Nach der Erweiterung im Mai 2004 zählt die EU nun 25 Mitgliedsstaaten und in ihnen insgesamt über 450 Mio. Bürger. Damit ist die EU-Bevölkerung nahezu doppelt so groß wie die US-amerikanische.[5] Dieser Zuwachs führt dazu, dass die gemeinsamen Ziele, innen- sowie außenpolitisch, völlig neu überdacht werden müssen. Die Konzepte, die zu Beginn der EU gemacht wurden, verlieren zwar nicht ihre Gültigkeit, müssen aber der Erweiterung angepasst werden und der neuen internationalen Rolle, welche die EU spielt und spielen will, gerecht werden. Eine Neupositionierung ist nicht nur aufgrund der Vergrößerung notwendig, sondern auch aufgrund der veränderten internationalen Position nach Beendigung des Kalten Krieges. Europa fungiert nun nicht mehr als Grenzlinie zwischen den damaligen Großmächten USA und der Sowjetunion, sondern will sich neben den USA als neue und eigenständige Gemeinschaft präsentieren.
Vor allem im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich kann man Bestrebungen einer Loslösung von den Vereinigten Staaten beobachten.
Um das Vorgehen der EU in diesem Fall nachzuvollziehen, möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Überblick über die GASP und die ESVP geben.
1991, als in Maastricht der Vertrag über die Europäische Union geschlossen wurde, wurde gleichzeitig der Grundstein für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gelegt, welche eine neue Säule der Politik, neben der Säule der Europäischen Gemeinschaften und der der Innen- und Justizpolitik darstellt und mit ihnen das Gerüst der EU bildet.
Nach Beendigung des Ost-West-Konfliktes wurde die Westeuropäische Union (WEU), ein Verteidigungsbündnis westeuropäischer Staaten, welches 1948 gegründet wurde (und während der Zeit des Kalten Krieges im Schatten der NATO stand) wiederbelebt. Einige der WEU-Staaten gehörten nicht der NATO an.
Innerhalb der WEU wurden in den folgenden Jahren Überlegungen über militärische Aufgaben und ihre Umsetzung, vor allem in Gebieten, welche nicht durch die NATO abgedeckt waren, angestellt.
Man einigte sich 1992 in Petersberg bei Bonn darauf, dass die EU als Zivilmacht nur in folgenden Fällen militärisch eingreifen darf:
humanitäre Aufgaben oder Evakuierungsmaßnahmen;
Friedenserhaltung
Kampfmaßnahmen im Rahmen des Krisenmanagements, einschließlich Aktionen zur Wiederherstellung des Friedens“[6]
Diese Einschränkung der Operationsmöglichkeiten wurde unter dem Begriff der Petersberg-Aufgaben zusammengefasst. [7]
Nach dem Versagen der NATO im Kosovo[8] begannen die Überlegungen, eine eigene, von der NATO losgelöste Eingreiftruppe ins Leben zu rufen, die ein autonomes Handeln ermöglichen soll.[9]
Zuerst sahen die Planungen vor, die WEU als militärischen Arm der EU zu übernehmen, entschloss sich dann aber 1997 im Rahmen des Amsterdamer Vertrages doch dazu, sie strukturell in die EU zu integrieren und in ihr aufzulösen, da eine Übernahme der WEU-Struktur (und damit auch die Entscheidungsmacht bei der WEU) zur Folge gehabt hätte, dass auch Nicht-EU-Staaten, die der NATO angehörten, Entscheidungsrechte gehabt hätten, was dem Gedanken einer autonomen Europäischen Union sehr entgegengestanden hätte. Dem widersprach vor allem Frankreich, welches sich als erster Staat dafür einsetzte, die Strukturen der WEU in der EU aufgehen zu lassen, um eine militärische Autonomie von der NATO zu erreichen.
Als praktische Umsetzung der in der GASP beschlossenen sicherheits- und verteidigungspolitischen Grundsätze, wurde beim Europäischen Rat in Köln im Juni 1999 die Gründung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) beschlossen. [10]
Die ESVP stellt keine Maßnahme dar, die militärischen Kontingente der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten zusammen zu legen oder die nationalen Programme abzulösen, sondern soll staatenübergreifende militärische Maßnahmen im Rahmen der GASP koordinieren und erweitern.[11]
In Köln und beim Europäischen Rat in Helsinki im Dezember 1999 stand die Schaffung einer schnellen Eingreiftruppe mit 50.000 bis 60.000 Soldaten im Mittelpunkt.[12] Bis 2003 sollte diese Eingreiftruppe bereit sein, innerhalb von 60 Tagen in der Lage zu sein[13], über einen Zeitraum von zwölf Monaten Aufgaben im Rahmen der Petersberg-Aufgaben zu übernehmen.[14]
Weiterhin sollten im zivilen Bereich 5.000 Polizisten und ein Kontingent an Experten (Richter, Anwälte, usw.) zur Verfügung gestellt und entsprechend ausgebildet werden, um im Bedarfsfall in Krisengebieten eingesetzt zu werden.[15]
Diese Forderungen wurden auch bekannt als „Helsinki Headline Goals“[16].
Auf dem Gipfeltreffen in Nizza im Dezember 2000 wurden drei neue Institutionen ins Leben gerufen: Das Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee (PSK), der Militärausschuss (EUMC) und der Militärstab (EUMS).[17]
In der Erklärung von Laeken am 14./15. Dezember 2001 schließlich wurde die Einberufung eines Konventes beschlossen, welcher sich der Aufgabe annehmen sollte, entsprechende Strukturen innerhalb der EU zu schaffen, die eine Umsetzung der ESVP ermöglichen sollten. Ein nach außen hin stärkeres und geschlosseneres Auftreten der EU auf der internationalen politischen Bühne und damit verbunden eine Stärkung der zivilen und militärischen Fähigkeiten stand hierbei im Vordergrund.
Während der schwedischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2001 wurde vor allem auf den Aufbau und den Vorrang ziviler Instrumente zur Konfliktbearbeitung bei der Aufgabengestaltung der ESVP Wert gelegt. Europäisches Parlament und Europäische Kommission unterstützten dieses Ansinnen. Ziel war es, den Leitgedanken der EU als Zivilmacht mit dem Aufbau der ESVP und der schnellen Eingreiftruppe nicht zu unterwandern.[18]
Dieser Kurs wurde allerdings nicht in dem selben Maße von den nachfolgenden Ratpräsidentschaften verfolgt. Vor allem nach dem 11.09.2001 wurde der militärischen Stärkung der EU mehr Beachtung geschenkt.
Trotz allem trat bei diesen Verhandlungen immer wieder die Frage auf, ob die ESVP als ausführendes militärisches Organ das Ende der „Zivilmacht Europa“ einläute.[19]
Die Ausweitung und Koordination der europäischen Sicherheitspolitik in Form einer neuen schnellen Eingreiftruppe muss nun in das Bild der vermittelnden und zivil ausgerichteten Gemeinschaft integriert werden.
Um beurteilen zu können, ob die ESVP mit dem Zivilmachtsgedanken koordiniert werden kann, muss man sich zunächst fragen, wie in diesem Fall der Begriff der „Zivilmacht“ definiert und eingegrenzt werden muss und wie er von der Staatengemeinschaft aufgefasst wird, um die Notwendigkeit einer Eingreiftruppe zu legitimieren.
Matthias Dembinski, der sich in dem HSFK[20]-Report „Kein Abschied vom Leitbild „Zivilmacht“ – Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Zukunft Europäischer Außenpolitik“ mit genau dieser Thematik auseinandersetzt, versucht, diesen Definitionsschwierigkeiten auf den Grund zu gehen, indem er sich folgende Frage stellt:
„Warum handelt die EU als Zivilmacht?“[21]
Folgende Herangehensweisen bietet er zur Auswahl an:
Die realistische Begründung, aufgrund derer die EU sich zu einer Zivilmacht entwickelte, weil die durch militärische und politische Niederlagen geprägten Staaten die politischen (und hier vor allem die sicherheitspolitischen) Entscheidungen an andere Staaten wie die USA und Institutionen wie die NATO abgetreten haben und so nie eine eigene Entscheidungskompetenz...