Dieses Kapitel liefert einen weiterführenden Diskurs über die Ursachen der zuvor beschriebenen Umsatzverluste in der Tonträgerindustrie. Zunächst werden die Auswirkungen des Internets und der Digitaltechnik auf die Welt- und Musikwirtschaft beschrieben, die in besonderem Maße die Rahmenbedingungen der Tonträgerindustrie verändert und das alte Geschäftsmodell grundsätzlich in Frage gestellt haben. Nachfolgend werden die digitale Ökonomie und ihre Informationsgüter charakterisiert und darauf aufbauend Konsequenzen für die Musikbranche und ihre Unternehmen abgeleitet. Diesem Teil folgt eine Ursachenanalyse, die die zuvor dargestellten Umsatzeinbrüche fernab von Auswirkungen des Internets und der Digitaltechnik auf die Tonträgerindustrie betrachtet und Gründe in Fehlentscheidungen des Managements und in der zunehmenden Konkurrenz der Freizeitkonsumgüter sucht.
Die Weltwirtschaft befindet sich seit dem Aufkommen des Internets als neues Kommunikations- und Distributionsmedium im stetigen Wandel. Neben der Herausbildung neuer Markt- und Unternehmensstrukturen werden traditionelle Unternehmensphilosophien in Frage gestellt. Leistungsfähigere Informations- und Kommunikationstechnologien haben komplette Wertschöpfungsketten und sämtliche Transaktionsschritte digitalisierbar gemacht, damit für gravierende Veränderungen in einzelnen Industrien gesorgt und in zunehmendem Maße die Gesetzmäßigkeiten verändert, nach denen die postindustrielle Gesellschaft bislang funktionierte.[52] In der Literatur wird daher häufig von der digitalen bzw. der Internet-Revolution gesprochen, die, parallel zur industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, nicht nur die Wirtschaft, sondern das gesamte Lebensumfeld nachhaltig verändern wird.[53] Es kann davon ausgegangen werden, dass die volle Wirkung des Internets erst in 20 bis 30 Jahren eintritt.[54]
Diese Veränderungen der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und Wirkungszusammenhänge können auf drei wesentliche Merkmale der digitalen Ökonomie zurückgeführt werden: Digitalität, Vernetzung und Globalität.[55] Die Digitalisierung ermöglicht eine Übertragung von Daten in Computernetzwerken. Die Vernetzung aller in der digitalen Ökonomie involvierten Akteure ebnet den Weg, in Echtzeit zu interagieren und digitale Informationen schnell und unkompliziert auszutauschen. Der potentielle Nutzen der Vernetzung kann anhand des Gesetzes der kritischen Masse[56] (Metcalfesches[57] Gesetz) demonstriert werden. Dem Gesetz zufolge nimmt der Wert eines Netzes beziehungsweise der Nutzen einer Technologie exponentiell mit der Anzahl der Nutzer zu. Es treten so genannte positive Netzwerkeffekte auf, die zu steigenden Skalenerträgen[58] führen.[59] In gemeinsamer Konsequenz führen die Eigenschaften Vernetzung und Digitalität zu einem dritten Charakteristikum der Internetökonomie: Der Globalität. Globale Interaktionsmuster, die geographische Restriktionen obsolet machen und interkontinentale Transaktionen ermöglichen, verstärken den Globalisierungsprozess der Weltwirtschaft zunehmend.[60]
Dem elektronischen Handel, dem so genannten E-Commerce, kommt somit ein immer größer werdender Stellenwert zu. Die Distribution und Vermarktung digitaler Informationsprodukte stellt dabei die extremste Form des E-Commerce dar. In vielen Branchen werden traditionelle Handelsformen, Informations- und Vertriebswege durch digitale Vertriebswege ergänzt oder ersetzt. Der digitale Vertrieb beschreibt die non-physische Abwicklung sämtlicher Transaktionsphasen über das Internet, von der Geschäftsanbahnung über Vereinbarung, Lieferung bis hin zu Zahlungsvorgängen. Ein körperloser Vertrieb kann jedoch erst in Zusammenhang mit digitalen Informationsprodukten und weiterentwickelten Übertragungs- und Kompressionsverfahren erfolgen. Mit der Einführung des MP3-Formates[61] vollzog sich in der Tonträgerindustrie ein bedeutender Wandel in der Wertschöpfungskette. Diese technologische Innovation hat die Entkoppelung des musikalischen Inhalts vom physischen Tonträger bewirkt, das Speichern und Abspielen digitaler Musikdateien auf einem PC ermöglicht und die Rahmenbedingungen der Musikwirtschaft damit grundlegend verändert. Die Digitalisierung und die Entwicklung neuer Kompressionsverfahren haben dazu geführt, dass „Musik als digitales Produkt zum Vorreiter der gesamten Informations-, Software- und Unterhaltungsindustrie geworden ist.“[62] Dieser Umbruch wurde einerseits durch den starken Konvergenzprozess zuvor separierter Märkte begünstigt. Gleichzeitig haben technologische Innovationen die körperlose Distribution von Musikinhalten durchschlagend beschleunigt und für gravierende Strukturumbrüche in der Tonträgerindustrie gesorgt.
Unter Konvergenz versteht man die zunehmende Annäherung und Verschmelzung von ursprünglich autark voneinander operierenden Industrien, Medien, Telekommunikation- und Informationstechnologien entlang einer gemeinsamen Wertschöpfungskette. Einhergehend damit sind das Verschwinden von Branchengrenzen und die Entstehung von Synergien durch das Zusammenwachsen unterschiedlicher Branchen und Märkte.[63] Die Digitalisierung von Informationen stellt dabei das verbindende Element und den technologischen Treiber der Konvergenz zwischen den einzelnen Industrien dar. Konsumenten sind mittlerweile in der Lage, digitale Unterhaltungsinhalte auf unterschiedlichen Endgeräten wie beispielsweise Notebooks, PDAs[64], Mobiltelefonen und MP3-Playern komfortabel zu speichern, abzuspielen, zu verändern und auszutauschen. Die Zukunft der Medienmärkte wird Internet, Fernsehen und Telefon zu einer als „Triple Play“[65] bezeichneten Informationseinheit verbinden. Begünstigt durch diese starken Konvergenzprozesse im Medienbereich werde hohe Gewinnpotentiale für die Kommunikations-, Medien- und Musikwirtschaft erwartet (vgl. hierzu Kapitel 5).[66]
Neben dem Einfluss der Medienkonvergenzen auf die Musikwirtschaft sind zwei wichtige Trends in der Informations- und Kommunikationstechnologie auszumachen, die eng mit der Konvergenzentwicklung gekoppelt sind und sich nachhaltig auf die Online-Distribution von Musik als digitales Informationsgut ausgewirkt haben. Stähler (2002) führt zwei Gesetze[67] an, die entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie genommen haben. Davon wurde auch die Tonträgerindustrie in erheblichem Maße betroffen (vgl. Kapitel 3.1.3).
Erstens benennt Stähler (2002) das Mooresche[68] Gesetz: Es besagt, dass sich alle 18 Monate die Rechenleistung von Mikroprozessoren bei gleich bleibenden Kosten verdoppeln wird, was folglich zu leistungsstärkeren und kleineren Prozessoren führt, die in immer mehr Alltagsgegenstände eingebaut werden können.[69] Eine ähnliche Leistungsentwicklung durchlaufen auch weitere Computerkomponenten wie Arbeitsspeicher (RAM)[70] und Festplatten.[71]
Der zweite große Trend, den Stähler (2002) feststellt, liegt in Gilders[72] Gesetz begründet. Gilder sagte voraus, dass die verfügbare Bandbreite[73] in den nächsten 10 Jahren dreimal schneller wächst als die Rechenleistung.[74] Neben den größeren Bandbreiten ermöglichen die neuen Zugangstechnologien auch eine permanente Verbindung zum Internet. Der Nutzer wählt sich also nicht mehr ins Netz ein, sondern ist über einen so genannten „Flatrate“-Tarif dauerhaft mit der neuen Infosphäre verbunden.
Wie später in Kapitel 3.1.3 aufgezeigt wird, hat der Zusammenhang zwischen Bandbreite, der vorhandenen Speicherkapazität und der Rechenleistung bzw. der verwendeten Kompressionsverfahren grundlegende Voraussetzungen für einen neuen Distributionskanal für Musik geschaffen und für fundamentale Veränderungen in der Tonträgerindustrie gesorgt. Die nachfolgend thematisierten ökonomischen Eigenschaften digitaler Informationsgüter weisen Besonderheiten auf, die den Umbruchprozess in der Tonträgerindustrie stark beschleunigt haben.
Unter digitalen Informationsgütern werden alle physisch nicht greifbaren, immateriellen Produkte verstanden, die der Unterhaltung, Information, Datenverarbeitung und/oder Geschäftsprozessunterstützung dienen wie beispielsweise Musik, Videofilme, Software oder Aktienkurse.[75] Eine hinreichende und notwendige Bedingung zur Definition des Begriffs „Information“ liefern Shapiro/Varian (1999):
„[…] anything that can be digitized – encoded as a stream of bits – is information.“[76]
Alle Phasen einer Transaktion...