Im Folgenden werde ich mich vor allem auf die Individualisierungstheorie von Ulrich Beck beziehen, da seine Betrachtung von Individualisierung sowohl ihre negativen als auch positiven Seiten beschreibt, und somit in ihrer Ambivalenz betrachtet wird.
Anschließend werde ich die Auswirkungen von Individualisierung auf verschiedene Teilbereiche des Lebens darstellen.
Bei Betrachtung der Individualisierungstheorie Ulrich Becks werden vor allem drei Aspekte deutlich: Die Freisetzungs-, die Entzauberungs-, sowie die Kontroll und die Reintegrationsdimension. Im Folgenden werden diese drei Aspekte genauer dargestellt, um den Umfang der gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse zu verdeutlichen.
Der Mensch erlebt eine Herauslösung aus vorgegebenen sozialen Lebensformen wie einer traditionellen Klassenbindung und den Versorgungsbezügen der Familie. Zudem ist der Mensch auf sein individuelles Arbeitsmarktschicksal verwiesen.[24]
Die überlieferten, vorgegebenen Sozialformen und Sozialbindungen wie die Familie sowie die Geschlechterrolle von Mann und Frau werden mehr oder weniger aufgehoben, wodurch es zu einer Freisetzung kommt.[25] Während zu Beginn des letzten Jahrhunderts der biographische Verlauf des Lebens durch Geschlechtsrolle, schichtspezifische Kulturwerte und meist „vererbte“ Berufe innerhalb der Familie meist vorgegeben war, wird das Leben in der Postmoderne zum Projekt, zur Bastelbiographie. Die Normalbiographie weicht einer Wahlbiographie, da der Mensch alle Entscheidungen, die im Leben anfallen, selbst treffen muss.[26]
Gerade im Bezug auf Geschlechterrollen kann hier von vier Faktoren der Freisetzung bei der Frau gesprochen werden: Früher reichte ein Frauenleben zeitlich betrachtet dazu, Kinder zu bekommen und sie großzuziehen. Heute enden die Zuständigkeiten der Mutter für ihre Kinder mit durchschnittlich 45 Jahren. Durch die Verlängerung der Lebenserwartung der Frau hat diese im Regelfall noch einige Jahrzehnte ein Leben ohne direkte Zuständigkeit für ihre Kinder. Somit ist die Mutterschaft für die Frau „nur“ noch ein Teil ihres Lebensabschnitts. Beck bezeichnet dies als demographische Freisetzung der Frau.[27] Im Bezug auf die Hausarbeit haben sich eine soziale Isolation und eine Rationalisierung vollzogen. Durch ein vermehrtes Wegbrechen von Beziehungen (z.B. Nachbarschaft oder Bekanntschaft) bildet sich für die Hausfrau eine „Insularexistenz“[28] heraus. Durch technische Rationalisierungsprozesse, die auf die Hausarbeit übergreifen, wird die Hausarbeit stark entlastet, da vielfältige Maschinen wie Waschmaschine und Geschirrspüler einen Großteil der zu erledigenden Arbeit im Haushalt übernehmen. Durch diese Veränderung hat die Frau die Möglichkeit auch außerhäuslich einen Beruf zu ergreifen.[29] Zudem haben Frauen die Wahl, selbst zu entscheiden, ob sie Kinder bekommen und zu welchem Zeitpunkt. Hierbei ist ein entscheidender Punkt die neuerworbene rechtliche Möglichkeit, eine Schwangerschaft zu beenden sowie die Entwicklung von zahlreichen empfängnisverhütenden Mitteln. Trotz alledem ist eine Mutterschaft ohne ökonomische Abhängigkeit zwar möglich, gestaltet sich jedoch oftmals als schwierig. Dies verweist auf den letzten Punkt der Freisetzung aus den Geschlechterrollen: Wachsende Scheidungszahlen zeigen die Brüchigkeit von Ehe und Familienversorgung, wodurch die Frau eine Freisetzung aus ihrer Rolle lebenslanger Garantie auf ökonomische Versorgung durch den Lebenspartner erfährt.[30]
Die Dimension der Freisetzung, welche die Frauen erfahren, entfällt auf der Seite des Mannes. Jedoch entsteht für den Mann die Möglichkeit, durch eine verstärkte Erwerbstätigkeit auf Seiten der Frau, seine Rolle als alleiniger Ernährer für die Familie aufzugeben. Weitere Auswirkungen der Freisetzungsdimension auf familiäre Lebensstrukturen werden unter 3.2.2 noch ausführlicher erläutert.
Mit der Auflösung der industriegesellschaftlichen Lebensform „Kleinfamilie“ geht auch ein Verlust traditionaler Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen einher.[31] Traditionellkollektive und gruppenspezifische Sinnquellen sind mehr oder weniger aufgelöst und aufgezehrt. Während vor einigen Jahrzehnten Werte und Normen gesellschaftlich vorgegeben waren, liegt es heute an dem Einzelnen für sich zu entscheiden, nach welcher ethisch-moralischen Grundhaltung er sein Leben gestaltet und Entscheidungen trifft. Dadurch entstehen viele Möglichkeiten für den Menschen sein Leben zu bestimmen, jedoch immer mit dem Risiko verbunden, die getroffenen Entscheidungen gegebenenfalls im Nachhinein zu bereuen. Beck bezeichnet dies als „riskante Freiheiten“[32]. Es kommt also zu einem Verlust von traditionellen Sicherheiten beim Handeln.[33]
Durch neugewonnene Fortschritte im Bereich von Wissenschaft und Technik erfährt der Mensch ein neues Wissen über die Entstehung der Welt und über Natur und Umwelt. Der Mensch wird sich über neue Risiken durch den Fortschritt der Wissenschaft, wie Klimawandel, Krankheiten, Gentechnologie, Atomkraft oder Nuklearwaffen bewusst.[34] Durch das erworbene Wissen entstehen neue Formen von Existenz und Zukunftsängsten. In früheren Jahrhunderten wurden Ängste stark von einem Glauben und von Religion aufgefangen und kanalisiert. Während zu der damaligen Zeit das irdische Leben bereits im Horizont des Lebens im Jenseits gesehen wurde, bleibt in der heutigen Zeit das individuelle Befinden im Hier und Jetzt. Damals war der Sinnhorizont stark von Religion bestimmt, die ein Leben nach dem Tod und Erlösung von Leiden versprach. Der Umgang mit Krankheit und Leiden hat sich dadurch in der postmodernen Gesellschaft verändert und Gesundheit gewinnt eine scheinbar transzendatale Bedeutung.[35]
Seit der Epoche der Aufklärung geht das Kriterium einer vernünftigen Beurteilung einher, welches die bis dahin ungebrochene Deutungshoheit der christlichen Religion auflöst. Viele biblische Geschichten und kirchliche Dogmen verlieren ihre Glaubwürdigkeit auch durch den offensichtlichen Widerspruch zu wissenschaftlichen Welterklärungen. So zum Beispiel die Schöpfungsgeschichte, welche durch wissenschaftliche Erkenntnisse ihre Überzeugungskraft verliert.[36] Es kommt zu einer Art Entzauberung von christlicher Religion und ihrer Überlieferung.
Auch die Zugehörigkeiten zu einer Religion haben sich im Zuge der Individualisierungsprozesse gewandelt: Während früher der Glaube an eine bestimmte Religion meist innerhalb einer Familie „vererbt“ wurde, besteht nun für den Menschen die Möglichkeit zwischen einer Vielzahl an Religionen und Glaubensrichtungen zu wählen.
Neben der Freisetzung und der Entzauberung erfolgt jedoch gleichzeitig eine neue Art der sozialen Einbindung durch Institutionen, die den Menschen sozusagen parallel einer Außensteuerung und Standardisierung aussetzt. [37]
Es kommen neue institutionelle Anforderungen, Zwänge und Kontrollen auf den Einzelnen zu, welche als „Standardisierung“ bezeichnet werden können. Diese „Standardisierung“ meint rechtliche Regelungen sowie die Abhängigkeit von konjunkturellen Schwankungen der Wirtschaft. Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und sind damit auch abhängig von Bildungssystem, Beschäftigungssystem, Sozialstaat und der Dienstleistungsgesellschaft. Durch diese Einbindungen erfolgen für den Menschen Festlegungen und Eingriffe in den Lebenslauf. Beck weist hier auf die Abhängigkeit des Einzelnen von sozialen Institutionen, vor allem von den Strukturen des Arbeits und Konsummarkts und deren staatlicher Gestaltung hin.[38] Durch die individuelle Qualifikation eines Menschen regelt sich auch der Zugang zum Arbeitsmarkt, in den er eingebunden ist, und der seine Biographie nachhaltig prägen kann.[39] Der Mensch ist demnach abhängig von seinem berufsspezifischen Arbeitsmarkt sowie von der Preisentwicklung von Konsumgütern und bestimmten Dienstleistungen. Er hat keinen Einfluss auf diese Entwicklungen und ist ihnen somit ausgeliefert.[40] Die Einbindung in einen geregelten sozialen Lebenslauf wird von einer erfolgreichen Absolvierung des Bildungssystems und einer kontinuierlichen Erbringung von marktfähiger Arbeitsleistung bestimmt.
Durch Änderungen von Wohnungspolitik oder Strategien von Großunternehmen können zahlreiche Menschen direkt und nachhaltig betroffen sein. Dem Handeln des Menschen sind durch die Regelungsdichte der Gesellschaft, aber auch durch sozialstaatliche Leistungen, eindeutige Grenzen gesetzt.
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