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Die literarische Rezeption der Detektivromane Agatha Christies in Deutschland

AutorSabine Buchholz
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl54 Seiten
ISBN9783638859325
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Bachelorarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Anglistik - Literatur, Note: 1,0, Universität Siegen (Fachbereich 3: Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften), 90 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Hinsichtlich des kriminalliterarischen Feldes fehlt der Name einer Autorin in keiner Gattungsstudie: Agatha Christie. Die literarische Rezeption ihrer rätselhaften Detektivromanen hat weltweit auf die Entwicklung der Kriminalliteratur-Szene eingewirkt, wurde daher bereits in zahlreichen Forschungsansätzen unter die Lupe genommen. Im Zuge dieser Studie soll der Fokus nun auf den deutschsprachigen Raum und die bisherige Gesamtdauer der Rezeption - vom Zeitpunkt der Erstveröffentlichung in Übersetzung bis heute - verlagert werden: Wer liest bzw. las Christies Detektivgeschichten zu welcher Zeit aus welchen Gründen und mit welcher Wirkung? Welche Rezeptionsvorteile bietet die von Christie (mit-)entwickelte spezifische Werkstruktur? Hieran knüpft sich außerdem die Fragestellung an, welche Auswirkungen die mediale Ausweitung des Christie'schen Werkes - vor allem in Richtung audio-visueller Medien - auf die Rezeptionssituation (gehabt) hat. Und nicht nur die unmittelbaren Konsumenten haben Anteil an der werkgeschichtlichen literarischen Rezeption; ganz entscheidendend determiniert ein weiterer Faktor, inwiefern die literarischen Texte Verbreitung finden: die Distribution, vor allem durch zahlreiche Verlage. Wie hat sich der deutsche Vertrieb von und der Markt mit Christies Werken seit den ersten übersetzten Publikationen entwickelt? Welche Hinweise geben in diesem Kontext auch paratextuelle Anhaltspunkte (wie etwa divergente Einbandgestaltungen) auf Verkaufsstrategien der Verlage, auf ihre adressierte Leserschaften und damit auf die gesamte Rezeptionslandschaft? Nicht zuletzt sollen die produktiven Rezipienten in Augenschein genommen werden: Hat Agatha Christies literarisches Schaffen Auswirkungen auf die (Fort-)Entwicklung einer deutschen Kriminalliteratur gehabt? Inwiefern greifen hiesige Autoren auf die Werke der englischen 'Mentorin' zurück, machen sich einerseits ihre Vorlagen zunutze und wandeln sie andererseits ab? Und welche evolutionären Einflüsse bergen zudem kritisch wertende Stimmen der Literaturwissenschaft auf die genrespezifische Rezeptions- und Produktionslandschaft? All diese Bereiche beleuchtet die vorliegende Studie - wobei es sich freilich lediglich um theoretische Annäherungen mittels exemplarischer Analysen rezeptionsrelevanter Größen handeln kann, die nicht auf Vollständigkeit plädieren, sondern in erster Linie Anregungen liefern wollen.

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Leseprobe

5. Psychologisch determinierte Rezeptionsmotive: Christies ‚Gebrauchswert’


Dass jeder Mensch komplex verschachtelte, teilweise konträr angelegte, teilweise dicht beieinander liegende Triebe hat, die er in irgendeiner Weise herauslassen oder zumindest verarbeiten muss, ist seit Siegmund Freud hinlänglich bekannt.[88] Zu den humanen Grundbedürfnissen gehören neben den übergeordneten Lebens- und Todestrieben noch einige weitere zu kompensierende Gelüste der menschlichen Psyche, wie das Verlangen nach Entspannung, Sicherheit, Vertrautheit und Stabilität aber auch das nach Abwechslung, Nervenkitzel und einem gewissen Grad an Gefahr.[89] Hierbei gilt zu bedenken, dass Triebverhalten nicht nur von Mensch zu Mensch aus genetischen Gründen divergiert, sondern dass auch verschiedene, historisch wie kulturell und sozial determinierte Gegebenheiten bestimmte Bedürfnisse beeinflussen, teilweise übergeordnet erscheinen lassen, teilweise hemmen. Gleichsam ist das Leseverhalten nicht zu verallgemeinern: Jede Textrezeption ist stets gekoppelt an individuelle Situationen divergenter Leserprofile. Eine Analyse von Rezeptionsmotivationen und Lesewirkungen ist daher problematisch, denn sie muss auf verallgemeinernden Thesen basieren. Gefragt werden muss hier somit hauptsächlich: Welche allgemeinen (positiven) Effekte können Christie-Romane auf ein bestimmtes Zielpublikum haben?


5.1. Leser und Bedürfnisse



Zunächst soll eine kurze Übersicht hinsichtlich des (hypothetischen) Christie-Publikums erfolgen, die nicht nur zu verdeutlichen sucht, wie breit das Spektrum der Leserschaft jederzeit war, sondern auch die Anforderungen unterschiedlicher Rezipientenprofile an ein fiktives Werk in den Blick nimmt.

Überhaupt erst möglich gemacht wurde die Rezeption der Detektivromane Agatha Christies in Deutschland durch die seit 1927 nach und nach erschaffenen Übersetzungen [in diesem Jahr erschienen die ersten deutschsprachigen Ausgaben von The Secret of the Chimneys (dt. Die Memoiren des Grafen), The Murder on the Links“ (dt. Mord auf dem Golfplatz)].[90] Im nationalsozialistischen deutschen Staat war man allerdings sehr darauf bedacht, den Konsum fremdländischer Literatur möglichst zu unterbinden, weshalb davon auszugehen ist, dass hierzulande eine verstärkte Christie-Rezeption erst nach Beendigung des zweiten Weltkrieges einsetzte. Diese Zeitepoche war insbesondere gekennzeichnet durch Unsicherheit, Instabilität, Zerfall und zahlreiche Neuerungen im gesamten sozialen Gefüge, vor allem im Berufsalltag. Die menschliche Psyche suchte in diesen Tagen durch den im Lesakt stattfindenden Eintritt in fiktive Welten hauptsächlich nach Beruhigung und Sicherheit, nach Beständigkeit und Harmonie. Zudem lastete auf den Schultern und in den Köpfen der Nation das auf den unzähligen brutalen Kriegsverbrechen basierende Gefühl einer kollektiven (Teil-)Schuld – diese mentale Belastung musste ebenfalls einen Ausgleich erfahren. Konnten die Detektivromane Christies diesen Anforderungen gerecht werden?

Auch in unserer heutigen, von sozialer Unsicherheit gekennzeichneten Gesellschaft sind die meisten Menschen einerseits auf der Suche nach einem harmonisierenden, Sicherheit gebenden Ausgleich zu realen Sorgen wie finanziellen Belastungen, Stress, zwischenmenschlichen Querelen oder (häufig medial geschürten) Ängsten, etwa vor Arbeitslosigkeit, Krankheiten, Attentaten. In unserer von Hektik bestimmten Zeit muss die Kompensation all dieser Ärgernisse möglichst unkompliziert und einfach geschehen, man sucht rezeptionsfreundliche Entspannung.

Auf der anderen Seite ist es so, dass in unserer Gesellschaft Gesetze, Normen und Konformitäten im Sinne einer regulativen Kraft Vorhersehbarkeit produzieren. Dies indiziert zwar eine Teilsicherheit, führt jedoch gleichzeitig zu dem wiederum als Mangel erlebter Nebeneffekt einer Langeweile und Unterstimuliertheit. Ebenso wie Beruhigung braucht jedes Individuum, so der psychoanalytische Syllogismus, auch Aufregung. „Eine Gesellschaft, die zuviel Sicherheit bietet, muss künstliche Risiken und Sensationen schaffen“.[91] Der von struktureller Eintönigkeit und Erlebnislosigkeit sowie von moralischen Zwängen beherrschte Mensch begehrt eine Ersatzbefriedigung: Im Leseakt wird Aufregung, Abwechslung und Spannung gesucht; der Mensch will sadistische Triebe befriedigen und ein gewisses Maß an Angst verspüren.

Inwiefern kommt der pointierte Rätselroman all diesen Bedürfnissen nach?


5.2. Unterhaltungsliteratur



Bereits zu Beginn wurde das Faktum, dass das Detektivroman-Genre als solches zumeist pauschal zur trivialen Unterhaltungsliteratur gezählt wird, angesprochen.[92] Auch wurde nachgewiesen, inwiefern Agatha Christies Detektivgeschichten dieser profan als ‚Vorwurf’ gemeinten Zuordnung gerecht werden. Der Unterhaltungswert der fiktionalen Werke um rätselhafte Mordtaten, Delinquenten und ihre Verfolger spielt gewisslich auch in diesem Abschnitt eine wesentliche Rolle, ist er innerhalb der Mittelschicht doch überwiegend ausschlaggebender Anreiz für den Konsum von Literatur.

Entscheidend ist diesbezüglich vor allem die der Unterhaltsamkeit dienliche Rezeptionserleichterung, welche der (häufig kritisierte) von Christie gepflegte Formalismus und Schematismus mit sich bringt. Die simple thematische Strukturierung, logisch dargestellte und verknüpfte Handlungsketten und explizite Auflösungen an jedem Ende eines Falles vereinfachen die Aufnahme der Romaninhalte. Daher vermögen – damals wie heute – selbst durchschnittlich gebildete Leser auch am Abend und wohlmöglich nach einem anstrengenden Arbeitstag den immer gleichen Strukturen und einfachen Personenkonstellationen in einem bekannten, schnell vertraut gemachten fiktiven Milieu problemlos zu folgen – und das trotz des mentalen Abschaltens am Feierabend.[93]

Unterstützt wird die Rezeptionsfreundlichkeit der Christie-Werke auch durch das serielle Auftreten einiger ‚Helden’; so kommt zu der stereotypen Form innerhalb der Einzelwerke eine gleichartige Struktur des Gesamtwerks. In erster Linie betrifft dies natürlich die Fälle um den berühmten Detektiv Hercule Poirot und sein weibliches Pendant, die Hobbyermittlerin Miss Marple. Aber auch einigen weitere Gestalten begegnet man im Werk der Christie immer wieder: so etwa der Autorin Ariadne Oliver, einer, so die verbreitete Mutmaßung Selbstparodie Agatha Christies, dem Ermittlerpärchen Tommy und Tuppence, Superintendent Battle u.a. (Die serielle Form ist überdies ein profitabler ‚Autorenkniff’, hat sie doch oftmals die Herausbildung eines treuen, auf weitere Fälle wartenden Publikumsstamms zur Folge. So endet The Mysterious Affair at Styles beispielsweise mit der rezeptionswirksamen, auf folgende Werke verweisenden Aussage Poirots in Richtung seines Gehilfen Hastings, man könne ja demnächst vielleicht wieder einen Fall zusammen lösen: „We may hunt together again, who knows? And then …“[94])

Die gattungstypische Wiederholung vieler Elemente begünstigt die fazile Rezeption ebenso wie die das Rätsel eindeutig zentrierende Klarheit und Übersichtlichkeit des Textes, der mitunter versehen ist mit visuellen Elementen wie Haus- oder Raumskizzen,[95] einer (bei Dramen üblichen) dem Haupttext vorangestellten Namensauflistung der Hauptpersonen und ihrer Rollen[96] oder tabellarischen Aufzeichnungen bezüglich der Tatverdächtigen und ihrer Handlungen zur Tatzeit.[97] So werden dem Leser die – oftmals verwirrenden – Fakten noch einmal auf vereinfachende Weise veranschaulicht, ohne ihm eine große Eigenleistung in der Textaneignung abzuverlangen.

Ebenso unterlässt Christie, und dies ist ein weiterer die Rezeption erleichternder Umstand, in ihren Geschichten sowohl eine „soziologische und psychologische Untersuchung des Phänomens Delinquenz, welche die Bedingungen für die Möglichkeit des Entstehens von abweichendem Verhalten aufdecken könnte“, als auch „wissenschaftlich orientierte Charakter- und Milieustudien“.[98] Ira Tschimmel begründet diese Feststellung damit, dass derartige sozialpsychologische Passagen nur vom zentralen Problem der Detektivromane ablenken würden: dem Rätsel.[99] Diesem Gedanken schließt sich das zugespitzte Urteil H.R.F. Keatings an: „Ordinariness“, die nicht „ beyond those aspects of human nature that are our common stock“ geht, sei das bewährte Erfolgsrezept der Christie.[100] Die Romanrezeption kann infolgedessen mit einer spielerischen Unbeschwertheit geschehen.

Eine weitere Besonderheit populärer Unterhaltungsliteratur ist ihr stetes Bestreben, unter Zuhilfenahme effekthascherischer Mittel massenhafte Aufmerksamkeit zu erregen, Leserinteresse zu wecken. Dementsprechend beinhalten Christies Romantitel in deutscher Übersetzung auffallend häufig die Aufmerksamkeit erregenden Attribute ‚geheim’ bzw. ‚Geheimnis’, welches nicht nur die Verrätseltheit widerspiegeln, sondern auch geschickt die Neugierde im Rezipienten schüren, so etwa Das Geheimnis der Schnallenschuhe (1951) [engl. One, two, buckle my Shoe (1940)], Das Geheimnis der Goldmine (1956) [engl. A Pocket full of Rye (1953)], Das Geheimnis von Sittaford (1933) [engl. The Sittaford Mystery (1931)] oder Die geheimnisvolle Botschaft...

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