»Welt aus Kulturen« – ein neues Paradigma
Die Hauptthese Huntingtons im »Kampf der Kulturen« lautet:
Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt.[2]
Die neue Weltordnung wird nach Huntington von sieben bis acht Kulturen dominiert, der westlichen, orthodoxen, sinischen, hinduistischen, islamischen, japanischen, lateinamerikanischen und möglicherweise von einer afrikanischen Kultur. Die Unterschiede zwischen den Ländern seien nicht mehr politischer, ideologischer oder ökonomischer Natur, sondern primär kultureller Art. Kulturelle Zugehörigkeit und Identität habe für den Menschen höchste Bedeutung und nach dem Kalten Krieg, in welchem Ideologien diese überlagert und verwischt haben, würden die Menschen jetzt versuchen, ihre alten kulturellen Wurzeln wieder zu entdecken. Huntington untergliedert die Hauptthese in fünf Hypothesen:[3]
Teil Eins. Zum ersten Mal in der Geschichte ist globale Politik sowohl multipolar als auch multikulturell; Verwestlichung ist etwas anderes als Modernisierung; und wirtschaftliche und soziale Modernisierung erzeugt weder eine universale Kultur irgendeiner Art noch die Verwestlichung nichtwestlicher Gesellschaften.
Teil Zwei. Das Machtgleichgewicht zwischen den Kulturkreisen verschiebt sich: Der Westen verliert an relativem Einfluß; asiatische Kulturen verstärken ihre wirtschaftliche, militärische und politische Macht; der Islam erlebt eine Bevölkerungsexplosion mit destabilisierenden Folgen für muslimische Länder und ihre Nachbarn; und nichtwestliche Kulturen bekräftigen selbstbewusst den Wert ihrer eigenen Grundsätze.
Teil Drei. Eine auf kulturellen Werten basierende Weltordnung ist im Entstehen begriffen: Gesellschaften, die durch kulturelle Affinitäten verbunden sind, kooperieren miteinander. Bemühungen, eine Gesellschaft von einem Kulturkreis in einen anderen zu verschieben, sind erfolglos; und Länder gruppieren sich um die Führungs- oder Kernstaaten ihrer Kultur.
Teil Vier. Seine universalistischen Ansprüche bringen den Westen zunehmend in Konflikt mit anderen Kulturkreisen, am gravierendsten mit dem Islam und China. Auf lokaler Ebene bewirken Bruchlinienkriege (im wesentlichen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen) den »Schulterschluß verwandter Länder«, die Gefahr einer breiten Eskalation und damit Bemühungen von Kernstaaten um Eindämmung und Unterbindung dieser Kriege.
Teil Fünf. Das Überleben des Westens hängt davon ab, daß die Amerikaner ihre westliche Identität bekräftigen und die Westler sich damit abfinden, daß ihre Kultur einzigartig, aber nicht universal ist, und sich einigen, um diese Kultur zu erneuern und vor der Herausforderung durch nichtwestliche Gesellschaften zu schützen. Ein weltweiter Kampf der Kulturen kann nur vermieden werden, wenn die Mächtigen dieser Welt eine globale Politik akzeptieren und aufrechterhalten, die unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigt.
Huntington stellt seine These vom »Kampf der Kulturen« im Wettstreit mit anderen Paradigmen vor, von denen er vier signifikante herausarbeitet.[4] Als Paradigma definiert er eine übergeordnete Theorie, die es vermag,
1. die Realität zu ordnen und allgemeine Aussagen über sie zu treffen; 2. Kausalbeziehungen zwischen Phänomenen zu verstehen; 3. künftige Entwicklungen abzuschätzen und womöglich vorauszusagen; 4. Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden; und 5. zu erkennen, welche Wege wir einschlagen müssen, um unsere Ziele zu erreichen.[5]
Dem »Eine-Welt-Paradigma« zufolge würde, so Huntington, in der Welt nach dem Kalten Krieg eine relative Harmonie herrschen, bedeutende Konflikte seien beendet, und das westlich-liberale Demokratiemodel setze sich weltweit durch.[6] Als Protagonisten dieses Paradigmas stellt Huntington Francis Fukuyama vor, dessen These vom »Ende der Geschichte« zufolge, die Menschheit den Endpunkt ideologischer Auseinandersetzungen erreicht und sich das westliche Demokratiemodell als definitive Regierungsform des Menschen erwiesen habe. Die Popularität des »Eine-Welt-Paradigmas« führt Huntington auf die Euphorie nach dem Ende des Kalten Krieges zurück, der vermeintlichen Harmonieillusion stellt er die Realität anhaltender internationaler Konflikte entgegen. Das »Zwei-Welten-Paradigma« nehme eine dichotomische Spaltung der Welt nach »Arm und Reich«, »Zonen des Friedens und Zonen der Aufruhr« oder in kultureller Hinsicht »der Westen und der Rest der Welt« vor.[7] Huntington fasst mit diesem Paradigma also mehrere Paradigmen zusammen und kritisiert deren grundsätzlich polarisierenden Charakter, demzufolge der »Tendenz, in Begriffen von zwei Welten zu denken«, nachgegeben werde und die Komplexität und Pluralität globaler Politik zugunsten einer einfachen »wir« und »die« Gruppierung aufgehoben werde. Das »184 Staaten-Paradigma« nehme nach Huntington eine Einteilung der Welt nach Staaten vor und stelle deren Interessen von Machtmaximierung und Sicherheit in den Vordergrund, so dass Bündnisse zwischen Staaten immer nur die Folge eines Strebens nach mehr Macht oder dem Ausgleich einer stärkeren Macht dienen würden. Jegliche Aktivität der Staaten sei den Prinzipien des Machtgewinns und der Machtsicherung untergeordnet.
Um daher ihr Überleben und ihre Sicherheit zu gewährleisten, versuchen ausnahmslos alle Staaten, ihre Macht zu maximieren.[8]
Zwischen den Staaten herrsche dabei ein anarchischer Zustand vor. Huntington meint, dass dieses Paradigma »ein viel realistischeres Bild von globaler Politik« liefere als das »Eine-Welt-« oder das »Zwei-Welten-Paradigma«, aber den Akzent doch zu sehr auf Machtinteressen fixiere; demokratische Staaten hätten beispielsweise Gemeinsamkeiten mit anderen demokratischen Staaten und würden daher keine Kriege gegeneinander führen. »Werte, Kultur und Institutionen« würden übergeordnete Interessen zwischen Staaten stiften, die ihr Verhalten beeinflussen, somit könne das »184 Staaten-Paradigma« nur teilweise zur Erklärung globaler Politik dienen, einen wesentlichen Beitrag zur Unterscheidung einer Welt während des Kalten Krieges und einer Welt danach würde es aber nicht leisten.
Das »Chaos-Paradigma« sieht die Welt laut Huntington in Anarchie versinken. Es verweise auf »den Zusammenbruch staatlicher Autorität, das Auseinanderbrechen von Staaten, die Intensivierung von religiösen, ethnischen und Stammeskonflikten, das Auftreten internationaler Verbrechersyndikate, den Anstieg der Flüchtlingszahlen in die Abermillionen, die Weiterverbreitung nuklearer und anderer Massenvernichtungswaffen, die Ausbreitung des Terrorismus, das Überhandnehmen von Massakern und ethnischen Säuberungen«.[9] Vertreter dieses Paradigmas seien Zbigniew Brzezinski mit »Out of Control« und Daniel Patrick Moynihan mit »Pandaemonium«, beide Werke erschienen 1993.[10] Huntington räumt ein, dass sich das »Chaos-Paradigma« den realen politischen Verhältnissen sehr weit angenähert habe, gerade diese Annäherung würde dem Paradigma jedoch zum Verhängnis werden und Ordnungen globaler Politik verdecken. Die Beschreibung der Welt als ein Chaos mache es unmöglich, »für die Gestalter staatlicher Politik Orientierungshilfen zu entwickeln«.[11]
Alle Paradigmen beleuchten laut Huntington verschiedene Problembereiche internationaler Politik, würden aber einer differenzierten Sichtweise, die die zunehmende Anzahl lokaler Konflikte und deren politische Verflechtung miteinander erklärt, nicht gerecht. Die Herausforderung bestünde also darin, ein Paradigma zu entwickeln, das die Ereignisse globaler Politik besser erkläre und sich nicht einseitig der Abstraktion beziehungsweise der Realität verschreibe. Diesen Anforderungen könne das kulturelle Paradigma gerecht werden.
Man opfert nicht der Abstraktion die Realität auf, wie es das Eine-Welt- und das Zwei-Welten-Paradigma tun; umgekehrt opfert man nicht der Realität die Abstraktion auf, wie es das etatistische und das Chaos-Paradigma tun. Das neue Paradigma liefert einen leicht verständlichen Rahmen, um die Welt zu verstehen […].[12]
Was ist eine universale Kultur? Huntington führt an, dass eine solche durchaus auf dem schmalen Grad an Grundwerten, den alle Gesellschaften miteinander teilen, oder auf allgemeine zivilisatorische Errungenschaften wie zum Beispiel den Städtebau und die Alphabetisierung fußen könne.[13] In dem einen wie dem anderen Fall würde der Kulturbegriff jedoch auf relativ allgemeine Konstanten menschlichen Verhaltens bezogen, wobei die eigentlichen Kulturen und ihre Unterschiede verwischt würden. Die...