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Naturerlebnis und Landschaftswahrnehmung in der frühen deutschen Jugendbewegung

AutorTobias Tolksdorf
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl63 Seiten
ISBN9783638859202
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Geschichte - Sonstiges, Note: 1,3, Ruhr-Universität Bochum (Fakultät für Geschichtswissenschaft), 54 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Literatur über die deutsche Jugendbewegung ist umfangreich. Viele Autoren befassen sich mit Einzelaspekten, andere legen eine Gesamtdarstellung der Jugendbewegung, teilweise sogar verschiedener Jugendbewegungen vergleichend, vor. Eine Untersuchung der Landschaftswahrnehmung und des Naturerlebnisses der frühen deutschen Jugendbewegung gibt es allerdings noch nicht. Eine Eingrenzung meiner Betrachtungen soll der Fülle an Untersuchungsansätzen Struktur geben. Im Folgenden werde ich mich auf die Entstehung des Landschafts- und Naturverständnisses in der frühen deutschen Jugendbewegung, seine praktische Umsetzung in den Gruppen und die Rezeption von Natur und Landschaft in verschiedenen Medien der Jugendbewegung beschränken. Meine Betrachtungen beschränke ich auf die Frühzeit der deutschen Jugendbewegung, von der Gründung des 'Ausschusses für Schülerfahren' 1896 bis zum Zusammenschluss der deutschen Jugendbewegten in der 'Freideutschen Jugend' 1913. Ziel dieser Untersuchung ist es die Wahrnehmung von Natur und Landschaft der frühen deutschen Jugendbewegung herauszuarbeiten. Dabei soll nicht allein die Rezeption von Natur und Landschaft, etwa in Berichten von Aktivitäten oder im Liedgut der Bewegung, betrachtet werden, sondern ein umfassendes Bild entstehen, das erkennen lässt, warum die frühe deutsche Jugendbewegung sich so mit Natur und Landschaft auseinander setzte, wie sie es tat.

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Leseprobe

IV. Ausdruck des Naturerlebnisses und der Landschaftswahrnehmung in der frühen deutschen Jugendbewegung

 

IV.1  Gruppenaktivitäten


 

Die Aktivitäten der frühen Wandervögel setzte sich vor allem aus dem Dreiklang Nestabend-Fahrt-Lager zusammen. Dies waren zur Zeit der Gründung des Wandervogels allgemein übliche Freizeitbeschäftigungen Jugendlicher, das Besondere des Wandervogels, das den jugendgemäßen Lebensstil, woraus sich der Begriff „Jugendbewegung“ entwickelte, ausmachte, war das Verbinden der einzelnen Elemente zu einem Ganzen: „Das Entscheidende war die Gemeinsamkeit alles dessen, was wir machten“[73].

 

Die Tätigkeiten der frühen deutschen Jugendbewegung sind aber auch immer im Zusammenhang mit Literatur und Musik zu sehen, die bei allen Aktivitäten eine große Rolle spielten und das Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der Gruppen und die Wahrnehmung von Natur und Landschaft maßgeblich beeinflussten. Gruppenstunden, soweit möglich in den Heimräumen oder bei Gruppenmitgliedern zu Hause durchgeführt, Fahrten und Lager bildeten lediglich den organisatorischen Rahmen, in dem Jugendbewegung stattfand. Das eigentliche „Erlebnis“, also auch das Erleben von Natur und Landschaft, entstand aus dem Zusammentreffen von organisiertem Freiraum ohne das Zugegensein von Erwachsenen und dem musikalisch-literarisch-künstlerischen Ausdruck von Freiheitsliebe und Naturverbundenheit.

 

IV.1.1  Nestabende


 

Der Nestabend war eine feste, meist wöchentliche, Gemeinschaftsaktivität der Jugendbewegten. In der Anfangsphase, bevor sich die Gruppen um eigene Heime auf dem Land bemühten[74], „war es die Bude des Führers, oder sie haben sich auf den verschiedenen Buden getroffen, [...] von Wohnung zu Wohnung wechselnd[...]“[75]. Andere Räume für die Nestabende fanden sich in Gartenhäusern, gestifteten Baracken, Schulen, überhaupt überall, wo ein Raum zu bekommen war. Die Aktivitäten auf den Nestabenden waren meist „[...]ein harmloses Zusammensein, [...] ziemlich undramatisch, [und] kulturell verhältnismäßig bescheiden[...]“[76] stellen die von Zilius und Neuloh befragten Wandervögel fest. Die Nestabende dienten vor allem der Vorbereitung auf die Fahrten am Wochenende und der Ausbildung eines Gemeinschaftsgefühls. Singen und Musizieren nahmen daher auch den meisten Raum ein. Erstaunlich ist, dass das Vorlesen einen fast ebenso hohen Stellenwert hatte, wie Zeitzeugen feststellen[77]. Zunächst wurde die eigene Gruppenzeitschrift gelesen, außerdem Sammlungen von Geschichten und Literatur, die sich als „Standard“ etablierten und im Rucksack mitgeführt wurden[78]. Es handelte sich vor allem um populäre Jugendliteratur und um Literatur, die einen Nutzwert für die Gruppe hatte, indem sie das zunächst unausgesprochene Streben nach Natürlichkeit in Worte fasste. Besonders beliebt waren die Erzählungen, Kurzgeschichten und Bildbände von Hermann Löns. Viele seiner Gedichte wurden ab den 1890er Jahren vertont[79], fanden ihren Platz in der Jugendmusikbewegung[80] und wurden zum festen Bestandteil des Gruppenlebens im frühen Wandervogel.[81]

 

Dass die Kurzgeschichten, Romane, Erzählungen und Gedichte von Hermann Löns gut angenommen wurden, erklärt sich aus der starken Naturverbundenheit und der romantischen Verklärung von Natur, die in den Texten von Löns zum Ausdruck kommt:

 

„Ganz allein lag ich in dem Blockhause auf der Pritsche, rauchte, las Meister Eckehardts Predigtbuche und lauschte bald dem Untertone seiner Rede, bald dem was Uhu, Wildkater und Sturm mir sangen von der Schneeschmelze, Frühling und neuem Leben, bis der Sandmann kam und ich die Laterne ausblies, in den Schlafsack kroch und bei dem wunderschönen Wiegenliede einschlief“[82],

 

So beschreibt Hermann Löns eine Jagdszene, die doch keine solche ist. Sie ist „Abseits der Welt“ und so lautet auch die Bezeichnung des Kapitels seiner „Jagdszenen“. Die Anschaulichkeit der Szene, der an eine Anleitung zum Erleben von abendlicher Natur erinnernde Text, war für die aus groß- oder zumindest aus städtischer Umgebung stammenden Wandervögel[83] überaus prägend. Keiner von ihnen hatte -außerhalb der jugendbewegten Gruppen-  Abende im Wald verbracht, die auf den Nestabenden vorgelesene Literatur bekam somit für die Jugendbewegten den Stellenwert einer Idealvorstellung von Natur- und Landschaftswahrnehmung.

 

Löns beschreibt aber nicht nur Natur und Landschaft, er zeigt auch Möglichkeiten auf, wie diese zu erschließen seien:

 

„Auch gestern Nachmittag drei Uhr hatten wir uns zu einem Spaziergang nach auswärts verabredet, weil dort, sagte Meyer, die Natur noch natürlicher sei als bei der Stadt, wie die Kultur schon so tief hineinschneide, daß man die Gesetze derselben nicht mehr bequem erkennen könne.“[84]

 

Der Weg zur Natur führt also, so Löns, aus der Stadt heraus in die umliegenden, bequem per Spaziergang zu erreichenden Wälder und Felder. Die Parallele zu den Ausflügen der Vorläufer des Wandervogels bzw. zu den Familienausflügen, die zur Entstehung der deutschen Wandervereine führten, ist kaum zu übersehen. Beide, Jugendbewegte und Sonntagsausflügler, suchten die engere Verbindung zur Natur. Die späteren Wandervögel strebten zunächst in den verwilderten Parkanlagen von Steglitz, dort fanden sie nicht die erhoffte Natürlichkeit und zogen deshalb in die ländlichen Gebiete außerhalb der Stadt.

 

In der Gründungsphase des Wandervogels war man noch auf Schriften von Autoren angewiesen, die zwar das Gefühl von Freiheit und Naturbezogenheit, das die Wandervögel spürten, beschrieben, die aber selber nicht der Jugendbewegung angehörten. Eigene Texte, die von Jugendbewegten für ihre Gruppen geschrieben wurden, fanden schnell Verbreitung in den Gruppen, da sie in Stil und Inhalt dem Ideal der Wandervögel näher kamen als die Werke Außenstehender.

 

„Das Städtchen Salzdorf liegt inmitten des weiten Traglandes, einer überaus fruchtbaren Ebene. Im Süden steigen die Felder rund Wiesen sanft zu einem Höhenzuge empor, der das Tragland vom Mondbach und vom Adlerswalde scheidet. Dieser Wald ist ein prächtiges Gewirr von alten starken Eichen, ragenden Buchen und kräftig emporschießenden Tannen [...]“[85],

 

so beginnt Ernst Berghäuser seine „Pachantenmären“[86] in einer fiktiven Stadt und Landschaft[87]. Er erzählt von einer Wandervogelgruppe, die sich gründet, nachdem ihnen Wandervögel von ihren Fahrten erzählen. Die eigentlichen „Pachantenmären“ sind eine Aufzählung von spannenden Erlebnissen und dem Leben auf Wanderschaft der Wandervogelgruppe, somit durchaus geeignet, um beim Nestabend vorgetragen zu werden.

 

IV.1.2  Fahrten


 

In seiner „Geschichte des Wandervogels“ erwähnt Hans Blüher den Veranstalter des Stenografiekurses, aus dem später der Wandervogel entstehen sollte, Hermann Hoffmann, als denjenigen, der mit dem freien Schülerwandern[88] begann. Er merkt dabei geringschätzig an, dass es „...fast komisch [sei], zu konstatieren, daß die ersten Anfänge dieser Bewegung [Anm. d. Verf.: des Wandervogels] nichts anderes sind als – ein wandernder Stenographenverein.“[89] Man müsse, meint Blüher weiter, annehmen, dass die Jugendlichen zufällig, angesteckt von der Freude am Wandern Karl Fischers, dem ältesten Teilnehmer des Stenografiekurses, mit ihren Fahrten begonnen hätten. Die Form der Wanderungen, also das Selbstzubereiten des Essens auf dem Spirituskocher und das Schlafen auf Heuböden oder im Freien, seien notwendig gewesen, „[...]um die Reisekosten herabzusetzen.“[90] Die ersten Fahrten des Wandervogels hätten demnach nicht bewusst das Erleben von Natur zum Zweck gehabt, sondern wären auf die Initiative eines Jugendlichen veranstaltet worden.[91]

 

In Wirklichkeit war das Verlassen der Städte am Wochenende zur gemeinsamen Wanderung, zur „Fahrt“, die Folge der als „unnatürlich“ empfundenen Enge der Stadt. Zu dem Erleben von Gemeinschaft, wie z.B. bei den Nestabenden, trat nun das Erleben von Natur hinzu. „In der solidarischen, emotional verdichteten Atmosphäre der Fahrt bekam die Landschaft, die als „ursprüngliche Natur“ erlebte Umwelt, ein ganz besonderes, ein romantisches Flair [...]“[92] für die städtisch geprägte Jugend.

 

Der Ablauf einer Fahrt unterlag keinen festen Regeln. Der unvorhersehbare Verlauf, so strebte man meist keine bestimmte Übernachtungsstelle, etwa eine Jugendherberge, an, machte den besonderen Reiz dieser Unternehmungen aus. Die Unberechenbarkeit des Verlaufs einer Fahrt übte Einfluss auf die Wahrnehmung von Landschaft und Natur aus: Der Weg war das eigentliche Ziel der Fahrt, was das Erleben der Umwelt ungemein erleichterte, gab es doch keine Dinge, die von diesem Erleben ablenkten.

 

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