Wie der bekannte Publizist und Essayist Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz „Zugbrücke außer Betrieb. Die Mathematik im Jenseits der Kultur – eine Außenansicht“[1] darstellte, scheint es in allen Bevölkerungsschichten vollkommen legitim zu sein, die Mathematik zu verteufeln. Ob Schauspieler, Autor oder Politiker – jeder beteuert, von „Mathematik schon immer keine Ahnung gehabt“ oder sie „nie verstanden“ zu haben. Und das Gegenüber nickt in der Regel verständnisvoll, was es vermutlich nicht täte, wenn das Subjekt ein anderes wäre: Klassiker der Literatur beispielsweise wie Goethe, Schiller oder auch Shakespeare, Mozarts kleine Nachtmusik oder Beethovens Neunte. Und auch die Geschichtswissenschaft scheint sich der Mathematik völlig zu verschließen, wenn man einmal von dem Trend absieht, insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte die eigenen Aussagen mit Statistiken zu belegen, die – um ein weiteres gängiges Vorurteil zu bedienen – überwiegend kaum verstanden und erst recht nicht auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden.
Diese wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des 1. Staatsexamens will im Gegensatz zur vorherrschenden Distanz der Disziplinen Geschichte und Mathematik den Brückenschlag wagen. Die historische Metrologie als wenig beachtete Teildisziplin der Historischen Hilfswissenschaften stellt den methodischen Rahmen der folgenden Erarbeitung, Aspekte der spätmittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte am Beispiel der Hanse bilden den epochalen. Um das gestellte Thema „Metrologische Angaben in Handelsbüchern der Hansekaufleute Veckinchusen. Eine Auswertung unter Berücksichtigung der kaufmännischen Rechenkunst des 14. Jahrhunderts.“ vollständig erfassen zu können, muss jedoch auch die mathematikhistorische Seite einbezogen werden. Sie umfasst einen Einblick sowohl in die kaufmännische Ausbildung im Rechnen als auch in die Rechenpraxis im Handelskontor – was in diesem Zusammenhang in der Literatur hauptsächlich ohne Beachtung bleibt[2] – und liefert damit auch eine Erklärung für den Umgang mit verschiedenen metrologischen Angaben.
Als primäres Untersuchungsobjekt und Quelle dient die von Lesnikov angefertigte und 1973 erschienene Edition der Handelsbücher der Hansekaufleute Hildebrand und Sivert Veckinchusen. Aufgrund der ebenfalls umfangreich überlieferten Briefwechsel dieser Brüder bestehen über kaum eine andere Kaufmannsfamilie der Hansezeit so umfangreiche Kenntnisse wie über die Veckinchusen, die auch von Afflerbach zur Erstellung seiner „Kollektivbiographie“ primär herangezogen werden. Eine relativ unfangreiche biographische Darstellung über die Brüder wird auch einen Teil dieser Arbeit bilden, in dem ich unter anderem auch herauszufinden versuche, wie die rechentechnische Ausbildung als Teil der kaufmännischen bei Sivert und Hildebrand ausgesehen haben mag. Dass es eine gegeben hat, ist unstrittig, denn für den Kaufmannsalltag im Kontor oder auf Reisen war der Umgang mit Zahlen und Maßen wesentlich. Auch noch heute ist Rechnungswesen ein wesentlicher Teil jeder kaufmännischen Ausbildung, die Prüfungsordnung wirtschaftswissenschaftlicher Studienfächer sieht den Erwerb mehrerer mathematischer Scheine vor – der Grundgedanke einer engen Verknüpfung von handelsgewerblicher Tätigkeit und mathematischen Kenntnissen hat sich bis heute bewährt, wenngleich sich die kaufmännische Ausbildung des 14. Jahrhunderts in der Retrospektive allein auf den Bereich der elementaren Arithmetik beschränkte.
Die Veckinchusen waren Hansekaufleute. Innerhalb der Hanse als überregional operierender Zusammenschluss von Kaufleuten und Städten dominierte der Gesellschaftshandel gegenüber dem Eigenhandel. Diese Organisationsform erforderte ein erhebliches Maß an Lese- und Schreibkompetenzen sowie Kenntnisse in der Rechentechnik und der Umrechnung von Maßen. Das umfangreiche erste Kapitel widmet sich in seinem ersten Teil als eine Art Einführung der Organisation des Handels im Hanseraum, zeigt dabei die Entwicklung der Hanse von den Kaufmannshansen hin zum städtischen Bündnis unter Führung Lübecks, was in etwa auch dem ungefähren Stand zur Zeit der Veckinchusen entspricht. Ehe eine Art Kurzbiographie die beiden Brüder in den Fokus rücken wird, folgt jedoch der bereits eben angesprochene Versuch der Rekonstruktion der mittelalterlichen Kaufmannsbildung, insbesondere im Hinblick auf die rechentechnische Ausbildung.
Dass Kenntnisse der Rechentechnik und unterschiedlicher Maßangaben, die in der theoretischen oder praktischen Ausbildung zukünftiger Kaufleute erlernt wurden, auch im späteren Berufsleben von Relevanz waren, zeigt das nächste Kapitel, das sich mit Handelsgeschäften, Maßen und Rechnen beschäftigt. Hier werden zunächst das Problem der Maßuneinheitlichkeit und die Entstehung desselben erörtert: Unterschiedliche Handelsbräuche und eine Vielfalt von arithmetischen Prinzipien liegen diesem zugrunde. Im Handel dominieren einige Verpackungsmaße, die jedoch eng an die Ware gekoppelt sind. Weniger als an die Verpackungsart als vielmehr an das Gewicht einer Ware – beide Angaben sind jedoch metrologischer Art – gebunden ist ihr Preis und damit auf die Menge bezogene Abschläge wie beispielsweise Zölle oder Steuern. Dies liefert auch eine Erklärung dafür, wo in erster Linie metrologische Angaben zu finden sind – unter anderem auch in den hier vorliegenden Handelsbüchern aus dem Nachlass des Hildebrand Veckinchusens.
Eine kurze Geschichte ihrer Edition sowie Aufbau und Gestalt der Handelsbücher stehen vor der abschließenden Analyse in Hinblick auf metrologische Angaben in diesen. Eine Auswertung erfolgt jedoch – und entspricht damit dem gestellten Thema nicht ganz – nur für den ersten Teil der Edition Lesnikovs, dem Buch mit der Signatur Af 1. Diese Konzentration erfolgte allein aus Zeitgründen mit dem Vorsatz, eher in die Tiefe als oberflächlich zu arbeiten. Gegliedert ist diese Auswertung nach Warentypen, nämlich solchen, die weitestgehend konstant in den Aufzeichnungen Hildebrands zu finden sind: Tuche, Pelzwaren sowie Wachs sind die Hauptobjekte der Auswertung. Ein Blick auf weitere Waren wird im abschließend auswertenden Fazit die Ergebnisse der Auswertung zu untermauern versuchen. Eben diese soll unter der Fragestellung stehen, welche metrologischen Angaben welchen Waren zuzuordnen sind. Dabei wird zu zeigen sein, dass die Verpackungseinheit nicht die alleinige Maßangabe ist, die bezüglich ein und derselben Ware von Hildebrand in seinen Aufzeichnungen verwendet wurde. Denn auch hier gilt, dass die Verpackungs- (also Transport-) Einheit nicht zwangsläufig diejenige sein muss, nach der Waren weitergehandelt oder abgerechnet werden. Inwiefern dies auf die oben genannten Waren zutrifft, wird die Auswertung zeigen. Wie bereits angekündigt, wird sich jedoch auch ein mathematikhistorischer Faden durch die Arbeit ziehen, einige Rechnungen Hildebrands – für die Ware Wachs – werde ich auf Fehler überprüfen und diese zu erklären versuchen.
Die Ansiedlung der Arbeit in dem sehr speziellen Themenbereich der historischen Metrologie schlägt sich auch stark in der Literaturlage wider. Die Arbeiten von Harald Witthöft, der die Forschung in eben gerade dieser Disziplin in Deutschland etwa seit den 70er Jahren prägt, sind auch für meine Arbeit wesentlich: Drei Aufsätze und eine Monographie, die mein Thema betreffen, finden sich in meinem Literaturverzeichnis wider. Von mathematikhistorischer Seite trifft diese Führungsrolle am ehesten noch auf Menso Folkerts (gemeinsam mit Karin Reich) zu, wenngleich die die Rechenbücher betreffende Quellendichte erst mit Beginn des 16. Jahrhunderts – und damit für dieses Thema ein Jahrhundert zu spät – zunimmt. Mit der Geschichte des Rechenunterrichts befassen sich auch die Schriften von Unger und Grosse, allerdings noch deutlich vor bzw. um 1900 entstanden und daher nicht immer valide. Aus diesem Grund war über weite Strecken auch nur eine Rekonstruktion der kaufmännischen Ausbildung in der Rechenkunst im 14. Jahrhundert möglich. Das Dunkel in Bezug auf diese Frage erhellt haben in erster Linie die Dissertationsschrift von Bruchhäuser sowie die Aufsätze von Jeannin und Rösch, die sich ebenfalls mit der kaufmännischen (Aus-) Bildung im Mittelalter befassen – gleiches gilt für die Dissertation von Schönfeld aus den 1920ern.
Als Standardwerke für die Hansegeschichte darf man zu Recht die Monographien von Dollinger und (recht aktuell) Hammel-Kiesow bezeichnen, die beide auch von mir verwendet wurden, um einen Hintergrund für meine Ausführungen bezüglich des Hansehandels zu schaffen. Für die Biographie der Veckinchusen zog ich die erweiterte Magisterschrift von Afflerbach ebenso heran wie zwei Aufsätze Irsiglers und einen von Kuske. Allgemein fanden sich in den Hansischen Geschichtsblättern, die vom Hansischen Geschichtsverein bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts herausgegeben werden, viele Aufsätze, die mein Themengebiet in irgendeiner Weise berührten. Neben Witthöft als wesentlichen Autor in Bezug auf metrologische Angaben seien noch die Edition von Krüger und die Monographie von Wolf genannt, die mit ihrem Bezug auf die Brügger Steuer- und Revaler Schiffslisten mir einen Einblick in die unterschiedlichen Quellen gab, in denen metrologische Angaben zu finden sind. Aus allen weiteren von mir verwendeten Aufsätzen ist außerdem noch die Arbeit von Ulff-Møller zu nennen, in der er die Vielfalt der metrologischen Angaben und die Schwierigkeiten ihrer Umrechnung in...