Ein Vorwort. Noch ein Erziehungsratgeber?
Zuerst fragt man sich natürlich, warum man dieses Buch lesen sollte, es gibt doch bereits so viele zum Thema Erziehung. Die Antwort: Genau aus diesem Grunde!
Es gibt deshalb so viele Erziehungsratgeber, weil das Thema, wie jeder weiß, ein Zankapfel ist. Das Problem: Wir wissen nicht mehr so genau, was richtig oder falsch ist. Manche lehnen Strafen kategorisch ab oder halten Lob für schädlich, andere loben Disziplin oder bevorzugen antiautoritäre Erziehung, fordern Chinesisch im Kindergarten oder verteufeln Kinderkrippen. Es ist gar nicht so einfach, sich aus der verwirrenden Vielfalt gegensätzlicher Meinungen eine eigene zu bilden. Doch genau hinter diesem bewussten Bemühen versteckt sich das eigentliche Problem, das sich nicht auf den ersten Blick erschließt.
Um sich einem Problem als Betroffener zu nähern, ist es immer gut, zunächst ein paar Schritte zurückzutreten und sich unvoreingenommen einen größeren Überblick zu verschaffen. Das wollen wir hier tun. Der Leser wird eingeladen, auf eine kleine Entdeckungsreise zu gehen und sich diesem Thema aus dem Blickwinkel sehr unterschiedlicher Fachgebiete zu nähern.
Die Quintessenz daraus ist dann aber doch verblüffend simpel: Es läuft darauf hinaus, den Unterschied zwischen bewusstem und unbewusstem Handeln zu verstehen.
Wir alle denken nämlich, dass unser Verhalten von unserem Verstand, also vom Bewusstsein gelenkt werde. Man müsse nur logisch denken - dann klappe das schon mit der Erziehung der eigenen Kinder. Das ist sicher richtig, aber leider noch nicht alles. Denn unser Bewusstsein und unsere Vernunft haben weniger Einfluss auf unser Verhalten als wir vielleicht ahnen. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Unsere Motivation zum Handeln wird vor allem von unserem „Unter“-Bewusstsein gesteuert.
Das unbewusst richtige Reagieren wie auch die nonverbale Kommunikation durch Körpersprache und Mimik funktionieren auch bei uns noch wie bei vielen Säugetieren, die in Sozialverbänden leben, und ist unsere stammesgeschichtlich ältere Kommunikationsform. Der moderne Mensch glaubt jedoch oft, sie sei überflüssig geworden.
Das hat dann fatale Auswirkungen, wenn es um Interaktionen mit Kleinkindern geht, die noch keine verbale Sprache verstehen und logischen Argumenten nicht folgen können.
Und jetzt kommt das Problem: Auch die nonverbale Kommunikation ist nicht angeboren. Sie wird vom Kleinkind erst erlernt. Oder besser: kopiert. Unbewusst koppelt es das bei den Erwachsenen Beobachtete an seine dabei erlebten Gefühle wie Wohlbefinden, Lust oder Angst, und wird es später intuitiv nachahmen oder vermeiden. Das ist etwas sehr Bedeutsames, denn erst diese Fertigkeit ermöglicht ein konfliktfreies Aufwachsen in einer Gemeinschaft. Dieser lange bekannte Tatbestand erklärt, warum Kleinkinder nicht wie kleine Erwachsene behandelt werden dürfen, sondern vor allem anfangs nur intuitiv gelenkt werden können, so wie der Säugetiernachwuchs auch. Später, wenn sie dann zu verbaler Kommunikation fähig sind, leben sie so wie Erwachsene „zweisprachig“.
Doch das „Bauchgefühl“, das wir für die nonverbale Kommunikation und unsere unbewussten Handlungen benötigen, ist uns in unserer modernen Gesellschaft ganz offenbar unbemerkt abhanden gekommen. So entstand Unsicherheit bei vielen Eltern.
Man begann darüber nachzudenken und hat (weil uns logischerweise unser unbewusstes Handeln im jeweiligen Moment natürlich nicht bewusst ist) diese Unsicherheit im Alltag einfach durch Aktionismus verdrängt. Dadurch erst konnte Erziehung zum Zankapfel werden: Man konzentrierte sich auf bewusste erzieherische Handlungen, lenkte das Problem auf Nebenschauplätze, verwechselte Wünschenswertes mit Machbarem, suchte Schuldige, rang um Organisationsformen - und übersah etwas scheinbar Nebensächliches.
Es gibt dabei noch einen zweiten Aspekt. In der nächsten Generation kann diese „erste Sprache“ (die nonverbale Kommunikation und das intuitiv richtige Handeln), natürlich nur so gut entwickelt werden, wie sie den Kindern von ihren Eltern unbewusst vorgelebt wird. Gibt es Defizite, werden sie sich wiederholen. Es droht ein Dominoeffekt, dessen Auswirkungen sich über Generationen sogar potenzieren können.
Die Bemühungen, darüber nachzudenken, könnten aber vielleicht doch dazu führen, dieses scheinbar Nebensächliche, die unbewussten elterlichen Einflussnahmen, in den Fokus des Interesses zu rücken. Über den Umweg der Beobachtung der eigenen Wirkung auf das Kind kann den Eltern, sozusagen im Nachhinein, eine Analyse ihres Verhaltens gelingen. Doch der Weg von einer Erkenntnis zur bewussten Änderung des eigenen Verhaltens ist sehr mühsam. Noch dazu das Vorhaben, eigene unbewusste Verhaltensmuster als fehlerhaft zu identifizieren und dann auch noch bewusst ändern zu wollen. Eine schier unlösbare Aufgabe im Alltagsgeschäft.
Genau das ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Buches.
Es möchte Eltern sensibilisieren: Erziehung heißt eben nicht nur, einen Plan haben und danach handeln. Erziehen „passiert“ einfach - unbewusst. In jeder Sekunde, wo Erwachsene und Kinder (jeden Alters!) interagieren. Wenn allerdings Eltern im Alltag verbal etwas formulieren und nonverbal ungewollt etwas ganz anderes signalisieren, dann geht Eindeutigkeit verloren. Das ist der Punkt! Ohne Eindeutigkeit kann Erziehung nicht gelingen.
Konkret heißt das: Wenn Kleinkinder keine unmittelbare adäquate Resonanz durch Erwachsene erfahren, können - wie wir sehen werden - lebenslange Defizite emotionaler, sozialer und manchmal sogar analytischer Intelligenz entstehen (denen wir heute bei einer gefühlten Mehrheit der Jugendlichen so fassungslos gegenüberstehen).
Die Intuition wird deshalb in diesem Buch sehr schnell ins Zentrum des Interesses gerückt. Sie ist das Bauchgefühl oder auch Fingerspitzengefühl im Umgang mit Kindern, das Gespür, im jeweiligen Moment sofort - ohne groß nachzudenken! - das Richtige zu tun. Sie kommt aus dem Unterbewusstsein. Doch was ist das eigentlich? Wir werden uns diesem irritierenden Wort-Ungetüm nähern und versuchen, es zu begreifen. Auch ein Blick ins Tierreich wird sehr hilfreich sein.
Erziehung ist also mehr als bewusste Pädagogik, auf die sie oft verkürzt wird. Sie besteht, wenn man so will, aus Aktion und Reaktion, wie ein Ping-Pong-Spiel. Was sich dabei im Kopf abspielt, wird in diesem Buch offengelegt. Das ist weit mehr als Denken und Reden. Das Buch ist ein kurzweiliger populärwissenschaftlicher Leitfaden zum Durchschauen und Verstehen zwingender biologischer Zusammenhänge rund um Kindheit und Erziehung für Eltern und andere Erwachsene, aus dem jeder seine eigenen Rückschlüsse ziehen kann.
In diesem Kontext werden alle relevanten Themen angeschnitten und zu einem kompletten Puzzle zusammengesetzt. Wir werden sehen, dass alles mit allem zusammenhängt: Persönlichkeitsstruktur und Intelligenz, Unterbewusstsein und Bewusstsein, Intuition und Mitgefühl, die Wechselwirkung von Trieben und willentlichen Handlungen, Zuwendung und Glück, Lob und Strafen, Selbstdisziplin und Motivation, Lernen-Wollen und Lernen-Lernen, Stressbelastung und Stressbewältigung, Gemeinsinn und Solidarität, Sprache und Streitkultur, Medienkonsum und der Umgang mit dem „digitalen Ich“, soziales oder kriminelles Engagement bei Heranwachsenden wie auch die Bildungs- und Sozialpolitik. Wir holen uns dieses Wissen aus den unterschiedlichsten Fachgebieten, auch aus solchen, von denen mancher vielleicht glaubt, dass einige davon überhaupt nichts mit Kindererziehung zu tun hätten wie Biologie, Stammesgeschichte, Kulturanthropologie, Genetik, Neurophysiologie, Verhaltensbiologie, Medizin, Psychologie, Pädagogik, Soziologie oder Verhaltensökonomie.
Die Summe dieser Einblicke in die bio-psychologische Bedingtheit von Erziehung macht sehr deutlich sichtbar, wie und warum Kinder in ihren unterschiedlichen Entwicklungsphasen so und eben nicht anders reagieren und was für ihre optimale Entwicklung in welchen Zeitfenstern warum zu leisten oder aber zu unterlassen wäre. Eigentlich ganz simpel.
Was aber machen wir heutigen Eltern falsch? Und warum?
Dem Hauptthema dieses Buches folgend wird aufgezeigt, wie auf Grund mangelnder elterlicher Intuition in den ersten drei Lebensjahren neben der Vernachlässigung ausgerechnet durch Verwöhnung der Boden für Egoismus, fehlendes Mitgefühl, Gewaltbereitschaft, asoziales Verhalten, Leistungsverweigerung und jene absurde Anspruchshaltung bereitet wird. Es wird deutlich, dass Verwöhnung und damit Unterforderung zwingend zu Unzufriedenheit und Aggressionen führen. Das sollten alle Eltern und auch Erzieher und Bildungspolitiker wissen.
Letztlich entkräftet das Buch die These, das Dilemma der viel zitierten Bildungskatastrophe in Deutschland sei durch Alltagsstress in unserer schnelllebigen Zeit, Überforderung, falsche Schulkonzepte, Unterfinanzierung des Bildungswesens oder die neuen Medien entstanden. Die Ursachen dafür finden sich eher in dem Preis, den wir alle unbemerkt für den Wohlstand gezahlt haben: im Verlust instinktiver Sicherheiten als Leitlinien unseres Verhaltens und des Umgangs miteinander. Wohlstand lenkt die...