Nachdem grundlegende logistische Zusammenhänge sowie verschiedene Formen unternehmensübergreifender Zusammenarbeit in Unternehmensnetzwerken dargestellt wurden, soll im weiteren eine integrative Betrachtung der bisher weitgehend nebeneinanderstehenden Bereiche erfolgen.
Obwohl der Netzwerkgedanke seit langem in der Logistik verankert ist, wurde er in der Vergangenheit überwiegend zur Strukturierung unternehmensinterner Logistiksysteme verwendet.[231] Erst seit der Entwicklung des Konzepts der Logistikkette werden auch interorganisatorische Logistiksysteme durch die für die Logistikkonzeption charakteristischen Denkansätze erfaßt.[232] Bereits heute zeichnet sich allerdings ein zunehmender Übergang von logistischen Ketten hin zu dynamischen Logistiknetzwerken[233] ab.[234] Während sich in der Vergangenheit u. a. im Bereich der Forschung und Entwicklung Kooperationen bewährt haben, werden zunehmend auch Produktions-, Einkaufs- und Lieferverbünde gebildet. Neben der Chance einer gemeinsamen Entwicklung und Einführung neuer Produkte und Technologien erkennen viele Unternehmen dabei in einer ressourcenbezogenen Vernetzung der Logistik die Chance, sich auf Kernkompetenzen zu konzentrieren und in einem „Verbund der Besten“ zu agieren.[235]
Bretzke greift das bereits von Pfohl[236] verwendete Beschreibungsraster der mathema-tischen Graphentheorie auf und definiert Logistiknetzwerke als ein System aus Knoten und Verbindungen zwischen Knoten (Kanten), durch das der Waren- bzw. Informationsfluß zwischen einer definierten Anzahl von Quellen und zugehörigen Senken strukturiert und gelenkt wird.[237] Auch Heymann erfaßt Logistiknetzwerke „strukturtheoretisch“ und beschreibt sie als ein Gebilde aus Knoten (Elementen) und Kanten (Knotenverbindungen, Relationen).[238]
Die Erscheinungsformen logistischer Netzwerke sind vielfältig, wobei Bretzke Produktionsverbundsysteme, Beschaffungs- und Distributionsnetze sowie Netzwerke logistischer Dienstleistungsunternehmen unterscheidet. Als Produktionsverbundsysteme verbinden sie räumlich verteilte Produktions- bzw. Fertigungsstätten miteinander. Im Rahmen der Beschaffungslogistik strukturieren sie als Beschaffungsnetz den Beschaffungskanal zwischen Abnehmern und Lieferanten, wohingegen Distributionsnetze den Versorgungskanal zwischen Lieferant und Kunden strukturieren. Logistiknetzwerke logistischer Betriebe schließlich bündeln als offene Systeme die Warenströme einer Vielzahl von Nutzern und zeichnen sich dadurch aus, daß sie Warenströme in beliebigen Richtungen aufnehmen können, d. h. die Knoten sind zugleich Quellen und Senken gebündelter Warenströme und übernehmen je nach Verkehrsrichtung sowohl Konsolidierungs- als auch Auflösungsfunktionen.[239] Ebner systematisiert unterschiedliche Arten von Logistiknetzwerken gemäß ihrer „Komplexität“ und differenziert grundsätzlich zwischen baumartigen „one-to-many“ bzw. „many-to-one“ Netzwerken und flächigen „many-to-many“ Netzwerken. Im Gegensatz zu den klassischen Distributions-[240] und Beschaffungsnetzwerken[241] mit einer baumartigen („one-to-many“ oder „many-to-one“) Struktur weisen insbesondere die „firmeninternen“ Netzwerke logistischer Dienstleister u. U. aber auch von Multi-Standort- / Multi-Produktunternehmen komplexe flächige „many-to-many“ Strukturen auf.[242] Während baumähnliche Netzwerke überwiegend in der Markenartikelindustrie, der industriellen Beschaffung und Ersatzteilwirtschaft sowie im Handel vorzufinden sind, weisen insbesondere Stückgut und Paketdienstsysteme eine flächige Netzwerkstruktur auf.[243] Heymann differenziert in diesem Zusammenhang vier Hauptlaufsysteme, die in Abbildung 9 dargestellt sind.
Abbildung 9: Flächendeckende Logistiknetzwerke[244]
Beim Liniensystem werden die einzelnen Netzknoten durch einen Verkehr verbunden, bei dem z. B. ein LKW von A nach B, von B nach C, von C nach D usw. fährt.[245] Die Linienbildung geht von Standorten und Relationsaufkommen aus und ordnet das Aufkommen ganz oder in Teilen bestimmten Linien zu.[246] Liniensysteme werden dabei insbesondere bei kleinem, unregelmäßigem Transportaufkommen durchgeführt. Beim Nabe-Speiche-System dagegen werden die einzelnen Netzknoten über ein zentrales Umschlagshub miteinander verbunden. „Hub-Spoke-Systems“ werden i. d. R. bei mittlerem Transportaufkommen installiert, wenn zum Hub Komplettladungen befördert werden können. Werden mehrere Nabe-Speiche-Systeme miteinander kombiniert, so wird auch von Mehrhub- bzw. Regionalhubsystem[247] oder von Mehr-Naben-System[248] gesprochen. Beim Rastersystem wiederum werden die Netzwerknoten durch Direktverkehre miteinander verbunden. Voraussetzung für die Installation eines Rastersystems ist ein ausreichendes Transportaufkommen, um je Relation Komplettladungen transportieren und möglichst paarige Verkehre realisieren zu können. Ausgangspunkt eines Misch-systems ist i. d. R. ein Nabe-Speiche-System, bei dem mit zunehmendem Verkehrsvolumen sukzessive auch Direktverkehre zugelassen werden.[249] Diese Hauptlaufnetze werden i. d. R. mit Nahverkehrsnetzen kombiniert, wobei große Mengen kleinerer Sendungen in den Einzugsgebieten der Versand- und Empfangsdepots gesammelt (Vorlauf) bzw. verteilt (Nachlauf) werden.[250] Die beschriebenen Strukturen unternehmensinterner Logistiknetzwerke logistischer Dienstleistungsunternehmen können prinzipiell herangezogen werden, um auch unternehmensübergreifende Logistiksysteme zu strukturieren.
Da sich die im Rahmen dieser Arbeit behandelten Unternehmensnetzwerke vor allem auf Produktionsprozesse beziehen, erscheint es auf den ersten Blick plausibel, die netzweite Logistikorganisation als Produktionsverbundsystem zu begreifen. Piontek dagegen spricht in diesem Zusammenhang von logistischen Beschaffungsnetzwerken.[251] Die strikte Trennung verschiedener Logistiknetzwerke verschwimmt schließlich vollständig, wenn man die Logistikprozesse in den einzelnen Unternehmensnetzwerken näher betrachtet. So läßt sich beispielsweise das interorganisatorische Logistiksystem eines strategischen Netzwerks sowohl als Beschaffungsnetzwerk als auch als Produktionsverbundsystem bezeichnen. Betrachtet man das Logistiksystem des Netzwerks aus der Perspektive eines einzelnen Modullieferanten scheint es u. U. sogar gerechtfertigt von einem Distributionsnetz zu sprechen. Hinzu kommt, daß einzelne Netzwerktypen miteinander verknüpft sein können, so daß das Produktionsverbundsystem eines regionalen Netzwerks zugleich Bestandteil des Beschaffungsnetzes eines strategischen Unternehmensnetzwerks sein kann. Diese Beispiele verdeutlichen, daß in einem Unternehmensnetzwerk unterschiedlich orientierte Logistiksysteme enthalten sind, wobei eine pauschale Klassifizierung wenig hilfreich erscheint.
Bereits die Problematik der begrifflichen Erfassung vermittelt somit einen ersten Eindruck der Komplexität logistischer Prozesse in Unternehmensnetzwerken, die nur über entsprechend „netzwerkfähige“ Methoden und Instrumente beherrschbar ist. Bevor auf einzelne Instrumente eingegangen wird, soll jedoch ein allgemeiner Betrachtungsrahmen entwickelt werden, der es ermöglicht, die Handlungslogik logistischer Netzwerke zu erfassen und mögliche Analyseaspekte systematisch einzuordnen.
Im Rahmen der Analyse logistischer Netzwerke lassen sich mit der internen und externen Sicht zwei grundlegende Betrachtungsebenen unterscheiden.
Die externe Sicht kommt dabei dem Außenbetrachter zu, der das zu untersuchende Logistiknetzwerk aus einer Makroperspektive beurteilt, wobei diese Betrachtungsart objektiven Charakter aufweist und einer übergreifenden, strukturellen Untersuchung dient. Die interne Sicht hingegen versetzt den Betrachter in das jeweilige Logistiknetzwerk hinein und läßt ihn das Geschehen durch die „Brille“ der einzelnen Netzwerkunternehmen betrachten, wobei sowohl die Handlungen als auch die informelle Entscheidungsbasis der Netzwerkakteure erfaßt werden.[252] Hippe weist jedoch darauf hin, daß diese Differenzierung nicht ausreicht, um die Handlungsebenen insbesondere strategisch orientierter Netzwerke vollständig zu erfassen, da in dieser Organisationsform einem oder mehreren fokalen Unternehmen eine übergreifende Koordinationsfunktion zukommt, was im Vergleich zu den übrigen Netzwerkpartnern ein anderes Netzwerkbewußtsein voraussetzt.[253] Übergreifende Koordinationsnotwendigkeit ergibt sich jedoch nicht ausschließlich in strategischen, sondern u. U. auch in regionalen insbesondere aber auch in virtuellen Netzen, so daß es sinnvoll erscheint, die ursprüngliche Dichotomie ergänzend, zwischen interner Makrosicht, die dem koordinierenden Unternehmen obliegt und einer Mikrosicht,...