Die Beziehungen zu anderen Menschen können leidvoll und von Glück erfüllt sein. Einerseits dienen Beziehungen unserer persönlichen Entwicklung, andererseits werden wir durch sie in Anspruch genommen für Ziele, die jenseits unserer Wünsche liegen. Oft sind wir in Zusammenhänge eingebunden, die wir nicht durchschauen. Den stärksten Einfluss auf unsere Beziehungen hat dabei die Familie, erst die Herkunftsfamilie und später die Familie, die wir mit einem Partner gründen. Nach Hellinger sind uns die Bedingungen für das Gelingen von Beziehungen vorgegeben: die Bindung, die Ordnung und der Ausgleich zwischen Geben und Nehmen.
Die Bindung
Durch unser Gewissen sind wir an die Gruppe von Menschen gebunden, in die wir hineingeboren wurden. Diese Aussage mag zunächst befremdlich erscheinen. Doch wenn wir das Band, das uns mit den Familienmitgliedern verbindet, nicht oder nur selten spüren, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existiert. Selbst zu Menschen, deren Existenz uns völlig unbekannt ist, kann eine tiefe Bindung bestehen.
Ein Beispiel: In einer Aufstellung ging es um zwei Geschwister, die in einem Konzentrationslager umgekommen waren. Die Spätergeborenen haben davon nie etwas erfahren, doch ihre intensive Bindung an die verschwiegenen Familienmitglieder war unübersehbar. Alle schauten wie hypnotisiert auf die Toten, alles andere war belanglos.
Die Bindung an Familienmitglieder muss also nicht immer bewusst sein. Jemand kann sagen: »Meine Mutter ist mir unwichtig, mit der habe ich keinerlei innere Beziehung! Nur zum Vater habe ich immer Nähe gespürt.« Die Realität in der Aufstellung zeigt jedoch etwas anderes. Die Bindung eines Kindes an seine Eltern wird selbst dann deutlich sichtbar, wenn jemand seine Eltern kaum erlebt hat und an einem anderen Ort aufgewachsen ist. Die Elternschaft als biologisches Faktum reicht für die Entstehung der Bindung völlig aus. Einwänden kann man mit der Frage begegnen: Gibt es etwas Größeres, als einem Wesen das Leben zu schenken?
Eltern sind mit ihren Kindern verbunden und umgekehrt. Zwar ist es besonders für das Kind wichtig, die Bindung an Vater und Mutter zu achten, doch müssen auch die Eltern sich diese Bindung bewusst machen. Hier ein extremes Beispiel:
Der Umgang mit Klienten hat gezeigt, dass das vorgetragene Problem nicht immer jenes ist, was die Seele gerne auf die Tagesordnung setzen möchte. Ein Mann kam in meine Praxis, um ein Berufsproblem zu lösen. Das schon beschriebene Stellen mit Platzhaltern wende ich des Öfteren auch bei anderen Problemen an. Ich bat den Klienten daher, sich und seine Berufsmöglichkeiten im Raum zu platzieren. Es ergab sich folgendes Bild:
M: Mann, 1: Berufsmöglichkeit 1, 2: Berufsmöglichkeit 2, 3: Berufsmöglichkeit 3. Die Einkerbung der Papierscheiben zeigt die Blickrichtung an.
Zunächst stellte sich der Mann auf die Papierscheibe für die eigene Person, anschließend nahm ich diesen Platz ein. Auf dieser Position wurde man sofort unsagbar traurig und spürte einen deutlichen Stich im Herzen. Das Herz krampfte sich förmlich zusammen. Ich teilte das dem Mann mit und sagte: »Merkwürdig! Für eine Berufsaufstellung verstehe ich all das nicht. Hier handelt es sich um etwas ganz anderes.« Diese Vermutung hatte ich zum einen wegen der starken Trauer und der Herzschmerzen, zum anderen wegen der identischen Blickrichtung aller Platzhalter: Alles schaute in eine Richtung! Da fehlte etwas!
Nach meiner Schilderung von dem Stich in der linken Brustseite erzählte der Klient, dass er tatsächlich mit dem Herzen zu tun habe. Eine Vermutung darüber, was ihm denn »auf dem Herzen liegt«, hatte er nicht. Er war sichtlich ratlos. Im zweiten Schritt nahm ich ein Papier mit Fragezeichen und legte es der Vierergruppe gegenüber, so dass das Fragezeichen die vier anderen anblickte:
Auf dem Fragezeichen nahm ich wieder eine große Traurigkeit wahr, und eine Sekunde lang war mir, als sehe ich ein Kind, das zu ihm wollte. Doch ich traute meiner Wahrnehmung nicht und schwieg. Nach einer Weile sagte der Mann unvermittelt: »Das mit dem Fragezeichen könnte vielleicht mein unehelicher Sohn sein.« Es stellte sich heraus, dass er vor 30 Jahren einen Sohn gezeugt hatte, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Auch wenn sein Bewusstsein diesen Sohn fast vergessen hatte, die Seele erinnerte sich. Ich habe den Klienten ermutigt, über Ämter oder eine Detektei den Sohn ausfindig zu machen. Denn in seelischer Hinsicht ist es für beide von Bedeutung, dass sie Kontakt miteinander haben. Besonders für die Identitätsfindung des jungen Mannes ist es wichtig, seinen Vater kennenzulernen.
Erst nachdem wir über all das gesprochen hatten, konnte ich ihm in der Berufsfrage einen Rat geben. Das Beispiel zeigt, dass selbst dann, wenn man überhaupt nicht an familiäre Probleme denkt, sie sich in den Vordergrund schieben können. Sie sind um vieles wichtiger als manch anderes Problem, das uns beschäftigt.
Wie immer nun die Gruppe (Familie), in die wir hineingeboren wurden, beschaffen sein mag: Wir fühlen uns eng mit ihr verbunden. Das Kind erlebt diese Bindung als Liebe und Glück, unabhängig davon, wie es sich in der Gruppe entfalten kann oder auch verkümmert. Diese Liebe kann als Urliebe oder primäre Liebe bezeichnet werden.
Mit unserem Gewissen reagieren wir auf alles, was die Bindung fördert oder sie in Frage stellt. Wir haben ein gutes Gewissen, wenn unser Verhalten die Gruppenzugehörigkeit bestätigt. Ein schlechtes Gewissen dagegen entsteht, wenn wir uns durch unser Verhalten von der Gruppe absetzen.
In einer Mafiafamilie beispielsweise wird das Gewissen auf bestimmte Umstände völlig anders reagieren und andere Dinge für richtig halten als in einer Beamtenfamilie. Vom Standpunkt des Kindes gibt es kein Gut oder Böse. Für das Kind ist immer das gut, was seine Bezugsgruppe gut findet. In welche Richtung das Pendel des Gewissens auch ausschlägt, sein Ziel bleibt, die Bindung an die Ursprungsgruppe zu sichern.
Nicht nur in der Familie dient das Gewissen dazu, die Bindung an die Gruppe aufrechtzuerhalten. Am Arbeitsplatz, im Fußballverein oder in unserem Freundeskreis sieht das Gewissen, das uns dazugehören lässt, jeweils anders aus. Doch die wichtigste Bindung des Menschen ist die an seine Familie. Erst danach folgen die Bindungen an größere Gruppen.
Folgendes Beispiel kann die Intensität der Kind-Eltern-Beziehung verdeutlichen: Kinder stellen sich Eltern oft in den Weg, wenn diese keine Lust mehr am Leben haben und aus der Familie tendieren. Dieses »In-den-Weg-Stellen« kann durchaus wörtlich verstanden werden. Eine Klientin stellte sich in einer Platzhalteraufstellung genau vor den Vater. Als sie auf der Papierscheibe für ihre Person stand, sagte sie: »Ich muss meinen Vater stabilisieren, damit er bleibt.« Der Vater war des Lebens müde gewesen. Ihn zog es in der Aufstellung mit aller Kraft zu seiner Mutter (der Großmutter der Klientin), die er in seinem sechsten Lebensjahr plötzlich verloren hatte.
Wie intensiv Kinder an der Situation ihrer Eltern Anteil nehmen, zeigt auch ein anderes Beispiel: Ein verheirateter Mann, Vater von zwei Kindern, war überrascht, dass er nach dem Ergebnis einer Familienaufstellung mit Platzhaltern selbstmordgefährdet war. Der Mann fühlte sich weder krank noch lebensmüde. Doch in der Aufstellung war er auf mehrere Mitglieder der Herkunftsfamilie ausgerichtet, die sich umgebracht hatten oder früh gestorben waren. Seine Söhne standen ihm gegenüber und wollten den Vater daran hindern, dass er geht.
Wochen nach der Aufstellung erzählte mir der Mann, dass er eines Morgens den Jüngsten aus dem Bett holen wollte. Als der Vater ins Kinderzimmer trat, erwachte das Kind gerade und sagte: »Papa, du darfst noch nicht sterben. Papa, geh nicht weg.« In der Folge kam dem Klienten dann zum Bewusstsein, dass er tatsächlich seit vielen Jahren selbstmordgefährdet war. Doch hatte er es nicht wahrhaben wollen.
Die Bindungsliebe eines Kindes an die Eltern geht nicht selten bis zum Äußersten: Ein Vater bestrafte seinen Sohn, weil dieser trotzig war, und in der darauf folgenden Nacht erhängte sich das Kind. Noch im Alter trug der Mann schwer an seiner Schuld. Im Gespräch mit einem Freund erinnerte er sich, dass dieses Kind nur wenige Tage vor seinem Selbstmord bei einer bedeutenden Szene zugegen war und darauf reagiert hatte. Bei Tisch hatte die Mutter erzählt, dass sie wieder schwanger war. Das Kind hatte wie außer sich gerufen: »Um Gottes willen, wir haben doch keinen Platz!« Und der schon alte Vater begriff: Das Kind hatte sich geopfert, um den Eltern ihre Sorgen abzunehmen. Der Sohn hatte für sein neues Geschwister Platz gemacht. (MFL: 82)