Martin L. Müller
Anmerkungen zur Edition
Am Anfang dieser Edition stand ein einzelner Brief. Georg Solmssen, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft, hatte ihn am 9. April 1933, nur wenige Tage nach dem Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte und nur wenige Stunden nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, an Franz Urbig, den Aufsichtsratsvorsitzenden seiner Bank, gerichtet.[76] Harold James, Mitautor des 1995 erschienenen Buches zum 125-jährigen Jubiläum der Deutschen Bank,[77] fand ihn bei seinen Recherchen in Solmssens Personalakte. Diese war erst kurz zuvor, im Sommer 1992, vom Generalsekretariat der Bank an ihr Historisches Archiv abgegeben worden. Die Bedeutung, die James diesem Schreiben beimaß, ist schon daran erkennbar, dass es als einzige Quelle in dieser rund 1000 Seiten umfassenden Unternehmensdarstellung fast vollständig zitiert wurde.[78]
Es ist die Kenntnis der nach 1933 geschehenen Verbrechen, welche besonders einen Satz dieses Briefes wie eine Prophezeiung erscheinen lässt: «Ich fürchte, wir stehen erst am Anfange einer Entwicklung, welche zielbewußt, nach wohlangelegtem Plane auf wirtschaftliche und moralische Vernichtung aller in Deutschland lebenden Angehörigen der jüdischen Rasse, und zwar völlig unterschiedslos, gerichtet ist.» Dass dieser Brief mittlerweile in weiteren wichtigen Publikationen zur Geschichte des Bankwesens und des Judentums in voller Länge und in Auszügen zitiert wurde,[79] unterstreicht seine Bedeutung. Der Brief dokumentiert eine außergewöhnliche Reaktion eines führenden Vertreters der deutschen Wirtschaftselite auf die von den Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 begonnene systematische Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung. Solmssen erkannte nicht nur klarer als andere, welche Entwicklung die eingeleitete Ausgrenzung und Entrechtung nehmen sollte, er verstand es auch, diese Erkenntnis ausdrucksstark zu formulieren.
Die erwähnte Personalakte enthält weitere bemerkenswerte Schreiben, die das Ringen um seine Stellung in der Bank und in der deutschen Wirtschaft in den Jahren von 1933 bis 1938 deutlich machen. Insbesondere der Austausch mit dem – wie Solmssen in der Disconto-Gesellschaft verwurzelten – Franz Urbig zeigt die schrittweise Abnabelung von dem Unternehmen, dem Solmssens Familie seit 1863 verbunden war.
Aus dem Sichten und zunächst noch unsystematischen Sammeln der Briefe Solmssens reifte allmählich der Plan, gezielt weiter zu suchen und eine Auswahl seiner Korrespondenz zu edieren. Für dieses Buch wurden 381 Schreiben ausgewählt. Davon hat Solmssen 250 selbst verfasst, 131 sind an ihn gerichtet.
Es ging nicht darum, alle erhaltenen Briefe wiederzugeben. Nur dort, wo sie um gesellschafts- und wirtschaftspolitische Fragen sowie um Solmssens Haltung um das Jahr 1933 kreisen, wurde Vollständigkeit angestrebt. Für eine umfassende Edition wäre aber die erhaltene Korrespondenz – trotz großer Verluste, über die noch zu sprechen sein wird – zu umfangreich. Noch stärker als der Umfang spricht für eine Auswahl jedoch, dass viele Schreiben ausschließlich der Übermittlung geschäftlicher Details dienten, die selbst für spezialisierte Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker kaum von Interesse sind. Hinzu kommt, dass der individuelle Beitrag Solmssens an einem reinen Geschäftsbrief kaum bestimmbar ist. Verzichtet wurde daher, bis auf sehr wenige Ausnahmen, auf Schreiben, die neben Solmssen von einem weiteren Mitarbeiter der Bank unterschrieben wurden, wie es die Richtlinien der Disconto-Gesellschaft und auch der fusionierten Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft verlangten, um rechtsverbindlich für die Firma zu zeichnen. In der Regel wurden diese Schreiben von der Fachabteilung formuliert und dann von dem für das jeweilige Geschäft zuständigen Geschäftsinhaber mitunterzeichnet. Bei der allein von Solmssen unterschriebenen Korrespondenz kann seine Autorschaft meist als sicher gelten, vor allem bei Briefen von eigener Hand. Hier kommt nicht nur eine sachliche, geschäftliche Position zum Durchscheinen, hier äußert er sich direkt, mit eigenen Formulierungen und erkennbaren Motiven. Bei der Auswahl haben sich die Bearbeiter darüber hinaus auf jene geschäftlichen Engagements konzentriert, denen Solmssen selbst große Bedeutung beimaß, wie beispielsweise die Erdölinteressen der Disconto-Gesellschaft und die transatlantischen Kabelverbindungen.[80]
Bei der Bearbeitung der Briefe wurde dem Original nahezu vollständig gefolgt. Sie sind stets ungekürzt. Die zeitgenössische Orthographie wurde beibehalten und nur offensichtliche Schreibfehler wurden korrigiert. Dies gilt auch für die Grammatik und Interpunktion. Alle Ergänzungen wurden mit eckigen Klammern gekennzeichnet. Hervorhebungen, Unterstreichungen, nachträgliche Einfügungen und Verbesserungen, die vom Verfasser oder Empfänger der Briefe stammen, sind kenntlich gemacht. Paraphen und Marginalien sind in den Anmerkungen entschlüsselt und wiedergegeben. Personen und Firmen, sofern sie nicht vollständig in Briefen genannt werden, sind in den Fußnoten identifiziert. Alle genannten Personen und Institutionen wurden darüber hinaus im Anhang mit biographischen und unternehmensgeschichtlichen Hinweisen weiter erschlossen. Außerdem wurden der Edition ein Verzeichnis der Veröffentlichungen und der bei deutschen Aktiengesellschaften ausgeübten Aufsichtsratsmandate Solmssens hinzugefügt.
Ohne die Mitarbeit vieler Helferinnen und Helfer wäre ein solches Projekt undenkbar. Ihnen gebührt großer Dank. An erster Stelle steht hier die Kärrnerarbeit des Transkribierens vieler Hundert Schreiben, darunter auch zahlreiche, teilweise nur schwer lesbare handschriftliche Briefe. Hier bewiesen vor allem Melanie List und Astrid Wolff die notwendige Ausdauer, Geduld und Sorgfalt. In manchen Fällen war es erforderlich, kaum zu entziffernde Schreiben immer wieder zur Hand zu nehmen. Nur an ganz wenigen Stellen ist die Entschlüsselung nicht gelungen. Astrid Wolff hat auch einen Großteil der personen- und firmenbezogenen Recherche und Kommentierung vorgenommen, die dann von Reinhard Frost, Silke Wapenhensch und Matthias Richter ergänzt, überarbeitet und vereinheitlicht wurden.
Die Motive für diese Edition sind vielschichtig. Neben den bereits erwähnten Briefen, die längst von der Forschung als außergewöhnliche Quellen erkannt wurden und ahnen lassen, dass sich ein tieferer Blick in die Gedankenwelt ihres Autors lohnt, ist es vor allem auch Solmssens Lebensweg, der eine intensive Beschäftigung mit seinem Wirken anregt. Sein Schicksal kann als exemplarisch für weite Teile des deutsch-jüdischen Bürgertums gelten. Im Mittelpunkt des politischen und sozialen Denkens dieses aus jüdischer Familie stammenden, vollständig assimilierten, nationaldenkenden Großbürgers stand – selbst unter dem Eindruck von Ächtung und Vertreibung – sein Bekenntnis der «Zusammengehörigkeit mit dem Vaterlande».[81]
Vier Deutschland hat er in seinem langen, 87 Jahre währenden Leben erfahren. Die erste Hälfte war geprägt durch das Kaiserreich, die zweite durch die Jahre der Weimarer Republik, der NS-Zeit und der frühen Nachkriegszeit. Die Edition kann diese Zeitspanne nur begrenzt abdecken. Zwar umfasst sie die Jahre von 1900 bis 1956, doch liegt der Schwerpunkt der erhaltenen Korrespondenz in den 1920er und 1930er Jahren, als Solmssen eine Spitzenposition in der deutschen Wirtschaft einnahm. In der ersten Hälfte der 1940er Jahre verebbte der Kontakt zwischen den in Deutschland verbliebenen Weggefährten und dem im Schweizer Exil lebenden Solmssen, um dann in seinem letzten Lebensjahrzehnt nochmals intensiver zu werden.
Neben Solmssens Lebensweg liegt ein weiterer Anreiz zu dieser Edition in der Führungsrolle, die er lange in der deutschen Wirtschaft einnahm. Briefe waren in der gesamten Zeit seines Wirkens wichtigstes Kommunikationsinstrument zur Unternehmensführung. Bereits edierte Schriftwechsel von Wirtschaftsführern machen deutlich,[82] welche Bedeutung der persönliche schriftliche Austausch im gesamten 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bei der Lösung wirtschaftlicher Fragen und bei der Pflege des sozialen Netzwerkes zukam. Dies galt insbesondere auch für das Spitzenpersonal der Großbanken, das von zentraler Stelle – meist in Berlin – die Geschicke einer Vielzahl von Industriekunden mitgestaltete. Zwar spielten zweifellos Gespräche, etwa am Rande der vielen Aufsichtsratssitzungen, bei denen Industrie- und Finanzspitzen zusammentrafen, und zunehmend auch Telefonate eine nicht unerhebliche Rolle, doch gerade die konservative Disconto-Gesellschaft war geprägt durch einen starken Hang zur Schriftlichkeit, den Solmssen unermüdlich lobend hervorhob: «An der Spitze dieser Verwaltungsmaximen stehen das Gebot der Schriftlichkeit und die auf seiner Beachtung fußende kollegiale Behandlung der Geschäfte. […]. Die Durchführung des Prinzips der Schriftlichkeit, verbunden mit dem kollegialer Zusammenarbeit, erheischt, daß das Original jedes eingehenden und die Kopie jedes ausgehenden Schriftstücks automatisch innerhalb eines bestimmten Kreises verantwortlicher Personen...