Welle und Teilchen
Es fällt mir nicht leicht, nach dieser Reise wieder zu Hause anzukommen. Ich bin immer noch von zu vielen Dingen umgeben, habe das Bedürfnis, gründlich aufzuräumen und sauber zu machen. Unglaublich, wie viel Unnötiges mich noch immer umgibt! Und ständig habe ich das Bedürfnis, alle Fenster und Türen weit zu öffnen. Ich kann gar nicht genug Licht und Luft hereinlassen. Alles erscheint mir eng und zugestellt. Oder bin ich es, die noch immer eng und zugestellt ist? Und ich lasse an meiner armen kleinen Wohnung das aus, was eigentlich mir gebührt, nur weil ich zu dem eigentlichen Schritt noch nicht fähig bin?
Ich vermisse meine steinzeitliche Familie. Und vor allem vermisse ich Ana. Als wir uns voneinander verabschiedeten, versprach sie, mich zu besuchen. »Schon bald«, fügte sie hinzu. Sie wolle doch wissen, wie ich lebe. Vielleicht setzt mich das innerlich so unter Druck? Wenn sie kommt, möchte ich doch nichts Überflüssiges mehr um mich haben, nichts, das mich verraten könnte in meinem schier unausrottbaren Materialismus.
Seit ich aus der Wüste zurück bin, habe ich Durchfall. Zuerst habe ich das nicht weiter ernst genommen, aber langsam werde ich immer schwächer. Ich esse zwar viel, behalte aber kaum etwas bei mir. Trotzdem nehme ich immer mehr zu. Ich komme mir schon vor wie eine Tonne. Im Tropeninstitut habe ich ein Blutbild machen lassen, und das sieht nicht gut aus. Irgendetwas ist in meinem Körper, aber sie können nicht sagen, was es ist. Sie könnten mich daher nur sehr unspezifisch behandeln, und das will ich nicht. Ich habe dem Arzt vorgeschlagen zu fasten. Er war skeptisch angesichts der Belastung für meinen Kreislauf, stimmte aber zu, als er hörte, dass ich Erfahrung mit dem Fasten habe. Die Idee stammt von Julian. Es war ihre Antwort auf meine Frage, was ich tun könne, um wieder zu Kräften zu kommen. Das Bild, das ich bekam, war mein Körper als Wirt, der vorübergehend Betriebsferien macht. Der ungebetene Gast würde so einfach ausgehungert. Das leuchtet mir ein. Ich will es also versuchen, auch wenn es mich Überwindung kostet.
Inzwischen bin ich schon so schwach geworden, dass ich nicht mehr ins Büro gehen kann. Die ersten zwei Wochen nach meiner Rückkehr habe ich noch irgendwie durchgehalten, aber nun hat mich der Arzt erst einmal für die zwei nächsten Wochen krankgeschrieben, auch weil nicht klar ist, ob ich ansteckend bin oder nicht. Ich vermisse meine Arbeit und hoffe, dass ich schon früher wieder ins Büro kann. Zwar ist es um diese Jahreszeit etwas ruhiger als sonst, und die Routinearbeiten kann auch meine Kollegin übernehmen. Das hat sie während meiner Wüstenreise ganz wunderbar gemacht und sogar gern, wie sie beteuert. Aber die Veränderungsprozesse in der Firma, die ich angeregt habe, muss ich selbst weiterverfolgen, sonst bleibt einfach alles beim Alten. Ich darf mir gar nicht ausmalen, was mein Vorgesetzter zu meiner Krankschreibung sagen wird. Aber das muss ich jetzt bei ihm lassen. Ich werde noch früh genug erfahren, was er darüber denkt. Im Moment scheint es in meinem Leben um Wichtigeres zu gehen, einen Wandel, der Körper und Geist betrifft und jetzt einfach Vorrang haben muss.
Vollmond ist genau der richtige Zeitpunkt, um erneut mit dem Fasten zu beginnen. Doch zunächst will ich reisen. Es geht um meine Ängste, die ich immer habe, wenn ich anfange zu fasten, die dieses Mal aber besonders ausgeprägt sind. »Ist es wirklich richtig, meinen ohnehin schon geschwächten Körper durch Fasten noch weiter zu schwächen?«, frage ich. Ich muss nicht lange warten, da erscheint vor meinem geistigen Auge das Bild einer Welle. Ich spüre, wie ich mit dieser Welle nach unten gesogen, aber gleich wieder nach oben getragen werde. Dann sehe ich mich auf einem Sprungbrett stehen. Ich hole mit den Armen nach unten aus, gehe dabei in die Knie und hole so Schwung für den Absprung. Auch dieser Bewegungsablauf ähnelt einer Welle. Ja, mehr Bilder braucht es nicht. Ich verstehe, was sie mir damit sagen wollen. Erst muss ich noch tiefer hinunter, um gewissermaßen Anlauf zu nehmen für meine Genesung.
Voller Ungeduld will ich diese Reise schon wieder beenden, da meldet sich Mahinda. Er nimmt sich ungefragt jene Angst vor, die ebenfalls bei jedem Fasten mitschwingt: Werde ich nach dem Fasten womöglich noch mehr zunehmen als vorher? Mahinda tritt vor, zeigt auf seinen runden Bauch und meint, der habe es so gewollt. Sein Körper habe so rund sein wollen. Aber im Unterschied zu mir habe er das akzeptiert und Essen, auch Süßes, das er genauso liebe wie ich, wirklich genossen, jeden Bissen davon. Warum genieße ich nicht einfach, anstatt heimlich wie ein Dieb zu naschen? Ich würde merken, dass ich viel weniger brauche, wenn ich offen und genussvoll nasche.
Und dann sehe ich meinen liegenden Körper vor mir. Plötzlich fügt sich jedes Detail, an dem ich mich so störe, der runde Rücken, das Hohlkreuz, die weiblichen Hüften, zu einem harmonischen Ganzen: Es ist eine Welle! »Die Welle ist in allem«, sagt Mahinda, »sie ist Symbol für das Leben. Dein Körper will Ausdruck dieser Lebenskraft sein.« Es sei im Übrigen gut, das genussvolle Essen immer wieder durch Fasten zu ergänzen, das habe er auch immer so gemacht. Askese und Genuss. Sie wechseln sich ab wie in einer Wellenbewegung. Ich werde also fasten, um den ungebetenen Gast zum Verlassen meines Körpers zu bewegen. Und danach, wenn ich wieder gesund bin, werde ich lustvoll essen, genau so, wie mein Körper es verlangt.
Lesen! Was für ein willkommener Nebeneffekt meiner Krankheit! Wieder nehme ich mir Hans-Peter Dürr und seine Quantenphysiker-Kollegen vor. Sie ergänzen das Teilchen, den elementarsten Baustein der klassischen Physik, durch die Welle; sagen, dass je nach Betrachtung beides wesentlich sein kann. Vielleicht ist diese Sichtweise die größte Revolution unserer Zeit. Das Teilchen steht für das Abgetrennt-Sein, denn es definiert sich über die Abgrenzung zum Nachbarteilchen. Wo ein Teilchen ist, kann das andere nicht sein. Anders die Welle: Sie ist zugleich alles andere. Die Welle ist das Meer. Das ist der Titel eines Buches von Willigis Jäger, das mich ebenfalls anspricht und schon als Nächstes neben meinem Bett auf mich wartet.
Ich weiß, eigentlich sollte ich Ruhe geben. Aber mich ermüdet das viele Liegen, doch sogar das Lesen strengt mich auf Dauer an. Vor allem aber habe ich das Fasten jetzt schon satt. Ständig gaukelt mir meine Fantasie leckere Speisen vor. Gerade habe ich ein winziges Bröckchen Schokolade gegessen, aber das half nur kurz. Jetzt geht es mir dafür umso schlechter. Ich bin so unzufrieden mit mir! Ich faste nun schon den neunten Tag und nehme einfach nicht ab. Zwar hat der Durchfall aufgehört, da der Nachschub ausbleibt, aber ich werde immer schwächer, und das herrliche Gefühl geistiger Klarheit, das sich sonst beim Fasten einstellt, lässt auf sich warten. Wenn ich ehrlich bin, gibt es mindestens eine Sache, in der ich mich selbst belüge: die Motivation für mein Fasten. Ich leugne beharrlich meinen Abnehmwunsch, will mir einfach nicht eingestehen, dass ich mich dick und hässlich finde, egal was Mahinda sagt. Stattdessen mache ich mir vor, alles nur zur Reinigung zu tun und zur Heilung. Ich werde das Fasten jetzt abbrechen und Berge von Schokolade essen. Das ist wenigstens ehrlich!
Zum Glück bremst mich mein gesunder Menschenverstand. Um ein Haar hätten mich Wut und Trotz dazu gebracht, diese unsinnigen Gedanken in die Tat umzusetzen. Stattdessen greife ich zum Stift, um diese Lektion zu notieren. Gerade geht ein heftiges Gewitter nieder, und schlagartig ist es dunkel geworden. Meine Salzkristalllampe flackert nur noch einmal kurz auf und erlischt. Natürlich habe ich wieder alle möglichen Reserveglühbirnen im Haus, nur diese nicht. Meditieren werde ich sicher vor keiner kaputten Lampe mehr! Also werde ich jetzt in den Supermarkt gehen, um eine neue Birne zu kaufen, auch wenn das vollkommen ineffizient ist und ich diesen Ort beim Fasten eher meide.
Es ist wie verhext! Im Supermarkt haben sie alle Birnentypen, nur diese nicht. Um nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen zu müssen, habe ich stattdessen die Glühlampe mit der nächsthöheren Wattstärke gekauft. Nun knie ich vor meiner Lieblingslampe und weiß, dass die fragile Plastikfassung dieser Birne nicht standhalten wird. Schweren Herzens gebe ich auf. Ich fühle mich wie eine geschlagene Kriegerin. Andererseits, je mehr ich darüber nachdenke, muss ich dieses zweimalige Innehalten wohl als Erfolg verbuchen. Zweimal hat die Vernunft über die Wut gesiegt. Wenn ich es so betrachte, hat es doch auch etwas Tröstliches.
Noch nie ist mir das Fasten so schwergefallen. Heute, am zwölften Fastentag, bin ich so geschwächt, dass ich kaum noch aufstehen und zur Toilette gehen kann. Auch das Lesen fällt mir immer schwerer. Ich könnte immerzu nur schlafen. Aber es ist kein tiefer, erholsamer Schlaf, sondern ein unruhiges, traumreiches Umherwälzen. Und da ich tagsüber so viel schlafe, liege ich in der Nacht oft wach. Ich mache mir Sorgen, wie lange das noch so gehen kann. Aber wer weiß schon, wofür Körper, Geist und Seele diese Auszeit brauchen?
Mir wird nun auch noch ausgerichtet, dass mein Vorgesetzter sich über die vielen Krankheitstage beschwert hat. Das ärgert mich maßlos, vor allem die darin verborgene Unterstellung, dass ich mich bloß vor der Arbeit drücken wolle. Dass ich mich allerdings so darüber ärgern kann, zeigt mir, dass meine Lebensgeister wohl doch noch recht lebendig sind.
Gerade war Ursula da. Sie brachte mir Blumen mit und ein paar Lebensmittel, mit denen sie mich locken will, wieder etwas zu essen. Sie ist nicht die...