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Die Freiheit der Verlierer
oder:
Buddhas Erleuchtung
und die Wurzeln
des Zen in Indien
Freedom’s just another word
for nothing left to lose.
Janis Joplin
Die Geschichte des Zen beginnt mit einem Verlierer – einem Typen, der es trotz bester Voraussetzungen nach allen Standards unserer Gesellschaft »zu nichts gebracht« hat.
Auch wenn die kulturellen Rahmenbedingungen seines Lebens etwas anders aussahen als die der heutigen abendländischen Welt, war seine existenzielle Situation doch mit der vieler Mitglieder der modernen Konsumgesellschaft vergleichbar. Er war als vom Schicksal begünstigter, verwöhnter Knabe in äußeren Umständen aufgewachsen, unter denen es ihm an nichts mangelte. Schon als junger Mann besaß er alles, was man so haben muss, um als einer zu gelten, der es »geschafft« hat: Er war reich, er hatte eine schöne Wohnung, er genoss die Privilegien der Macht und kannte alle sinnlichen Freuden, er hatte eine schöne junge Frau und einen gesunden Sohn … Was will man mehr?
Und trotzdem war dieser undankbare Mensch nicht zufrieden, lebte er nicht in Frieden. Er wurde umgetrieben von einem nagenden, den Alltag aushöhlenden Zweifel, verfolgt von dem geradezu archetypischen Schreckgespenst der Arrivierten – der nicht zum Schweigen zu bringenden Frage: »Ist das etwa alles?« Geld, Ansehen, Macht, Sex, Sicherheit … und dann? Und dann ist da die schmerzlich am eigenen Leib erfahrene Bestätigung der Binsenweisheit, dass alle diese Dinge nicht glücklich machen, ja nicht einmal »beruhigen«.
Wie kann man ruhig leben in der Gewissheit, dass diese Sicherheit eine Illusion, dass man Alter, Krankheit und Tod unterworfen ist und früher oder später alles, woran man hängt, verlieren muss – spätestens auf dem Sterbebett. Gibt es denn nicht irgendwo da draußen oder vielleicht auch im tiefsten Inneren irgendetwas, in dem wirkliches Glück, echter Friede zu finden ist, etwas, nach dem zu streben sich wirklich lohnt, weil es nicht verlorengehen kann, weil es weder Tod noch Geburt unterworfen ist?
Die Suche
Die Geschichte des jungen Mannes, der auszog, um dieses Etwas – die Prinzessin, die Perle, den Goldschatz der Märchen und Mythen – zu suchen, die Geschichte des Königssohns Siddhārtha, ist auch im Abendland inzwischen hinlänglich bekannt und muss hier nicht in allen Einzelheiten wiederholt werden. Er »stieg aus«, er ging als Hausloser auf die Wanderschaft, er verzichtete auf alle Sicherheiten der Welt der Arrivierten. Wirklich auf alle?
Nun war er zwar ein Landstreicher, ein gesellschaftlicher Niemand, ein Habenichts – aber er hatte doch noch das gute Gefühl, zur Elite jener wenigen zu gehören, die zu Erhabenerem bestimmt sind als die Masse der Menschen – eine innere Gewissheit, die manche Unannehmlichkeit erträglich macht. Er konnte es auch in völliger Mittellosigkeit noch zu etwas bringen: zu Wissen, zu Weisheit, zur Erleuchtung! Immerhin hatte er das Glück, in einer Gesellschaft zu leben, in der das Suchen nach der Wahrheit, das Streben nach der Überschreitung alles Weltlichen in hohem Ansehen stand. Er musste nur die richtige Lehre, die richtige Religion finden, den richtigen Guru, der ihm »die Wahrheit« offenbaren würde.
Siddhārtha Gautama (etwa 563–483 vor unserer Zeitrechnung), nordindischer Königssohn aus dem Geschlecht der Shākya. Mit 29 Jahren verließ er Frau und Kind sowie den Hof seines Vaters Suddhodana, zu dessen Nachfolger als Herrscher er bestimmt war, und zog als wandernder Asket in die »Hauslosigkeit«. Er schloss sich verschiedenen asketischen Lehrern an, ohne jedoch sein Ziel, die innere Befreiung, zu erreichen. Erst als er sich der Übung der Sitzmeditation zuwandte, erfuhr er im Alter von 35 Jahren unter dem Bodhi-Baum sitzend schließlich Erleuchtung (Sanskrit bodhi). Er wurde damit zum »Buddha«, d. h. zu einem »Erwachten«, und gilt als der historische Buddha unseres Zeitalters.
Also zog er von einem Wissenden, einem Guru und einem Meditations-Workshop zum nächsten. Der Markt der Heilsversprechungen und Weisheitslehren war vor 2500 Jahren in Indien zwar längst nicht so bunt und vielfältig wie der westliche spirituelle Supermarkt unserer Tage, aber er hatte doch eine Vielzahl von unterschiedlichen Lehren und Techniken anzubieten, die zum Seelenfrieden führen sollten. Siddhārtha probierte sie alle – und er schonte sich nicht dabei. Er war nicht so naiv zu glauben, man müsse nur den richtigen Jargon und die richtige Ideologie übernehmen, um zu den spirituell Arrivierten zu gehören. Er war bereit, sich wirklich »einzubringen«, ernsthaft an sich zu arbeiten.
Also studierte er nicht nur die Worte der Weisen, er erlernte auch die Durchführung komplizierter Riten, übte sich in der yogischen Beherrschung des Körpers, machte Atem- und Meditationsübungen, unterwarf sich strengster Askese und fastete beinahe bis zum physischen Tod. Er tat alles, was man von einem Wahrheitssucher verlangen kann, und wurde aufgrund seines vorbildlichen Strebens unter seinen damaligen Weggefährten als Shākyamuni, der »Schweigende Asket aus dem Hause der Shākya«, bekannt. Er machte in dieser Zeit wahrscheinlich so manche Gipfelerfahrung, erlebte – je nachdem, bei welchem Guru er gerade studierte, welche spirituellen Techniken er gerade praktizierte – schamanische Geistreisen, meditative Trancen und mystische Entrückungen. Aber den tiefen inneren unverlierbaren Frieden fand er nicht. Jeder Zustand, den er »erreichen« konnte, konnte auch wieder verlorengehen.
So fand er sich, etwa im Alter von 35 Jahren, in einer Sackgasse: Er hatte alles, was in seinen Fähigkeiten stand, versucht – und nichts erreicht. Dass »weltliche« Errungenschaften und Genüsse auf Dauer nicht befriedigend, nicht befriedend sein können, hatte er längst erkannt und deshalb das Streben danach aufgegeben. Doch seither hatte die Suche selbst seinem einsamen Leben als einem, der sich weder in der Gesellschaft noch in einer der etablierten Religionen heimisch fühlen konnte, einen gewissen Sinn gegeben – die Überzeugung, dass er zur Erleuchtung unterwegs war. Aber jetzt war ihm selbst das Suchen nach der erleuchtenden Wahrheit suspekt geworden.
Das Finden
Was hatte all das Suchen mit totalem Einsatz von Körper, Geist und Seele Shākyamuni schließlich gebracht? Nichts – jedenfalls keinen Frieden. War der Weg wirklich das Ziel? Konnte er sein Ziel überhaupt erreichen, solange er überzeugt war, dahin unterwegs zu sein? Musste er nach allem, was er bereits aufgegeben und verloren hatte, vielleicht auch diese letzte Hoffnung auf Erlösung, auf Befreiung, auf Erleuchtung noch verlieren? Niemand konnte ihm eine zufriedenstellende Antwort auf seine Fragen geben. Er selbst vermochte keine zu finden. Alles, was er physisch, emotional, intellektuell und auch intuitiv erahnend leisten konnte, hatte er gegeben. Jetzt vermochte er nichts mehr. Er war am Ende seines Lateins – und damit am Anfang des Zen.
Erleuchtung – mit diesem Ausdruck wird im Allgemeinen der Sanskrit-Begriff bodhi (wörtlich »Erwachen«) übersetzt; es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Lichterfahrung, sondern um das Erwachen aus der »traumhaften«, also illusorischen Welterfahrung des »Jedermanns«. Letztere ist gekennzeichnet durch eine falsche Auffassung der Wirklichkeit, die die Vergänglichkeit und Leere, d. h. Substanzlosigkeit, der Phänomene nicht erkennt und das fälschlich als eigenständiges »Selbst« oder »Ich« erfahrene Subjekt als getrennt von den Objekten seiner Wahrnehmung erfährt.
So gab er denn das Suchen auf. Ja, vielleicht »tat« er nicht einmal das. Vielleicht geschah es einfach, weil er fix und fertig war: mit der Welt, mit sich, mit der Suche, mit allem – er konnte einfach nicht mehr! Also setzte er sich unter einen Baum, vollkommen versunken – also nicht mehr vorhanden als irgendjemand, der irgendetwas kann und will –, und tat überhaupt nichts. Später hieß es, er habe sich unter dem sogenannten Bodhi-Baum im nordindischen Bodh-Gāyā in Meditation niedergesetzt in dem festen Entschluss, nicht wieder aufzustehen, ehe er nicht die vollkommene Erleuchtung erlangt habe. Das mag sein. Aber ob nun vor oder nach dem Hinsetzen (nach einigen Quellen saß er dort nicht weniger als sechs Jahre!) – irgendwann muss er an den Punkt gelangt sein, wo alle Hoffnung und Furcht, alles Streben und Suchen, alles Wollen und Machen einfach von ihm abfielen – denn sonst hätte nicht geschehen können, was dann geschah.
Was dann geschah, beschreibt das Denkōroku, die »Aufzeichnung von der Weitergabe des Lichts«, mit einem lapidaren Satz:
Beim Anblick des Morgensterns erfuhr Shākyamuni Buddha Erleuchtung und sagte: »Ich und die Große Erde und alle Lebewesen erlangen gemeinsam Erleuchtung.«
Nicht mehr und nicht weniger. Aus Shākyamuni, dem »Weisen« oder »schweigenden Asketen« aus dem Hause der Shākya, war Shākyamuni Buddha geworden, »Shākyamuni, der Erwachte«. Erwacht woraus? Wozu? Was hatte er erfahren? Im ersten Satz, den er nach seiner vollkommenen
Erleuchtung äußerte – seinem ersten »Löwengebrüll« –, verrät er bereits alles, was sich...