Wer den Wurzeln der ssozialistischen Exilpolitik nachspürt und dabei bis zu den Gründungsjahren der Bewegung zurückblickt, dem wird unter dem Eindruck widerstrebender Meinungen und unterschiedlicher Strategien bald klar, dass es sinnvoll ist, die Parteigeschichte in Zeitabschnitte zu gliedern, die historische Zäsuren darstellen. Dies auch deswegen, weil diese meist auch mit dem Wirkungszeitraum dominanter Führungspersönlichkeiten korrelieren. Bei dieser Sicht kommt man zu sechs Zeitabschnitten. Der erste Abschnitt ist die von Viktor Adler und zuletzt auch von Karl Renner geprägte Gründungs- und Aufbauphase. Sie reicht bis in den ersten Weltkrieg hinein und lässt sich –etwas verallgemeinernd- als die Reformistische [39] charakterisieren. Die zweite Phase umfasst die von der Revolution in Russland und dem Untergang der Monarchie geprägte Umbruchszeit, die vom Attentat Friedrich Adlers (1916) bis 1919, dem Jahr der Konsolidierung der 1.Republik reicht. Die Leitfigur ist kurzfristig Friedrich Adler, dann Otto Bauer. In der dritten Phase, der Phase des Austromarxismus, dominiert Otto Bauer die Bewegung allein. Er wird sie von 1920 bis 1934 zu lokalen Höhepunkten wie dem ,Roten Wien’, auf Bundesebene aber in den Niedergang und die Illegalität führen. Die vierte Phase, jene der Partei in der Illegalität unter den Revolutionären Sozialisten wird von Josef Buttinger und Otto Bauer gestaltet. Ihr folgt 1938 jene Exilphase die samt ihren Auswirkungen auf die Phase 6, der Nachkriegsentwicklung, Kernthema dieses Buches ist.
-- Ferdinand Lassalle als Geburtshelfer
Die österreichische Arbeiterbewegung ist kein Kind der Revolution des Jahres 1848. Auf den Barrikaden Wiens standen zwar auch Arbeiter, doch ihr Handeln war noch nicht vom Klassenbewusstsein, sondern allein vom Wunsch getragen, dem absolutistischen Regime ganz allgemein mehr Bürgerrechte abzutrotzen. Die österreichische Arbeiterbewegung ist vielmehr eine Tochter der (reichs) deutschen Arbeiterbewegung, deren organisatorische und ideologische Führung auf dem Vorsprung der Industrialisierung in Preußen beruhte. Ihre Geburtshelfer in Österreich waren durchwegs deutsche Sozialdemokraten, der Sozialismus den sie predigten war jener von Ferdinand Lassalle.[40] Diese Geburtshelfer dachten nicht nur sozial und international, sie dachten auch national. Dieses Denken in Ethnien entsprang nicht etwa den deutschen Fürstenhöfen, im Gegenteil. Die deutschen Fürsten des 18.Jahrhunderts standen dem Deutschnationalismus mit beträchtlichem Misstrauen gegenüber, da er ja mit den eigenen Macht- und Loyalitätsansprüchen konkurrierte. Auf diesem Misstrauen beruhte auch die Präferenz der nichtpreußischen Fürsten für die Führung des Reiches durch das Haus Habsburg. Man konnte unter Habsburgs Führung sicher sein, dass aus dem multiethnischen Osten des römisch-deutschen Reiches keine großdeutschen Impulse kommen würden. Der deutsche Nationalismus der Neuzeit geht auf keinen Deutschen, sondern auf einen Franzosen zurück, auf Napoleon Bonaparte. Als Führer der Grande Nation zerschlug er das weit mehr an feudalen als an ethnischen Kriterien orientierte [41] Römisch-Deutsche Kaiserreich. Nicht zuletzt um Habsburg zu schaden förderte der Korse im Zuge seiner imperialistischen Politik das Nationalbewusstsein der nichtdeutschen Nationen innerhalb des Reiches, provozierte damit aber auch das Nationalbewusstsein des durch katastrophale Niederlagen gedemütigten deutschsprachigen Bürgertums.[42]
-- Die Stunde der „geschichtslosen Völker“
Im Wiener Kongress gelingt es den Fürsten Europas die nationalistischen Tendenzen noch einmal zurück zu drängen. Doch die Revolution von 1848, die den Vielvölkerstaat Österreich weit nachhaltiger erschüttert als andere vom Aufstand betroffene Länder, läßt ahnen, dass es 1915 lediglich gelungen war, die Uhr der Weltgeschichte um ein paar Jahre zurückzustellen. Die Notwendigkeit Russland zu Hilfe zu holen, um die eigenen Völker wieder in den Griff zu bekommen macht klar, dass Habsburgs deutsche Führungsrolle auf keiner tragfähigen Machtbasis mehr beruht. Dies wird in der Niederlage des Jahres 1866 zur folgenschweren Gewissheit und führt zur Eliminierung des Landes aus dem Deutschen Bund. Das militärische und außenpolitische Debakel lässt den internen österreichischen Nationalitätenkonflikt erneut hell auflodern, das Kaiserreich Österreich droht wie 1848 zu zerbrechen. Magyaren und Slawen hatten sich bislang ja nur deshalb mit der Führungsrolle der deutschen Minderheit im Kaiserreich abgefunden, weil hinter dieser auch die Deutschen des Reiches bzw. des Deutschen Bundes standen. Nun aber steht die deutsche Minderheit im Habsburgerreich für sich allein. Ihrer -von der Staatssprache und der Nationalität eines Gutteils der Beamten und Offiziere abgesehen- eher fiktiven Führung stehen nun die Gleichberechtigungs- bzw. Autonomieansprüche der anderen Nationen des Reiches gegenüber.
Zunächst sind es nur die Ungarn, die aus dieser neuen Situation Kapital schlagen können. Sie ringen dem isolierten Monarchen mit dem Ausgleich des Jahres 1867 ihre weitgehende Selbständigkeit ab. Die Versuche der tschechischen Volksgruppe ähnliche Zugeständnisse für die Länder der böhmischen Krone zu lukrieren scheitern vordringlich am Widerstand der Ungarn, auch die deutsche Volksgruppe in Böhmen und Mähren wehrt sich im Reichstag mit Obstruktion dagegen, was die Tschechen mit gleicher Münze zurückzahlen.
Was die tschechischen Nationalisten in diesen Jahren beflügelt, ist die Eroberung der bislang vorwiegend deutschsprachigen Städte und deren Bildungseinrichtungen. Die Ursache liegt in der Industrialisierung des kohlereichen Böhmens, das in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zum wichtigsten Industriestandort Zisleithaniens aufwächst. Die Industrie lockt hunderttausende böhmische Bauernsöhne und Bauerntöchter nicht nur in die böhmischen und mährischen Städte, sondern auch nach Wien.[43]
-- Deutsch-Österreicher im Abwind
Parallel zum Hochgefühl der Magyaren und Slawen [44] steigt die Furcht der abgewerteten deutschen Volksgruppe zwischen den selbstbewussten, kinderreichen Tschechen sowie den Ungarn, den Polen und den Südslawen zerrieben zu werden. Sie verstärkt sich, als der Monarch, der sich international weiterhin als „erster deutscher Fürst“ gibt, diese Befürchtungen keineswegs durch unterstützende Taten entkräftet. Im Bestreben, sein berstendes Reich zusammenzuhalten und einer slawischen Einheitsfront in Zisleithanien vorzubeugen, präferiert er vielmehr Bündnisse mit den Polen und reaktionären böhmischen Adelskreisen, während er zu den Liberalen und damit zum Kern der deutschen Volksgruppe auf Distanz geht. Aus dieser Perzeption von Bedrängnis und Zurücksetzung entwickelt sich der heute generell missverstandene bzw. politisch umgedeutete Deutschnationalismus mit seiner typischen Vereinskultur, seinen Schiller- und Goethedenkmälern und seiner Obstruktion gegen Änderungen der bestehenden Ordnung. Dieser Deutschnationalismus weist auch nach 1871 in Summe nur geringe groß- bzw. alldeutsche Tendenzen auf und zeigt sich so gut wie ausschließlich bestrebt, die Rechte der deutschen Volksgruppe wenigstens im Rahmen von Zisleithanien zu wahren.[45] Eine der Magyarisierungspolitik in Transleithanien oder der Polonisierungspolitik in Galizien vergleichbare Germanisierungs- bzw. Austrifizierungspolitik hat es in der Doppelmonarchie weder von Regierungsseite noch seitens der Volksgruppe gegeben. Wenn nun österreichische Politologen und Historiker [46] die Schuld am Untergang der Donaumonarchie nicht etwa generell mit dem Nationalitätenproblem in Zusammenhang bringen, sondern überwiegend bis ausschließlich mit der deutschen Volksgruppe und ihren angeblich fatalen groß- bzw. alldeutschen Tendenzen, so muss dies mangels tragfähiger Quellen [47] als ahistorisch bezeichnet werden.
-- Arbeiterbewegung und Nationalitätenfrage
Mitten im turbulenten politischen Geschehen nach Königgrätz schlägt mit der Dezemberverfassung 1867 auch die Geburtsstunde der Arbeiterbewegung. In den nun legalisierten Arbeiter-Bildungsvereinen wird sehr engagiert über Wege zur realisierbaren Mitbestimmung und Mitgestaltung des öffentlichen Lebens diskutiert, es werden dabei aber auch Hoffnungen und Sehnsüchte geweckt, welche durch die neue Verfassung nicht gedeckt sind. Dazu zählt vor allem das von der deutschen Schwesterpartei geförderte alldeutsche Streben. So richtet beispielsweise Lassalles Nachfolger Johann Baptist von Schweitzer am 1.Jänner 1868 folgendes Manifest an die Arbeiter Wiens: [48]
„Die Sachlage ist einfach und klar: Es muss danach gestrebt werden, ein Zusammengehen des...