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November 1938

Die Katastrophe vor der Katastrophe

AutorRaphael Gross
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2013
ReiheBeck'sche Reihe 2782
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406654718
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Am 7.November1938 schoss Herschel Feibel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris auf den Diplomaten Ernst vom Rath, der seinen Verletzungen kurz darauf erlag. Das Attentat wurde zum Vorwand für eine beispiellose Welle der Gewalt gegen Hunderttausende deutscher Juden vor aller Augen in sämtlichen Teilen des Deutschen Reichs. Nahezu alle Synagogen wurden angezündet, Geschäfte geplündert und zerstört, Männer und Frauen öffentlich gedemütigt und gequält. Über 30.000 jüdische Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt. Eine Phase der blanken ökonomischen Erpressung folgte. Mit dieser Zäsur offenbarte sich die Gewaltbereitschaft der Nationalsozialisten. Der ausagierte Antisemitismus beflügelte gleichsam die Phantasie. Zahlreiche hohe Beamte und Funktionäre des NS-Staats schlugen in der Folge weit radikalere Maßnamen vor und wurden zu Mördern, zu Massenmördern. Raphael Gross beschreibt und analysiert die Novemberpogrome anhand vieler zeitgenössischer Stimmen. Ihm gelingt es, Geschichte und Folge des Attentats in einen neuen Kontext zu stellen und durch seinen Blick auf die sich aufbauende Stimmung innerhalb der NS-Führung den inneren Zusammenhang der Pogrome mit dem Holocaust aufzuzeigen.

Raphael Gross, Prof. Dr., leitet das Leo Baeck Institute in London, ist Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main und des Fritz Bauer Instituts. Er ist Herausgeber des Leo Baeck Institute Year Book, hat zahlreiche Veröffentlichungen zur deutsch-jüdischen Geschichte vorgelegt und Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugenberichte der Wiener Library mitherausgegeben (Frankfurt a. M. 2008).

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Leseprobe

Prolog
Novemberpogrome 1938
Das Ende der deutsch-jüdischen Epoche


Das Jahr 1938 war für die noch in Deutschland lebenden Juden katastrophal verlaufen. Der deutsch-jüdische Romanist Victor Klemperer notierte Silvester 1938: «Ich las gestern flüchtig das Tagebuch 1938 durch. Das Résumé von 37 behauptet, der Gipfel der Trostlosigkeit und des Unerträglichen sei erreicht. Und doch enthält das Jahr, mit dem heutigen Zustand verglichen, noch soviel Gutes, soviel (alles ist relativ!) Freiheit.» Denn bis Anfang Dezember 1937 hatte Klemperer noch Zugang zur Bibliothek. Im folgenden Jahr ging es dann immer deutlicher abwärts: «Erst der österreichische Triumph. […] Dann im September die gescheiterte Hoffnung auf den erlösenden Krieg. Und dann eben der entscheidende Schlag. Seit der Grünspanaffaire das Inferno.» Über viele Stufen hinab war Klemperer in die Hölle gelangt: vom «Anschluss» Österreichs an Nazideutschland im März 1938 über das Münchner Abkommen vom 30. September bis zu den Novemberpogromen, der «Reichskristallnacht», für die das Attentat von Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath als Vorwand diente. Und doch befürchtete Klemperer noch Schlimmeres: «Die relative Ruhe der letzten Wochen darf nicht täuschen: in ein paar Monaten sind wir hier zuende – oder die andern. In der letzten Zeit habe ich nun wirklich alles Menschenmögliche versucht, um hier herauszukommen: das Verzeichnis meiner Schriften und meine SOS-Rufe sind überallhin gegangen: nach Lima, nach Jerusalem, nach Sidney, an die Quäker in Livingstone.» Klemperer sitzt Silvester 1938 in der Falle. Trotz zahlreicher internationaler Kontakte gelingt es ihm nicht, ein Angebot aus dem Ausland zu bekommen. Bald ist sein einziger Schutz die Ehe mit der Nichtjüdin Eva.

Auch für die bereits emigrierten deutschen Juden waren die jüngsten Vorgänge in Deutschland erdrückend präsent. Der Philosoph Theodor W. Adorno schrieb am 1. Februar 1939 aus New York an seinen im französischen Exil lebenden Freund und Kollegen Walter Benjamin: «Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, wie schwer meine Eltern in Mitleidenschaft gezogen sind. Es gelang zwar, meinen Vater aus dem Gefängnis herauszubekommen, aber er erhielt bei dem Pogrom eine Verletzung an seinem ohnehin schon leidenden Auge; seine Büroräume wurden demoliert und kurze Zeit danach ihm das freie Verfügungsrecht über sein ganzes Vermögen entzogen. Auch meine Mutter, die 73 Jahre alt ist, befand sich zwei Tage in Schutzhaft.» Er habe für seine Eltern inzwischen die Einreiseerlaubnis für Kuba erwirken können, so Adorno. «Aber daß wir nach wie vor aufs äußerste beunruhigt sind, solange sie sich noch in dem grauenvollen Lande befinden, bedarf keiner Erwähnung.» Adorno beließ es nicht bei der persönlichen Schilderung, sondern warnte den Freund auch, dass es womöglich zum Krieg komme. Doch Benjamin sollte es nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gelingen, in die USA zu emigrieren. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nahm er sich im September 1940 nahe dem spanisch-französischen Grenzort Portbou das Leben.

Die Perspektive der NS-Führung auf die Ereignisse von 1938 war natürlich eine ganz andere. Als besonders triumphal erschien das Jahr dem «Judenreferenten» im Auswärtigen Amt, Legationsrat Dr. Emil Schumburg. «Es ist wohl kein Zufall», bemerkte Schumburg in einem an alle deutschen Botschaften und Konsulate gerichteten Rundschreiben, «daß das Schicksalsjahr 1938 zugleich mit der Verwirklichung des großdeutschen Gedankens die Judenfrage ihrer Lösung nahegebracht hat.» So seien nach dem Anschluss Österreichs schnell Maßnahmen zur «Ausschaltung des Judentums aus der deutschen Wirtschaft» und zum «Einsatz des jüdischen Vermögens im Interesse der Allgemeinheit» ergriffen worden. Zufrieden stellte der Diplomat fest: «Die als Vergeltung für die Ermordung des Gesandtschaftsrats vom Rath einsetzende Aktion hat diesen Prozeß so beschleunigt, daß der jüdische Einzelhandel […] im Straßenbild völlig verschwunden ist. Die Liquidierung der jüdischen Großhandelsund Fabrikationsbetriebe und des Haus- und Grundbesitzes in der Hand von Juden wird allmählich so weit gefördert, daß in absehbarer Zeit von jüdischem Besitz in Deutschland nicht mehr gesprochen werden kann.» Das Hauptziel der deutschen «Judenpolitik», erklärte Schumburg weiter, sei nun die «Auswanderung aller im Reichsgebiet lebenden Juden». Was dies für die Außenpolitik bedeute, benannte der Diplomat, der 1949 von einem Entnazifizierungshauptausschuss in Hannover als «passives Mitglied» der SS entlastet wurde, klar: «In Nordamerika, in Südamerika, in Frankreich, in Holland, Skandinavien und Griechenland – überall, wohin sich der jüdische Wanderungsstrom ergießt, ist bereits heute eine deutliche Zunahme des Antisemitismus zu verzeichnen. Diese antisemitische Welle zu fördern, muß eine Aufgabe der deutschen Außenpolitik sein.»

Nationalsozialistische Propagandablätter drückten sich Ende 1938 knapper aus. So lautete der höhnische Rückblick im Deutschen Volksblatt, einer in Wien erscheinenden Zeitung, am 30. Dezember 1938: «Bilanz der Ostmark: 70.000 Juden weniger!! 230.000 müssen noch hinaus!»

In dem von Reinhard Heydrich geleiteten Sicherheitsdienst der NSDAP, dem sogenannten SD, wurde das Jahr 1938 genau rekapituliert. Aus verschiedenen Städten sind «Jahresberichte» überliefert, die die Entwicklungen aus Sicht der NSDAP schildern. In Berlin verfasste die Abteilung II 112 des SD-Hauptamts, das von Adolf Eichmann aufgebaute «Judenreferat», eine Jahresübersicht. Darin heißt es: «In der Entwicklung der Judenfrage im Reichsgebiet im Jahre 1938 sind zwei deutliche Abschnitte erkennbar. Das erste Stadium umfaßt die Zeit vom 1. Januar bis zum 8. November, das zweite die Zeit vom 10. November bis 31. Dezember. Während im ersten Stadium versucht wurde, die Judenfrage auf verordnungs- und gesetzmäßigem Wege endgültig dadurch zu regeln, daß die Juden aus sämtlichen Berufen ausgeschlossen wurden […], wurde das gesamte Problem nach dem revolutionären Akt vom 9.11. auf den 10.11. völlig neu aufgerollt.» Mit dem «revolutionären Akt» waren die Novemberpogrome gemeint.

Der Romanist Victor Klemperer, der Philosoph Theodor W. Adorno, die Informanten des Sicherheitsdiensts der NSDAP und der Diplomat Emil Schumburg blickten alle auf das Jahr 1938 zurück und fällten ihr Urteil. Keiner von ihnen konnte wissen, dass Deutschland weniger als neun Monate später mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg beginnen würde. Keiner von ihnen wusste zu diesem Zeitpunkt, dass die Katastrophe des Jahres 1938 für die Juden Europas erst der Auftakt zu einer noch viel größeren Katastrophe sein sollte: der systematischen Ermordung von Millionen europäischer Juden durch Wehrmacht, SS, deutsche Polizei und ihre Helfer in den Jahren 1941 bis 1945, heute meist als «Holocaust», «Shoah» oder «Churban» bezeichnet. Gerade deshalb sind ihre Berichte von besonderer Bedeutung. Sie zeigen die zeitgenössischen Perspektiven auf die Ereignisse, die nicht durch unser Wissen um die Shoah bestimmt sind.

Das Jahr 1938 steht für eine neue Dimension der Gewalt gegen Juden, für den Übergang von der Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung, Beraubung und Vertreibung. Massiv waren die öffentlichen Gewaltexzesse schon in Wien, beim sogenannten Anschluss Österreichs am 12. März 1938. Den Einmarsch deutscher Soldaten, Polizisten und SS-Männer begleiteten heftige antisemitische Ausschreitungen. Weltbekannt geworden sind die Bilder von Jüdinnen und Juden, die in aller Öffentlichkeit dazu gezwungen wurden, mit Zahnbürsten Parolen von Wiener Bürgersteigen zu entfernen. Wenige Monate später wurden während der sogenannten Juni-Aktion über 1500 jüdische Männer verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt, wo sie brutalsten Misshandlungen ausgesetzt waren. Und schließlich die «Reichskristallnacht». Was im November 1938 in Deutschland geschah, ist von so großer Bedeutung, dass es nicht nur aus der Perspektive der Shoah untersucht werden sollte. Es soll hier als Ereignis für sich beschrieben werden. In der deutschen Geschichte gibt es nichts, was mit den Pogromen im November 1938 vergleichbar wäre. Niemals zuvor oder danach wurde das staatliche Gewaltmonopol in aller Öffentlichkeit in die Hände einer antisemitischen «Volksgemeinschaft» gelegt. Niemals zuvor oder danach standen Hunderttausende Jüdinnen und Juden einer derart aufgehetzten Bevölkerung gegenüber und mussten Schläge und Erniedrigungen, Totschlag und Mord, die Zerstörung ihrer Häuser, Geschäfte und Wohnungen erleiden.

Nach 1945 hat es Jahrzehnte gedauert, bis das Ereignis in seiner historischen Bedeutung die gebührende Beachtung fand. Heute liegen uns umfangreiche zeitgeschichtliche Studien vor, darunter eine Vielzahl von...

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