Kapitel 1 – Was Orientierung für unser Leben bedeutet
»Unser Leben ist das, wozu unser Denken es macht.«
Mark Aurel (römischer Kaiser und Philosoph, 121 - 180)
Ein zertrampelter Garten
Vor einigen Jahren betreute ich ein Unternehmen im Konsumgüterbereich. Es ging darum, eine neue strategische Ausrichtung innerhalb des Führungsteams zu entwickeln. Ich arbeitete intensiv mit der Personalleiterin zusammen, die ich an dieser Stelle Sabine Schmidt nenne. An einem Freitag hatte ich eine Besprechung mit ihr vereinbart, und als wir zusammentrafen, fiel mir die Veränderung an ihr sofort auf. Ihre sonst so übliche Fröhlichkeit fehlte vollkommen und wich einem angespannten Gesichtsausdruck.
»Wir wurden verkauft«, sagte sie mir gleich bei der Begrüßung und beerdigte damit jegliche weitere Spekulation über die Ursache ihrer Zurückhaltung. In wenigen Worten erzählte sie mir, was passiert war, und wir unterhielten uns natürlich auch darüber, welche Auswirkungen dieser Schritt auf unsere Zusammenarbeit hatte. Sie versicherte mir, dass alles beim Alten bliebe. So lautete jedenfalls die Botschaft des neuen Eigentümers an die gesamte Belegschaft.
Zwei Wochen später erzählte sie mir, dass der Geschäftsführer das Unternehmen verlassen musste und die Europa-Leiterin sich nun um den deutschen Standort kümmerte.
»Am Telefon klang sie etwas nüchtern, war aber durchaus nett. Ihre Reserviertheit liegt vielleicht auch daran, dass sie aus Belgien stammt und von der Zentrale unseres neuen Eigners in London aus arbeitet.« Ich fragte Sabine Schmidt, ob die Europaleiterin das Unternehmen bereits persönlich besucht hatte. Sie verneinte und erzählte mir von einer E-Mail an die Belegschaft, in der die Leiterin sich vorstellte. »Sie sagte mir, dass es vorerst nicht geplant sei, uns einen Besuch abzustatten, aber ich würde sie bei einer demnächst stattfindenden Konferenz kennenlernen.«
Ich fragte mich, in welchem Zusammenhang eine belgische Nationalität mit reserviertem Verhalten stehen könnte und vermied es, mir etwas anmerken zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich bereits nichts Gutes, versuchte jedoch, meiner Gesprächspartnerin nicht auch noch den Strohhalm der Hoffnung wegzunehmen, an dem sie sich in diesem Moment klammerte. Daher sagte ich: »Das ist ja toll, dass alles unverändert bleibt« und dann widmeten wir uns wieder unserem Projekt.
Es kam allerdings alles anders und es wurde sogar weit schlimmer, als ich damals längst befürchtete.
Etwa weitere drei Wochen später kam ich erneut in das Unternehmen. Ich erlebte zum ersten Mal in meiner Laufbahn als Berater, dass ein Ansprechpartner vor mir saß und plötzlich zu weinen begann. Sabine Schmidt konnte ihre Emotionen nicht mehr zurückhalten und ich saß da, schwieg und dachte angestrengt darüber nach, wie ich jetzt wohl am besten reagieren sollte. Floskeln, wie »das wird schon wieder« waren in dieser Situation vollkommen unangebracht, denn in diesem Unternehmen wurde inzwischen zu viel Porzellan zerbrochen.
Die Personalleiterin erzählte mir, dass die Leiter der Abteilungen Marketing, Finanzen, Vertrieb und IT von heute auf morgen entlassen wurden. Die Kontrolle übernahm die neue Zentrale in London und dort waren natürlich alle heillos überfordert. Die Mitarbeiter der deutschen Niederlassung waren vollkommen verunsichert, es funktionierte einfach nichts mehr und zu allem Übel verloren sie jetzt reihenweise Kunden und damit verschlimmerte sich die Ertragssituation rapide.
Sabine Schmidt erzählte mir von ihrem ersten Zusammentreffen mit ihrer neuen Chefin im Rahmen der internationalen Konferenz.
»Sie begrüßte mich kurz, verzog dabei keine Miene und sagte mir vor sämtlichen Kollegen, dass niemand im Vorstand Interesse an der Belegschaft unseres Unternehmens hätte. Der Grund für den Unternehmenskauf bestand nur darin, bestimmte Technologien zu erwerben, die wir im Laufe der Jahre entwickelt hatten. Dann ließ sie mich stehen und wandte sich anderen Gesprächspartnern zu.«
Einen Moment lang saßen wir schweigend da. Schließlich sagte Sabine Schmidt einen Satz, der für mich den Zustand der Orientierungslosigkeit am besten beschreibt: »Wissen Sie, momentan ist es für mich so, als hätte ich jahrelang einen Garten mit viel Liebe und Hingabe gepflegt und plötzlich kommt jemand und trampelt alles kaputt.«
Menschen brauchen Klarheit über vier Dinge
Wenn uns Orientierung fehlt, dann versucht unser Körper diesen Zustand auszugleichen. Ein mir befreundeter Biochemiker beschrieb diesen Zustand folgendermaßen: »Jede Situation, die wir nicht kontrollieren können, löst Stress aus. Je nachdem, wie weit unser Gehirn diese Situation als existenzgefährdend einstuft, wirkt dieser Stress negativ auf uns.«
Wenn uns Orientierung fehlt, dann versucht unser Körper diesen Zustand auszugleichen
Ähnliche Prozesse laufen auch ab, sobald wir uns orientierungslos fühlen, beispielsweise durch Veränderungen innerhalb des Unternehmens, die wir nicht einschätzen oder verstehen können. Oder wenn Mitarbeiter Aufgaben erfüllen müssen, deren Sinn und Zweck sie nicht begreifen.
Doch wann befinden wir uns überhaupt im Zustand der Orientierung? Das ist dann der Fall, wenn wir Klarheit über die vier folgenden Punkte erlangen:
- Wo stehe ich?
- Wo soll oder will ich hin?
- Wie komme ich dahin?
- Warum soll ich mich überhaupt auf den Weg machen?
Können wir nur eine einzige dieser Fragen nicht beantworten, befinden wir uns in einem Zustand der Orientierungslosigkeit. Natürlich gibt es hier verschiedene Abstufungen. Wenn ich etwa zu Punkt vier keine Antwort besitze, muss das nicht automatisch völlige Orientierungslosigkeit bedeuten. Trotzdem entwickelt in diesem Fall unser Körper Stress, weil er dieses Ungleichgewicht auszugleichen versucht. So etwas könnte beispielsweise zu Abgelenktheit oder Fluchtaktivitäten führen, was sich schließlich negativ auf die gesamte Situation auswirkt.1
Ein Beispiel: Sie werden von Ihrem Chef beauftragt, sämtliche Verträge mit Kunden zu scannen und anschließend digital zu archivieren. Falls sich Ihnen der Sinn dieser Aufgabe nicht erschließt, werden Sie sich möglicherweise mit der Durchführung Zeit lassen und vermutlich wird Sie der Gedanke an die bevorstehende Arbeit mit Unbehagen erfüllen. Diese Orientierungslosigkeit ist jetzt nicht gravierend, doch sie wirkt sich auf Sie und auf Ihren Arbeitsablauf aus.
Vor allem, wenn Sie anderen die Führung überlassen, ist Klarheit über die vier Punkte von entscheidender Bedeutung.
Menschen, die keine Orientierung erhalten, reagieren häufig verunsichert, ängstlich, zurückhaltend und mit Widerstand, weil sie nicht wissen, wohin die Reise gehen soll. Doch warum ist das überhaupt so?
Orientierungslos im Dunkeln
Im letzten Jahr besuchte ich in Hamburg eine Veranstaltung der ganz besonderen Art. Ihr Name lautet »Dialog im Dunkeln«2 und dabei werden Kleingruppen durch verschiedene Situationen in völliger Dunkelheit geführt.
Fehlende Orientierung provoziert Widerstand und führt zu Stillstand
Ich bekam zu Beginn einen Blindenstock in die Hand gedrückt und dann wurde unsere Gruppe von einem blinden Guide in einen Raum geleitet. Dort herrschte eine Schwärze, wie ich sie noch nie erlebt hatte: Man sah absolut nichts. Null! Innerhalb von wenigen Sekunden verlor ich jegliche Orientierung, ich wusste nicht einmal mehr, ob ich ruhig dastand oder leicht schwankte. Wir wurden durch eine Art Parcours mit verschiedenen Räumen geführt, in denen uns unterschiedliche Hindernisse, wie Stühle, Kinderspielzeug und vieles mehr, begegneten. Obwohl unser Guide ganz genau vorgab, wohin wir gehen sollten, spürte ich einen inneren Widerstand in mir. An der nachgebauten Straße mit Ampel war es dann soweit. Ich wollte mich nicht bewegen, denn ich vertraute in diesem Moment niemandem. Alles in mir wehrte sich gegen diese Situation.
Doch warum war das der Fall? Aus welchem Grund reagieren wir instinktiv mit Stillstand, sobald uns die Orientierung fehlt?
Innere Landkarten geben Orientierung
Verschiedene Experimente von Wissenschaftlern ergaben, dass unser Gehirn in einer neuen Umgebung (oder Situation) zunächst einmal einer Flut an unbekannten Eindrücken ausgesetzt ist. In rasend schneller Geschwindigkeit sortieren wir diese vielen Informationen und anschließend legen wir »innere Landkarten« an. Das bedeutet, unser Denken identifiziert Orientierungspunkte, die uns helfen, die Übersicht zu behalten. Laborversuche an Ratten zeigten, dass es dafür sogar spezielle Nervenzellen im Gehirn gibt.
Fehlen diese Orientierungspunkte, dann fühlen wir uns orientierungslos und unser Körper versucht nun, diese unklare Situation schnellstmöglich aufzulösen. Genau das ging in mir vor, als ich – nur mit einem Blindenstock ausgerüstet – in diesem unglaublich dunklen Raum umherirrte. Damals konnte ich richtiggehend spüren, wie der Stress in mir emporkroch.
Wie oft lassen Sie Mitarbeiter im Dunkeln...