Die vorgestellten theoretischen Konzepte dienen der Critical Geopolitics als Vorraussetzung zur Entwicklung eines Forschungsprogramms innerhalb der Geographie, welches die Beziehungen zwischen Macht, Politik und Raum einer kritischen Analyse unterzieht.
Die Anfänge einer Critical Geopolitics lassen sich in der Politisierung des Poststrukturalismus in den 80er Jahren sehen, die sich u.a. in dem aus den „Cultural Studies“ hervorgehenden Postkolonialismus äußerten. Das Ziel des Postkolonialismus bzw. einer postkolonialen Geopolitik besteht in dem Aufspüren binärer, reduktionistischer Codierungen der geopolitischen Diskurse für eine Art von fundamentaler Ideologieanalyse. Durch die Dekonstruktion werden scheinbar „natürliche“ Gegensätze als bewusste ethnozentristische bzw. westlichen Konstruktionen enttarnt. Es geht darum, dem Denken in Dichotomien ein Denken von Differenz entgegenzustellen, eine wie Routledge es nennt „alternative story“ hinzuzufügen, welche die Möglichkeit des Anderen in Betracht zieht. Julia Lossau plädiert aus diesem Grund für ein „anderes Denken“ (vgl. Lossau 2001, S. 62; Routledge 1998, S. 245). Die zentrale Fragestellung des Postkolonialismus lautet demnach: „How can we know and respect the Other?“ (Said, zit. nach Lossau 2001, S. 63).
Eine der frühsten Inspirationsquellen der Critical Geopolitics bildete Edward Saids Buch „Orientalism“ (1978). Am Beispiel der Vorstellungen der westlichen Welt über den Orient verdeutlicht der als Referenztheoretiker für den Postkolonialismus geltende Said (Professor für Vergleichende Literatur), dass es sich dabei nicht um Wahrheiten oder Objektivitäten, sondern um bewusst reduktionistisch und einseitig konstruierte Regionalisierungen zu bestimmten politischen Zwecken handelt (vgl. Reuber 2001, S. 126). „Orientalism” beschreibt demnach „a way of coming to terms with the Orient that is based on the Orient´s special place in European Western experience” (Said 2003 [1978], S. 1). Die Beschreibung des Orients drückt demnach „a certain will or intension to understand, in some cases to control, manipulate, even to incorporate” aus (Said 2003 [1978], S. 12).
Die zwei zentralen Kritikpunkte des Postkolonialismus sind der fortbestehende (Neo-) Kolonialismus in Form der Ausbeutung der „Dritten Welt“ und der Eurozentrismus, der in der Dichotomie Orient - Okzident zum Tragen kommt. Die Legitimierung des Kolonialismus war erst durch die (Miss-)Repräsentation anderer Kulturen als primitiv, barbarisch und unterentwickelt möglich. Diese bedürfen der „Hilfe“ der westlichen Zivilisation. Said argumentierte, dass solche Repräsentationen „imaginative Geographien“ darstellen. Diese Art der Repräsentation funktioniert durch die Konstruktion eines Konzepts des Anderen, in dem Differenz mit Geringschätzung gleichgesetzt wird und zur Legitimierung geopolitischer Strategien der Kontrolle und Kolonialisierung durch westliche Länder diente. Auf diese Weise wurde auch der Orient als unterentwickeltes Gegenteil des Okzidents konzipiert. Diesen Sachverhalt dekonstruiert Said in seinem Werk „Orientalism“ und stellt fest, dass diese „imaginativen Geographien“ bis heute Bestand haben. Der Islam wird seiner Meinung nach heutzutage sogar mehr denn je dämonisiert. Said´s Arbeit bietet laut Routledge eine Alternative zur den von Eigeninteressen bestimmten Repräsentationen durch westliche „Experten“ (vgl. Routledge 1998, S. 246f; Said 1998, S. 256).
Während der Postkolonialismus als Inspirationsquelle diente, gehen die konkreten Ursprünge der Critical Geopolitics auf die angloamerikanische Politische Geographie zurück, wo bereits in den 70er Jahren eine kritische Haltung gegenüber einer „objektiven“ Geopolitik der US-Regierung von den Geographen Simon Dalby und John Agnew eingenommen wurde. Als Referenztheoretiker und Namensgeber der Critical Geopolitics gilt allerdings Gearoid O´Tuathail, der Ende der 80er Jahre die von der Reagan Administration als New Geopolitics etablierte Reaktivierung eines geopolitischen Determinismus, der eigene Machtvorstellungen legitimieren sollte, kritisierte (vgl. Wolkersdorfer 2001, S. 143f).
“Critical geopolitics (…) is a problematizing theoretical enterprise that places the existing structures of power and knowledge in question. (…) critical geopolitics seek to recover the complexities of global political life and expose the power relationships that characterize knowledge about geopolitics concealed by orthodox geopolitics (vgl. O´Tuathail 1999, S. 107f). Critical Geopolitics ist dementsprechend ein (kon)textualisierender, die Schriften der geopolitischen Figuren problematisierender Forschungsansatz, eine kritische Betrachtung der der Geopolitik inhärenten Macht-Wissen-Strukturen. Wie der Gebrauch des „Plural-Wortes“ „Geopolitics“ schon Hinweis gibt, wird im Sinne der Postmoderne eine pluralistische Denkweise angestrebt. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit auch nicht die deutsche „Singular-Bezeichnung“ „Kritische Geopolitik“ verwendet, um dem Gedanken des Pluralismus Ausdruck zu verleihen. Pluralismus, Globalismus (& Informationalisierung), Gegensätzliches, Unsicherheit (Risikogesellschaft), Formlosigkeit und Entgrenztheit bestimmen in einer postmodernen, kritisch geopolitischen Weltsicht das Geschehen gegenüber den traditionellen Ansichten von Singularität, Nationalität, Linearität, Sicherheit und Situiertheit. Entsprechend der Ideen des Poststrukturalismus und der Postmoderne steht Critical Geopolitics für die Ablehnung der Geopolitik als absolute politische Wirklichkeit. Geopolitik ist eine spezifische, historisch-kontextuelle, veränder- und verhandelbare Form der Realitätskonstruktion, eine nicht objektiv-essentialistische, sondern situativ-subjektive Wahrheit. Geopolitik kann demnach nicht von einem moralisch neutralen Standpunkt aus betrieben werden kann. Als Form einer spezifischen politischen Praxis will Critical Geopolitics laut O´Tuathail auch verändern und emanzipieren. Die Critical Geopolitics strebt eine „Counter-Narrative“ an, welche die Pluralität von möglichen Raumkonzeptionen und Repräsentationspraktiken betont (vgl. Knox und Marsten 2001, S. 446; O´Tuathail 1999, S. 108-111; O´Tuathail und Dalby 1998, S. 1-5; Sloan und Gray 1999, S. 5).
Der Auftrag einer Critical Geopolitics ist das Aufzeigen, wie Identitäten, geopolitische Regionalisierungen und Feindbilder gemacht werden, welchem Zweck sie dienen, wie das Andere vom Eigenen getrennt und anhand von geographischen Grenzen konstruiert und damit zu strategischen Raumbildern instrumentalisiert wird. O´Tuathail benennt diesen Konstruktionsprozess als „geopolitical scripting“, Peter Taylor (1990) als geographische Kodierung und Simon Dalby (1990) als „geographing“, wodurch in der internationalen Politik Bedrohungen, Gefahren und Feinde als verbunden mit bestimmten Orten und Narrativen repräsentieren werden. Alle drei Konzepte beziehen sich auf eine praktische geopolitische Begründung („practical geopolitical reasoning“) in der internationalen Politik bzw. auf die Frage der Repräsentation und Konstruktion spezifischer geographischer „Realitäten“. Der Begriff „Skript“ in seiner besonderen Bedeutung als Drehbuch gibt den anleitenden Charakter der geopolitischen Begründungsstrategie wieder (vgl. Drosdowski 1996, S. 687). Dem Forschungsprogramm der Critical Geopolitics geht es darum aufzuzeigen, „wie im Diskurs der Akteure geopolitische Weltbilder sprachlich konstruiert werden, wie in Form geographischer Regionalisierungen und Abgrenzungen neue politische Räume entworfen werden und wie diese diskursiven Konzepte dann in der politischen Arena ihre Wirklichkeit entfalten“ (Albert, Reuber und Wolkersdorfer 2003, S. 515). In Anlehnung an Foucault suggeriert ein geopolitischer Diskurs in Form von bestimmten geopolitischen Repräsentationen den Menschen, wie sie zu leben haben und was sie denken sollen; also ein bestimmtes Bild von der Welt. Der moderne geopolitische Diskurs zeichnet sich z.B. durch die Repräsentation des „Anderen“ als zurückbeblieben aus. Zurückgeblieben wird in einer eurozentristischen Sichtweise als eine Zivilisation auf einer Stufe der Vergangenheit westlicher Staaten verstanden. Auf den Weg der strategischen Konzeptualisierung und Instrumentalisierung von Raumvorstellungen können bestimmte geopolitische bzw. territorialpolitische Interessen mit den Mitteln der geopolitischen Argumentation und geographischer Zusammenhangs- und Trennungs- (Abgrenzungs-)Rhetorik, mit manichäis-tischen Begründungssystemen zu einer spezifischen Wahrheit umgeformt werden. Die Dekonstruktion des manipulativen und legitimierenden Charakters, der sich durch strategische Raumbilder entfaltet, ist das Ziel einer Critical Geopolitics. Dabei steht weniger eine Planungs- oder andere kleinmaßstäbige Konflikte untersuchende Politische Geographie wie bei Paul Reuber im Fokus des Interesses, sondern, wie Dodds (1994) es nennt, das „making of foreign policy“ (vgl. Dodds 1994, S. 197-201, O´Tuathail 1992, S. 4; O´Tuathail 1998e, S. 20; Reuber 2002, S. 42-46).
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