Einleitung
Buchdruckerkunst, Schießpulver und der Kompass –
diese drei haben die Gestalt und das Antlitz der Dinge
auf dieser Erde verändert.
Francis Bacon, Novum Organum1 (1620)
Es war ein Abend Ende 1999, ich saß zu Hause vor dem Fernseher und schaute die Nachrichten. Nachdem die Sprecherin die wichtigsten Geschehnisse des Tages präsentiert hatte, begann sie mit einem Resümee der, so meine Erwartung, Ereignisse der vergangenen zwölf Monate, wie das an solchen Abenden Ende Dezember eben so üblich ist. In dem Jahr allerdings setzte sie zu einer Rückschau auf das ganze 20. Jahrhundert an. »Da wir uns nun dem Ende des Jahrhunderts nähern, das mehr Veränderungen erlebt hat als jedes andere …«, begann sie. Ich nahm diese Worte auf, behielt sie im Gedächtnis und begann darüber nachzudenken. Was wissen wir wirklich über Veränderungen, fragte ich mich. Was macht diese Nachrichtensprecherin so sicher, dass das 20. Jahrhundert mehr Veränderungen verzeichnete als beispielsweise das 19., als die Eisenbahnen die Welt erschlossen? Oder das 16., als Kopernikus verkündete, dass die Erde um die Sonne kreise, und Luther die christliche Kirche spaltete? Jetzt tauchten Schwarz-Weiß-Aufnahmen – ein Atompilz, Mondraketen, Autos und Computer – auf der Mattscheibe auf. Die Aussage der Sprecherin, dass das 20. Jahrhundert mehr Veränderungen erlebt habe als jedes andere, beruhte offensichtlich auf der Annahme, dass ›Veränderung‹ ein Synonym für technische Entwicklung ist – und dass die Innovationen des 20. Jahrhunderts nicht ihresgleichen haben.
In den Jahren, die seither vergangen sind, habe ich mit sehr vielen Menschen über »Veränderungen« oder »Wandel« gesprochen. Wenn ich frage: ›Welches Jahrhundert erlebte die meisten Veränderungen?‹, sind fast alle derselben Meinung wie die Nachrichtensprecherin: Ganz sicher das 20. Manche lachen schon darüber, dass ich etwas anderes auch nur in Erwägung ziehe. Wenn sie erklären sollen, warum sie für das 20. Jahrhundert plädieren, antworten sie gewöhnlich mit dem Verweis auf eine oder mehrere von fünf großen Erfindungen: das Fliegen, die Atombombe, die Raumfahrt, das Internet und das Handy. Sie scheinen zu glauben, dass diese modernen Errungenschaften alles Frühere in den Schatten stellen und dass Veränderungen in früheren Jahrhunderten im Vergleich dazu kaum spürbar waren. Das ist in meinen Augen eine Illusion – die Annahme, dass die modernen Neuerungen die bedeutsamsten Veränderungen darstellen, ebenso wie die, dass die Vormoderne relativ statisch war. Nur weil eine bestimmte Entwicklung ihren Höhepunkt im 20. Jahrhundert erreichte, bedeutet das noch nicht, dass sich die Welt in diesem Jahrhundert am schnellsten veränderte. Die Illusion wird noch verstärkt durch die natürliche Neigung, Ereignisse, die wir mit eigenen Augen – entweder persönlich oder zumindest live im Fernsehen – gesehen haben, wichtiger zu finden als Ereignisse, deren Zeitzeugen nicht mehr leben.
Nur eine kleine Minderheit meiner Gesprächspartner sieht sofort mögliche Kandidaten außer dem 20. Jahrhundert, normalerweise, weil sie auf einem Spezialgebiet arbeitet, das ihr die Folgen einer früheren technischen Entwicklung bewusst macht – seien es der Steigbügel, der von Pferden gezogene Pflug, die Druckerpresse oder das Telefon. Ich habe nicht mitgezählt, aber es ist wohl ein guter Näherungswert, wenn ich sage, dass auf die Frage »Welches Jahrhundert erlebte die meisten Veränderungen?« 95 Prozent der Menschen mit »Das 20. Jahrhundert« antworteten und dies mit technischen Neuerungen begründeten; die übrigen nannten meist aufgrund einer anderen technischen Erfindung ein früheres Jahrhundert, und nur eine Handvoll bezog sich auf ein nicht-technisches Geschehen vor 1900, wie etwa die Renaissance oder den Kampf um die Frauenrechte. Soweit ich mich erinnere, nannte überhaupt niemand ein Jahrhundert vor 1000, obwohl man mit guten Gründen für das fünfte eintreten könnte, in dem die Westhälfte des Römischen Reiches zusammenbrach.
Manche meiner Gesprächspartner antworteten mit einer Gegenfrage: »Was verstehen Sie unter Veränderung?« Das ist eine naheliegende Reaktion, aber gleichzeitig ist sie auch ziemlich seltsam. Jeder weiß doch, was Veränderung ist. Wenn man die Menschen jedoch bittet, das Jahrhundert zu nennen, in dem sich die größten Veränderungen vollzogen, scheint ihnen die Bedeutung des Wortes zu entgleiten. Die kollektive menschliche Erfahrung über einen so langen Zeitraum hinweg ist einfach so gewaltig, dass wir die Unmengen von Veränderungen, die dazugehören, gar nicht gedanklich fassen können – zusammengenommen sind all die verschiedenen Faktoren unüberschaubar. Wir können bestimmte spezifische Veränderungen über die Jahrhunderte hinweg – Lebenserwartung bei der Geburt, Reproduktionsraten, Lebensdauer, Größe, Kalorienverbrauch pro Kopf, durchschnittliche Arbeitslöhne – und für einen großen Teil der letzten tausend Jahre auch solche Dinge wie Gottesdienstbesuch, Gewaltniveau, relativen Wohlstand und Alphabetisierungsquote mit Zahlen belegen; doch um einen dieser Aspekte genau zu quantifizieren, müssen wir ihn von allen anderen Aspekten unseres Lebens isolieren. Und Unterschiede in der Lebensführung können wir nicht messen. Das ist, als würde man Liebe messen wollen.
Eigentlich ist es sogar noch wesentlich komplizierter. Für Liebe kann man immerhin noch einen Maßstab entwickeln – etwa von dem Gedanken, vielleicht eine Karte zum Valentinstag zu schicken, bis hin zu den tausend Schiffen, die man in See stechen lässt, um die Geliebte zurückzugewinnen. Für Lebensstile gibt es keinen Maßstab. Jeder quantifizierbaren Veränderung, die man womöglich als besonders signifikant gelten lässt, kann man eine andere quantifizierbare Veränderung gegenüberstellen. So erlebte das 20. Jahrhundert zum Beispiel sicher den stärksten Anstieg der Lebenserwartung bei der Geburt: Sie nahm in den meisten europäischen Ländern um über 60 Prozent zu. Dagegen jedoch kann man argumentieren, dass einzelne Männer und Frauen im Grunde die gleiche potenzielle Lebensspanne hatten wie in den Jahrhunderten zuvor. Selbst im Mittelalter wurden einige Menschen 90 Jahre alt oder noch älter. Der hl. Gilbert von Sempringham starb 1189 im gesegneten Alter von 106 Jahren; Sir John de Sully starb 1387 mit 105. Nur sehr wenige Menschen leben heute länger. Zugegeben, es gab vergleichsweise wenige über Achtzigjährige im Mittelalter – 50 Prozent der Neugeborenen erreichten noch nicht einmal das Erwachsenenalter –, doch in Bezug auf die maximal erreichbare Lebensdauer gab es im ganzen Jahrtausend nur wenig Veränderung. Sobald man versucht, etwas Messbares zu finden, um die Frage nach den »größten Veränderungen« zu beantworten, kommen einem andere messbare Fakten in die Quere. Warum die eine auswählen und nicht die andere? Wie das Beispiel Lebenserwartung contra erreichbares Lebensalter zeigt, ist es nur eine Sache der persönlichen Präferenz.
Davon ausgehend könnte man jetzt sagen, dass die Frage nur ein Gesellschaftsspiel ist, ein anregendes Thema für amüsante Diskussionen, wie etwa »Wer war der größte König Englands?« Tatsächlich aber ist es eine ernste Angelegenheit. Wie ich schon in meinem Buch Im Mittelalter zu zeigen versucht habe, liefert uns das Wissen um die menschliche Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten ein tieferes Verständnis des menschlichen Wesens als die relativ oberflächlichen Eindrücke, die wir beim Betrachten unseres heutigen Lebensstils gewinnen. Geschichte hilft uns, die ganze Palette unserer Fähigkeiten und Defizite als Menschen zu sehen; sie ist nicht einfach ein nostalgischer Blick zurück. Man kann die Gegenwart nicht in Perspektive setzen, ohne auf die Vergangenheit zu schauen. Erst im Rückblick auf das 14. Jahrhundert können wir beispielsweise erkennen, wie belastbar wir gegenüber so verheerenden Katastrophen wie der Pest sind. Und nur in der Betrachtung solcher Ereignisse wie des Zweiten Weltkriegs können wir sehen, welche Veränderungen massive, durch Menschen hervorgerufene Krisen auslösen können.
Ähnlich lehrt uns ein Blick auf die Geschichte der Regierungen des Westens in den letzten hundert Jahren, wie kurzsichtig und sprunghaft wir heute in den westlichen Demokratien agieren, in denen Politiker den Launen der Gesellschaft nachgeben und schnelle Lösungen für aktuelle Probleme suchen. Nur Diktatoren planen für tausend Jahre. Die Geschichte lehrt uns, wie gewalttätig, sexistisch und grausam unsere eigenen Gesellschaften einst waren – und wieder werden können. Die Geschichtswissenschaft verfolgt viele Ziele – vom Wunsch nach Wissen darüber, wie unsere moderne Welt sich entwickelt hat, bis zu Erkenntnissen dazu, wie wir uns vergnügen –, doch im Grunde geht es bei all diesen Bemühungen darum, etwas über das Wesen der Menschheit in all ihren Extremen zu enthüllen.
Dieses Buch ist meine ziemlich späte Antwort auf die Frage, die die Nachrichtensprecherin damals im Dezember 1999 andeutete. Allerdings muss ich sagen, dass ich bei dem Versuch, das eine Jahrhundert zu bestimmen, das mehr Veränderungen erlebte als jedes andere, gewisse Parameter festgelegt habe. Zunächst einmal behalte ich die uneindeutige und vage Definition von »Veränderung« bei, sodass sie die maximale Spanne möglicher Entwicklungen umfasst, die im jeweiligen Jahrhundert eine Rolle spielten. Nur am Schluss der Kapitel versuche ich, diese Veränderungen einzuordnen. Und zweitens betrachte ich nur zehn...