Das Leben geht weiter
Der Tod eines geliebten Menschen stürzt Angehörige in tiefe Trauer. Nach einem solchen Verlust erscheint das Leben oft sinnlos. Den Lebensfluss wieder im wahrsten Sinn des Wortes zu ›in Gang‹ zu bringen, dazu möchte dieses Buch ermutigen.
In der Trauer besteht die Gefahr, dass der Betroffene erstarrt und sich zurückzieht. Dadurch entsteht ein Stillstand in der Entwicklung. Gehen heißt sich bewegen, heißt spüren, dass das Leben weitergeht. Sich spüren ist jedoch in dieser Situation sehr schwer, da die Gedanken und das Empfinden zwischen der ›Lebenden-Welt‹ und dem ›Totenreich‹ sind. Trauern heißt, den Verlust aktiv zu erleben. In der Erstarrung überlässt man sich aber der Trauer in passiver Weise und wartet ab, dass etwas geschieht. Von selbst tut sich jedoch nichts und es vergeht Zeit, in der der Trauernde anfängt zu verdrängen.
Sich wandeln heißt, den Unterschied zu sehen und anzuerkennen, wie es vorher war und wie es jetzt ist. Gehen, trauern, wandeln, das heißt, eine aktive Reise ins Innere zu sich selbst zu beginnen. Es geht um Loslassen, etwas hinter sich lassen, wahrnehmen und neu aufnehmen.
Ob es zu Beginn einer Trauerphase ein kleiner Spaziergang ist oder eine mehrtägige Pilgerwanderung – jeder kommt mit seiner eigenen Last auf den Weg. Vieles an dieser Last verändert sich im Laufe des Gehens – die Last wird vielleicht nicht leichter werden, aber sie wird leichter zu tragen sein. Das Wandern und Gehen setzt körperliche Prozesse in Bewegung: Herzschlag, Kreislauf, Atmung, alles dient dem Körper als lebenswichtige Stütze. Sogar die Atmung funktioniert automatisch. Unser vegetatives Nervensystem steuert alles zuverlässig, ohne unser bewusstes Zutun. Ein starker Verbündeter in der Trauer! Auf den Körper kann ich mich verlassen. Genauso wie die Erde, auf der ich stehe und wandle. Ich komme von ihr, sie ernährt mich und gibt mir alles, was ich zum Leben benötige. Schließlich gehe ich wieder zurück zu ihr. Diese Einheit vergessen wir leicht und machen uns damit das Leben schwer.
Es gilt, diese Weisheit zu erfahren, zu erleben und in das aktuelle Leben zu integrieren.
Dem Leben auf den Grund gehen
Trauer gehört zum Leben. Es ist die natürliche Reaktion des Körpers, auf Veränderungen unserer Umwelt zu antworten – positiv zu antworten. Warum positiv? Trauer ist ein Prozess, der uns hilft, soziale Kontakte mit veränderten Voraussetzungen neu einzugehen. Trauer hilft uns, das Leben wieder bejahend anzunehmen. Dazu gibt es jedoch viele Fragen: Wie leben und erleben wir Trauer? Welche Rituale gab und gibt es, um in angemessener Weise zu trauern?
Bei einer Befragung von Bestattungsunternehmen wurde deutlich, dass die meisten ihre zu Hause verstorbenen Angehörigen sofort abholen lassen wollen. Auf die Frage, warum das so sei, gab es die Antwort: »Das ist heute halt so! – Das macht man nicht mehr, dieses Zu-Hause-Aufbahren …« und »Aus hygienischen oder ästhetischen Gründen«.
Diese Aussagen verdeutlichen, dass der moderne Mensch den Umgang mit Tod und Sterben verlernt hat. Erfreulicherweise jedoch zeichnet sich in den letzten Jahren langsam eine Wende ab, zum Beispiel durch die Hospizbewegung. Obwohl hier die Sterbebegleitung und nicht die Begleitung von trauernden Angehörigen im Fokus ist, entdecken allmählich immer mehr Hospize die Notwendigkeit des guten Abschiedes und die Trauerbegleitung der Angehörigen.
Viele Menschen, die Nahtod-Erfahrungen hatten, entwickeln eine neue Sichtweise auf das Leben. Sie leben intensiver und dankbarer. Sie bewerten Lebenswichtiges anders als in ihrem ›vorherigen‹ Leben, entsprechend dem Bibelvers: »Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden« (Psalm 90,2). Hier ist nicht die Rede von Zweifel oder Verzweiflung. Wenn wir den Tod bejahen und annehmen, bekommen wir eine andere Qualität für unser Leben. Der Augenblick wird wertvoller. Jedes Geschehen, jede Begegnung, jeder Moment bekommt mehr Gewichtung, da die Endlichkeit und die Begrenztheit bewusst einkalkuliert und wahrgenommen wird. Unser Leben wird bereichert. So gesehen bedeuten Verluste zwar immer Schmerz und Verzicht, beides jedoch, Freud und Leid, gehört zum Leben. Sie sind Teil einer Biografie, bekommen aber einen anderen Stellenwert im Leben. Durch die Kraft der Trauer gewinnt das Leben an Sinn und Gemeinschaft. Wer mit der Endlichkeit lebt, hat die biologische Uhr, in allem was ist, akzeptiert. Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende.
Unsere Gesellschaft tabuisiert das Thema Trauer jedoch häufig und zeigt keine Solidarität mit Trauernden. Man versucht, uns das Trauern abzugewöhnen, und lässt uns in unserer Trauer allein. Das Gefühl ist so negativ besetzt, dass häufig mit Unverständnis reagiert wird, wenn beispielsweise zu sehr geschluchzt wird. Tatsächlich wurde eine Trauergesellschaft ganz unruhig, als eine Witwe sich in der Aussegnungshalle auf den Sarg stürzte und den Namen des Verstorbenen schluchzend schrie. In diesem Moment fingen viele erst richtig an zu weinen. Jeder fühlte sich beklommen und hatte einen Kloß im Hals und alle waren froh, als der Pfarrer weitersprach und die Witwe wieder auf ihren Platz geleitet wurde. Sie handelte aus einer anderen Tradition heraus, die offensichtlich noch Platz für solche Gefühlsausbrüche hatte. Erst allmählich beginnt unsere Gesellschaft zu begreifen, dass das Leben aus mehr besteht als nur aus Oberflächlichkeit, Erfolg und Reichtum. Zum vollen Leben gehört nämlich Trauer. Ohne richtige Trauer ist das Leben in seiner Gesamtheit nicht möglich. Wenn wir uns einmal Zeit nehmen, dann stellen wir fest, dass wir immer schon getrauert haben und trauern. Von der Wiege bis zur Bahre. Der erste Schrei des Menschen ist auch ein Ausdruck der Trauer. Wir werden herausgerissen aus unserer gewohnten und geschützten Umgebung des Mutterleibes. Ohne Trennungsschmerz ist kein eigenes Leben möglich. Dazu gehört die Trauer als Gefühlsreaktion.
Trauer ist also keineswegs eine Krankheit. Schon Sigmund Freud hat dies richtigerweise festgestellt:
Es ist bemerkenswert, dass es uns niemals einfällt, die Trauer als einen krankhaften Zustand zu betrachten und dem Arzt zur Behandlung zu übergeben, obwohl sie schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten mit sich bringt. Wir vertrauen darauf, dass sie nach einem gewissen Zeitraum überwunden sein wird, dass sich das Ich des Trauernden wieder frei der Welt zuzuwenden vermag, und halten eine Störung derselben so für unzweckmäßig, ja für schädlich!
Sigmund Freud
Angst vor dem Tod und Ignoranz gegenüber einem Leben danach sind der Treibstoff für eine Umweltzerstörung, die unser aller Leben bedroht. Muss es daher nicht zutiefst beunruhigen, dass uns niemand vermittelt, was der Tod wirklich ist und wie man friedlich stirbt, dass niemand von der Hoffnung spricht auf das, was hinter dem Tod steht und daher letztlich auch hinter dem Leben? Was könnte paradoxer sein als die Tatsache, dass junge Menschen in jedem nur erdenklichen Fach hochgebildet sind, außer in diesem einen, das den Schlüssel für den Sinn des Lebens – und möglicherweise sogar für unser aller Überleben – enthält?
Selbst wenn ein Mensch, den wir lieben, im Sterben liegt, können wir häufig nicht helfen, weil wir einfach nicht wissen, wie. Und nach seinem Tod bestärkt uns gewöhnlich kaum jemand darin, uns noch weitergehende Gedanken um die Zukunft und ein eventuelles Fortdauern dieses Menschen zu machen oder gar Mittel und Wege zu suchen, wie wir ihm auch dann noch helfen können. Tatsächlich gibt man sich mit jedem Gedanken in diese Richtung dem Vorwurf der Unvernunft oder der Lächerlichkeit preis.
Nur mit spirituellem Wissen können wir uns dem Tod und Sterben wirklich stellen und ihn tatsächlich verstehen, nur so hat er wirklich Sinn. Der Tod ist ein tiefes Geheimnis, aber zwei Dinge können wir über ihn sagen:
1. Es ist absolut gewiss, dass wir sterben werden, und
2. es ist unsicher, wann oder wie wir sterben werden.
Die einzige Sicherheit, die wir also haben, ist die Unsicherheit bezüglich unserer Todesstunde. Deshalb schieben wir die direkte Auseinandersetzung mit dem Tod auf. Wir sind wie Kinder, die sich beim Versteckspielen die Augen zuhalten und glauben, niemand könne sie sehen.
Auch das macht uns unsicher, da wir keine handelnde und schöpferische Macht besitzen. Und aus dieser Unsicherheit entwickeln wir Angst. Wir haben also Angst vor dem Unbekannten, in das wir gestoßen werden, und auch vor der Veränderung, die dabei passiert, die wir aber nicht einschätzen können. Und: Wir wissen nicht wirklich, wer wir sind. Wir glauben an eine persönliche, einzigartige und unabhängige Identität. Wagen wir es aber, diese Identität zu untersuchen, dann finden wir heraus, dass sie völlig abhängig ist von einer endlosen Reihe von Dingen: von unserem Namen, unserer Biografie, von Partner, Familie, Heim, Beruf, Freunden, Kreditkarten. Auf diese brüchigen und vergänglichen Stützen bauen wir unsere Sicherheit. Wenn uns all das genommen würde, wüssten wir dann noch, wer wir wirklich sind?
Wir sind eine uns fremde Person, die wir nicht wirklich kennen.
Der morgige Tag oder das nächste Leben – was zuerst kommt, wissen wir nie.
Unser ganzes Dasein ist flüchtig wie Wolken im Herbst; Geburt und Tod der Wesen erscheinen wie Bewegungen im Tanz. Ein Leben gleicht dem Blitz am Himmel, es rauscht vorbei wie ein Sturzbach den Berg hinab.
Buddha
Ein weiterer Grund, weshalb wir so viel Angst haben, ist, dass wir die Wahrheit der Vergänglichkeit ignorieren. Wir wünschen verzweifelt, alles möge so...