1 Einleitung
Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung der Auswirkungen gewisser agiler Praktiken Ähnlichkeiten mit Situationen in realen Projekten ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.
frei nach Heinrich Böll, »Die verlorene Ehre der Katharina Blum«
Die Weitergabe von Wissen in Form von Geschichten ist eine uralte Tradition mit weltweiter Verbreitung – von den TraumzeitGeschichten der australischen Aborigines bis hin zu den isländischen Sagas. Scrum und andere agile Vorgehensweisen greifen die Idee des Geschichtenerzählens auf, weil sie wissen, dass Menschen Geschichten lieben – Softwareentwickler bilden hier glücklicherweise keine Ausnahme. Was liegt da näher, als das Grundwissen über das agile Rahmenwerk Scrum in Form einer Geschichte zu vermitteln?
Klassische Lehrbücher beschreiben die Werte, Konzepte und Praktiken, die agile Softwareentwicklung und agiles Projektmanagement ausmachen. Der Leser kennt nach der Lektüre das Handwerkszeug, weiß aber noch nicht, wie er damit arbeiten soll. Wann kommt welche Methode sinnvoll zum Einsatz? Worauf muss man im Detail achten, welche typischen Fehler gilt es zu vermeiden? Wie mischt man verschiedene Vorgehensweisen, beispielsweise Scrum und Extreme Programming (XP)? Vor allem aber: Wie verhalten sich Menschen, die nie zuvor agil gearbeitet haben, in einem Scrum-Projekt? Das ist die Frage, die mich ursprünglich zum Schreiben dieser Geschichte animierte. Anhand eines einfachen Beispiels möchte ich zeigen, wie sich eine Gruppe von Individuen im Verlauf eines Scrum-Projekts zum erfolgreichen agilen Team entwickelt. Sie sind herzlich eingeladen, diese Individuen auf ihrem Weg von der Idee zum fertigen Produkt zu begleiten. Ganz nebenbei werden Sie lernen, wie man ein Projekt agil durchführt.
1.1 Was ist neu in der zweiten Auflage?
In die zweite Auflage dieses Buches habe ich die frischen Erfahrungen und Erkenntnisse einfließen lassen, die ich in den vergangenen dreieinhalb Jahren als Berater, Trainer und Coach in agilen Projekten gesammelt habe. Mein Dank gilt an dieser Stelle meinen Kunden, den Teilnehmern meiner Trainings sowie allen Kolleginnen und Kollegen aus den agilen Communitys.
Nicht nur ich habe mich in dieser Zeit weiterentwickelt, sondern auch das Scrum-Framework und das stetig wachsende Ökosystem, das dieses Framework umgibt. Die neueste Aktualisierung des Scrum Guide ist im Juli 2013 erschienen und in diesem Buch bereits berücksichtigt, soweit ich die Neuerungen vertreten kann. So habe ich beispielsweise die neue Flexibilität in der Sprint-Länge unerwähnt gelassen, weil diese Neuerung meiner Meinung nach ein agiles Team aus dem Takt werfen und somit kontraproduktiv sein kann. Von den neuen Praktiken und Werkzeugen, die im Scrum-Ökosystem entstanden sind, wurde exemplarisch das Magic Estimation in diese Geschichte aufgenommen.
Umfang und Bandbreite der Literatur zu Scrum und agilen Vorgehensweisen haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Dementsprechend ist die kommentierte Literaturliste am Ende des Buches (»Gemmen der Wieimmerländer Staatsbibliothek«) deutlich angewachsen.
Nicht zuletzt haben Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern der ersten Auflage zu vielen kleinen und großen Verbesserungen geführt – dafür vielen Dank! Von ihnen habe ich auch erfahren, was man mit diesem Buch alles anstellen kann: Einige Scrum Master veranstalten kleine Lesungen für ihr Team, um anhand der Geschichte bestimmte agile Sachverhalte zu erläutern. Andere schenken das Buch ihren Eltern, damit diese endlich verstehen, was ihr Nachwuchs beruflich tut. Auch bei der Bestimmung von Rollen und Arbeitspräferenzen im Team leisten die Märchenfiguren gute Dienste. Ich selbst nutze diese Geschichte gerne in meinen Scrum-Trainings, wo ich immer wieder feststelle, dass Storytelling eine sehr nachhaltige Wirkung erzeugt.
1.2 Für wen ist dieses Buch?
Dieses Buch ist für Scrum Master, Product Owner, Entwickler, Auftraggeber, Stakeholder, Kunden, Projektleiter traditioneller Projekte, Manager – sprich: alle, die auf die eine oder andere Art und Weise mit einem agilen Projekt zu tun haben (könnten). Und für alle, die wissen wollen, wie Scrum funktioniert.
Dieses Buch ist kein klassisches Scrum-Lehrbuch. Es bietet keinen strukturierten Überblick über die Werte, Prinzipien und Praktiken von Scrum, sondern zeigt deren praktische Anwendung in einem fiktiven Projekt. Als Leser sollte man deshalb ein theoretisches Grundwissen über Scrum mitbringen – oder sich überraschen lassen. Die Literaturliste am Ende des Buches führt auch die Standard-Lehrwerke über Scrum auf.
1.3 Ein Märchen?
Das Scrum-Team dieser Geschichte setzt sich aus ungewöhnlichen Personen zusammen: Prinz, Ritter, Großväterchen, Aschenputtel, Gespenst und Hexe – klingt ganz nach einem Märchen. Tatsächlich spielt die Rahmenhandlung in einer Umgebung, wie man sie aus Märchen kennt. Die Idee entstand bei der Suche nach Abstraktionen für die verschiedenen Charaktere, die man üblicherweise in Projekten vorfindet. Eine konkrete Projektsituation vor Augen, musste ich unwillkürlich an einen Prinzen denken und war damit gedanklich in die Märchenwelt eingetaucht. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis ich mein Ensemble beisammen hatte.
So verschieden die Märchenfiguren, so unterschiedlich sind auch ihre ersten Erfahrungen mit Scrum. Die Bandbreite reicht von Begeisterung über vorsichtige Zurückhaltung bis hin zu offener Ablehnung. Dieses Spektrum wird man in fast jedem Projekt vorfinden, und der Umgang mit den Befindlichkeiten der Teammitglieder wird letztendlich über den Erfolg des Projekts entscheiden.
1.4 Eine Drachenfalle?
Ein Softwareentwicklungsprojekt in einem märchenhaften Ambiente? Das wirkt unnatürlich. Deshalb habe ich ganz bewusst ein fachfremdes Beispiel gewählt: Das Team bekommt in dieser Geschichte den Auftrag, die beste Drachenfalle aller Zeiten zu bauen. Bei der Beschreibung eines Softwareprojekts hätte ich zudem eine fachliche Domäne und eine oder mehrere Technologien auswählen müssen – und somit die Mehrzahl der Leser ausgegrenzt, deren Situation anders geartet ist. Dank des fachfremden Beispiels können Sie außerdem die eigentliche Aufgabe dieses Projekts außer Acht lassen (es sei denn, Sie entwickeln tatsächlich gerade eine Drachenfalle) und sich guten Gewissens auf die agilen Aspekte der Geschichte konzentrieren.
Die Tatsache, dass es sich bei der Drachenfalle um Hardware handelt, legt den Verdacht nahe, dass dieses Buch eine agile Systementwicklung beschreibt. Das tut es aber nicht. Die hier geschilderten Lösungsansätze geben meine Erfahrungen aus verschiedenen Softwareentwicklungsprojekten wieder. Als Beispiel für die Systementwicklung ist die Drachenfalle nur bedingt geeignet. Grundsätzlich gilt aber, dass agile Vorgehensweisen nicht allein in der Softwareentwicklung eingesetzt werden können.
1.5 Ein Einhorn?
Für den Leser ohne Erfahrung in agilen Vorgehensweisen ist es nicht immer leicht, die Besonderheiten von Scrum aus der Geschichte abzuleiten. Deshalb wird die Erzählung ab und zu unterbrochen, um das Einhorn Bumaraia zu Wort kommen zu lassen. Es stammt aus dem Land Scrum und kennt sich bestens mit Scrum aus. Die ergänzenden Erläuterungen und kritischen Kommentare des Einhorns vertiefen und festigen das vermittelte Wissen über Scrum. Am Ende kennen Sie nicht nur das Handwerkszeug von Scrum, sondern haben auch ein Gefühl dafür entwickelt, wie man dieses erfolgreich einsetzt.
Die Anmerkungen des Einhorns sind deutlich sichtbar von der Geschichte getrennt. Da das Einhorn über das Projekt reflektiert, verlassen Sie beim Lesen seiner Anmerkungen zwangsläufig die Erzählebene. Sollten Sie sich daran stören, so möchte ich Ihnen empfehlen, diese Anmerkungen beim ersten Lesen zu überblättern. Im zweiten Durchgang können Sie sich dann den Kommentaren des Einhorns widmen.
1.6 Viel zu einfach?
Das in diesem Buch beschriebene Projekt ist vergleichsweise klein. Es gibt nur ein Scrum-Team, das in sieben Sprints die ultimative Drachenfalle baut. Das Team besteht aus fünf Entwicklern und einem Scrum-Meister. Diese Konstellation reicht aber aus, um die wesentlichen Aspekte von Scrum (und ein paar Praktiken aus dem Extreme Programming) anschaulich darzustellen. Ein größeres Projekt wäre nicht so leicht verständlich gewesen. In der Literaturliste am Ende des Buches finden Sie Bücher über Agilität in großen und weltweit verteilten Projekten. Dort habe ich auch die aus meiner Sicht wichtigsten Bücher über Scrum, Agilität im Allgemeinen und andere agile Vorgehensweisen sowie Soft Skills zusammengestellt und kurz beschrieben.
1.7 Nur Scrum?
Da in dieser Geschichte ein konkretes (wenngleich fiktives) Projekt vorgestellt wird, musste ich mich für eine konkrete agile Methode entscheiden. Die Wahl fiel auf Scrum – nicht zuletzt deshalb, weil Scrum den größten Verbreitungsgrad aller agilen Vorgehensweisen hat. Wie bereits erwähnt,...