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'Du sollst nicht töten' - Der dissoziierte Hirntod und die Frage nach Organtransplantation in medizinischer Perspektive und theologischer Reflexion

AutorBjörn Tackenberg
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl58 Seiten
ISBN9783638545815
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 1997 im Fachbereich Theologie - Systematische Theologie, Note: 1,0, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Systematische Theologie (Dogmatik und Ethik)), Veranstaltung: Zulassungsarbeit zur theologischen Promotion, 63 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Vorbemerkung: Zum ersten Mal kam ich vor fünf Jahren in einem meiner ersten medizinischen Semester während einer vorklinischen Vorlesung über Nierentransplantation mit den Problemen des Hirntodes in Berührung. Der engagierte Professor bot seine ganze Autorität auf, um uns Anfängerinnen und Anfängern nahezubringen, wie wichtig die Definition des Hirntodes für die Transplantationsmedizin ist; auch wie vielen Menschen durch eine Organtransplantation dauerhaft geholfen werden könne. Es sei deswegen, allemal für Studierende der Medizin, eine moralische Pflicht, als Organspenderin und Organspender zur Verfügung zu stehen. Eindringlich bat er uns, entsprechende testamentarische Verfügungen auszufüllen. Einige Zeit später begann der makroanatomische Präparierkurs an der Leiche. Im wissenschaftlichen Umgang mit einem Toten hatte ich über ein Semester Zeit für eine erste Auseinandersetzung mit Tod und Sterben. Im klinischen Studienabschnitt half ich, ein außercurriculares Seminar für Studierende der Medizin zum Thema 'Diagnosemitteilung und Sterbebegleitung' zu organisieren und konnte dafür Professoren und Dozentinnen der Psychologie, Medizinethik, Inneren Medizin und Theologie gewinnen. Ich glaubte, eine gewisse Diskrepanz erkennen zu können zwischen dem Menschenbild der Medizin, wie es sich mir in den Vorlesungen, Kursen und im Gespräch mit den Lehrenden erschloß und dem Menschenbild, das ich in meinem Theologiestudium kennenlernte. An (fast) keinem Ort des Medizinstudiums ist der Zweifel didaktisches Konzept. Im Notfall zu zweifeln tötet! Und Medizin wird in der Universität oft vor diesem weiß-schwarzen Hintergrund gelehrt. Ich habe mich deswegen sehr auf die Arbeit an dem vorliegenden Text gefreut. Sie hat mir die Möglichkeit gegeben, mir in einem für die Medizin wichtigen Bereich ein Urteil zu bilden.

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Leseprobe

C. Hauptteil


 

1. Der Hirntod in Medizinischer Perspektive und kritischer Reflexion


 

1.1 Das zugrundeliegende Menschenbild


 

Zunächst stellt sich die Frage, wie wir einem Menschenbild auf die Spur kommen können, das als solches nirgends ausgeführt wird (vgl. Teil B.). Eine „transplantationsmedizinische Anthropologie“ kann auch nicht zu Rate gezogen werden, weil sie erst geschrieben werden müßte. Gute Hinweise ergeben sich m. E. aus den Argumenten, die von seiten der Transplantationsmedizin zur Verteidigung des Hirntodkriteriums als Todeskriterium angeführt werden. Sie seien in ihren wesentlichen Strängen im folgenden dargestellt und der Sicht Luthers gegenübergesetzt.

 

1.1.1 Das Menschenbild der Transplantationsmedizin[33]

 

Die Bundesärztekammer sieht mit dem Organtod des Gehirns die „für jedes personale Leben unabdingbaren Voraussetzungen, ebenso [...] alle für das eigenständige körperliche Leben erforderlichen Steuerungsvorgänge erloschen“.[34] Damit bedeute die Feststellung des Gehirntodes gleichzeitig die Feststellung des Todes des Menschen.[35] Menschliches Leben wird hier definiert als aus Personalität und köperlichem Leben bestehend. Für körperliches Leben wird zusätzlich das Kriterium der autonomen Steuerung gefordert. Was hier auf den ersten Blick als Trennung von leiblichem Leben und personhaftem Leben erscheint, ist über die Klammer des Lebens eingefaßt und wird auch konsequent in weiteren Stellungnahmen der Kammer als menschliches Leben, als leiblich-geistiges Dasein[36] bezeichnet. Was aber verbirgt sich aus der Sicht der Transplantationsmedizin hinter dem Begriff ‘menschliches Leben in Personalität und Körperlichkeit’?

 

1.1.1.1 Leben

 

Die biologischen Lebensmerkmale sind die Fähigkeiten zu Autonomie, Spontaneität, Selbststeuerung, Anpassung, Abgrenzung[37] und Integration. Diese Merkmale erweisen sich in empirischen, meßbaren biochemischen und physiologischen Prozessen als gemeinsame Merkmale aller lebenden Zellen. Was so von der Zelle als kleinste eigenständige Einheit gilt, wird übertragen auf höhere Organisationseinheiten und hier ebenso mit Leben gleichgesetzt. Für das Wesen des Organismus als ganzes Lebewesen ist festgelegt, daß es diese Merkmale trägt.[38] Es kann sie als Organismus nur tragen, wenn das Gehirn diese Fähigkeiten ausgebildet hat und anzuwenden imstande ist.[39] Ganzheitlichkeit eines Organismus wird hier definiert als das Das-Ganze- Ausmachende und nicht als das Ganze in der Summe all seiner Einzelteile (ganzer Organismus[40]).[41] Es handelt sich hier also um eine Wesensdefinition des organismischen Lebens, damit aber noch nicht des Menschen. Menschliches Leben ist gekennzeichnet durch Personalität und Körperlichkeit. Wenn die oben genannten Merkmale aber das Wesen des Lebens definieren wollen, müssen Personaltität und Körperlichkeit als Composita menschlichen Lebens ebenso diese Merkmale tragen, sonst sind sie nicht lebend.[42]

 

1.1.1.2 Personalität[43]

 

Die Charakteristika von Personalität sind Individualität und Bewußtseinstätigkeit als Bewußtseins- und Selbstbewußtseinsfähigkeit[44], Subjektivität und Identität[45], Handlungsfähigkeit als den moralischen Status des Individuums konstituierend[46], Willensfreiheit[47]. Alle diese Eigenschaften gründen sich nach transplantationsmedizinischer Auffassung in der Geistigkeit des Menschen als der differentia specifica des homo sapiens gegenüber allen anderen Lebewesen. [48] Als konkrete Kennzeichen für das Vorhandensein dieser Eigenschaften der Person werden von dem amerikanischen evangelischen Theologen und Medizinethiker J. Fletcher folgende Kriterien genannt: „Intelligenz, [...] Selbstkontrolle, Sinn für Zeit, Sinn für die Zukunft, Sinn für die Vergangenheit, Beziehungsfähigkeit, Fürsorglichkeit, Kommunikation, Existenzkontrolle, Neugier, Veränderbarkeit, Gleichgewicht zwischen Rationalität und Gefühl [...]“[49].

 

Den Merkmalen von Personalität ist damit nicht nur gemeinsam, daß sie sich in der Geistigkeit des Menschen gründen, sondern weil diese Geistigkeit nach gängiger Vorstellung an das Gehirn gebunden ist, gründen sie sich ihrem Wesen nach im Menschen selbst. Das Lebensprinzip der menschlichen Person ist also ein dem Menschen durch und mit seiner Geistigkeit wesenhaft innewohnendes Prinzip. Von dieser Geistigkeit aber muß gefordert werden, daß sie den Kriterien des Lebens genügt (vgl. 1.1.1.1). In der autonomen, spontanen, individuellen Steuerung und Integration verfügt der Mensch, seiner selbst bewußt, über dieses ihm innewohnende Lebensprinzip selbst. Folgerichtig kann so geschlossen werden, daß der Mensch „durch den Tod seines Gehirns [,das der Ort dieses Verfügungsgeschehens ist,] die Merkmale seines Daseins als geistbegabter Organismus“[50] verliert.

 

1.1.1.3 Körperlichkeit

 

Hier müssen zwei Dimensionen von Körperlichkeit unterschieden werden: Einmal die Dimension des Organismus, zum anderen die des Organs. Der Organismus lebt nach transplantationsmedizinischer Auffassung nur als ganzer. Dies gilt ebenso für die Körperlichkeit des Menschen, als Compositum dieses Organismus als ganzem.[51] Die sie bestimmenden Vorgänge lassen sich in biochemische und physiologische Prozesse zerlegen. Die autonome Integration dieser Prozesse stellt aus transplantationsmedizinischer Sicht das entscheidende Kriterium für die Körperlichkeit des Organismus dar.[52] Organisch ist diese Integrationsfähigkeit an das Gehirn gebunden[53]. Der körperliche Teil des menschlichen Organismus lebt als ganzer nur solange, wie er die an das Gehirn gebundenen Kriterien des Lebens erfüllt. Nun gehört das Gehirn als Organ dem Körper in seinen Einzelteilen zu, also dem im jonasschen Sinne ganzen Organismus. Die Transplantationsmedizin geht aber davon aus, daß mit dem Tod dieses Organs der Organismus als ganzer gestorben ist. Ein Teil, ein in Körperlichkeit existierendes Organ also, bestimmt die Existenz des Organismus als ganzem. Wenn man hier zugunsten der Transplantationsmedizin keinen Widerspruch annehmen will, ergibt sich daraus aber zwingend, daß der Organismus als ganzer ausschließlich im Gehirn existiert. Letztlich gibt es für die Transplantationsmedizin keine Körperlichkeit ohne ein intaktes Gehirn, jedenfalls keine, die menschliches Leben begründet. An das dem Menschen verfügbare körperliche Gehirn also wird das Lebensprinzip herangetragen, das den außerhalb des Gehirns existierenden Körper am Leben erhält, ihm Leben gibt.

 

1.1.1.4 Zusammenfassung

 

Das Lebensprinzip von Person und Körperlichkeit des Menschen ist nach transplantationsmedizinischer Argumentation ein im Gehirn mit der menschlichen Geistigkeit und physiologischen bzw. biochemischen Integrationsfähigkeit autonom innewohnendes Prinzip. Der Mensch wird dabei als Einheit von Person und Körper verstanden. Gerade die letzten Überlegungen zu 1.1.1.3 legen aber den Verdacht nahe, daß diese Einheit von der Transplantationsmedizin in Wahrheit nur im Gehirn gesehen wird. Mit dem Tod des Gehirns ist der Organismus als ganzer gestorben und mit ihm alles Menschliche am Menschen.

 

1.1.2 Der homo huius vitae

 

 Im vorausgegangenen Kapitel haben wir versucht, das Menschenbild der Transplantationsmedizin in seinen Ansätzen nachzuzeichnen. Wie kann nun aus Sicht des christlichen Glaubens verantwortbar vom Menschen gesprochen werden? Luther leuchtet dies in seiner Disputatio de Homine[54] in zwei Richtungen aus: philosophisch und theologisch. Soll Martin Luthers Auffassung vom Menschen Hilfe geben, auf das Menschenbild der Transplantationsmedizin zu antworten, haben wir an dieser Stelle der Untersuchung die Frage nach dem Menschen vor allem auf dessen irdische Konstitution als Einzelwesen, also auf seine philosophische Definition zu beziehen.

 

 Martin Luther gibt die philosophische Definition des Menschen in der ersten These seiner Disputation als animal rationale, sensitivum, corporeum wieder.[55] Dies definiere aber allein den homo mortalis et huius vitae (Th. 3). Der totus homo ist nur in der theologischen Definition des Menschen erfaßt: Er ist als Gottes Geschöpf in der imago dei ohne Sünde geschaffen, als Fleisch und lebendige Seele (sensus und ratio) zu ewigem Leben (Th. 21). Er ist als ganzer unter die Macht der Sünde gefallen und hat keine eigenen Kräfte, sich aus der Sündenmacht zu lösen (Th. 22). Er ist deswegen ein allein durch die göttliche Gnade in Christus (Th. 23) zu rechtfertigender (Th. 32) und so zum ewigen Leben zu befreiender (Th. 23) Mensch. Luther sieht das Leben als duplex vita: als das sterbliche, irdische Leben und das eschatische, künftige, ewige Leben.[56]

 

Die Argumentation der Transplantationsmedizin im Hinterkopf scheint in...

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