Topf aus Kalibagan (K 90), dieser hat 2 Striche in einer oberen Reihe und 3 weitere Zeichen in der unteren Reihe, darunter auch ein V-Zeichen. Damit erhält Wells folgende Zeichen: V2, V6 und V7 und deutet V als ein Einheitenzeichen einer Basiseinheit vom Volumen. Er ermittelt dann rechnerisch die Volumen der Töpfe unter Berücksichtigung, dass sie rund oder oval sein können, und gelangte zu dem Ergebnis, dass zwischen den Strichen und dem V-Zeichen eine Beziehung besteht, d. h. die Zahlzeichen sich auf das jeweilige Volumen beziehen. Umgerechnet in Liter ergibt sich 40,4 Liter für das Zeichen V1. Wells glaubt, dass dieser Befund in der Beschaffenheit des Gefäßes aus Kalibagan (K 90), dessen Volum er ebenfalls rechnerisch ermittelte, eine Bestätigung findet.
Die Auffassungen bleiben jedoch nicht unproblematisch: Wells, der die 3 Töpfe an Ort und Stelle in Augenschein genommen hatte, glaubt 6 Striche an dem Topf H 371...