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E-Book

Globalesisch, oder was?

Ein Plädoyer für Europas Sprachen

AutorJürgen Trabant
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783406659911
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Derzeit findet in Europa, vor allem in Deutschland, eine massive Kampagne zugunsten des globalen Englisch, des Globalesischen, statt: Nachdem Wirtschaft und Wissenschaft sich schon seit längerem sprachlich globalisiert haben, raten nun Sozialwissenschaftler und Philosophen, Bundespräsidenten und ehemalige Bundeskanzler dem Land und Europa dringend, fleißig Englisch zu lernen, um die vielen Sprachen Europas, diese Hindernisse der Verständigung, aus dem Weg zu räumen. Die babylonische Sprachverwirrung Europas soll endlich in einem globalesischen Paradies überwunden werden. Europäische Einheit und soziale Gerechtigkeit würden durch sprachliche Vereinheitlichung befördert. Diese Kampagne ist völlig überflüssig, weil die wohltätige Wirkung globaler Kommunikation durch das globale Englisch von niemandem bezweifelt wird und weil die Europäer ohnehin fleißig Globalesisch lernen. Das ist einerseits eine erfreuliche Entwicklung, gefährdet aber die anderen Sprachen der europäischen Nationen in vielfacher Hinsicht. Nötig ist daher eine Aktivität zugunsten der vielen europäischen Sprachen, die deren Leistung und Bedeutung hervorhebt und für ihre Bewahrung und Entwicklung eintritt. Dazu muss man aber eine andere Auffassung von Sprache haben als die bloß instrumentell kommunikative. Man muss wieder verstehen lernen, dass Sprache auch ein kognitives Instrument ist, nämlich der wichtigste Weg des Menschen zur Erfassung der Welt. Indem er die geistige, aber auch kulturelle und politische Bedeutung der Sprachen betont, plädiert Trabant angesichts des drohenden globalesischen Monolinguismus für eine echt verstandene europäische Mehrsprachigkeit.

Jürgen Trabant war Professor für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin und lehrte bis August 2013 als Professor für europäische Mehrsprachigkeit an der Jacobs Universität Bremen. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens (2003); Europäisches Sprachdenken (2006); Was ist Sprache? (2008); Die Sprache (2009), Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt (2012).

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Leseprobe

2. DAS TAFELSILBER: DIE SPRACHEN EUROPAS


Die Europäische Union hat die Vielfalt der Sprachen Europas als ein Kernelement ihres Selbstverständnisses in ihre fundierenden Texte eingeschrieben. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 stellt in Artikel 22 fest: «Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.» In einer Mitteilung aus dem Jahr 2005 entwirft die Kommission «eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit». Darin stellt sie fest:

Sprache ist der unmittelbarste Ausdruck von Kultur. Sie macht uns zu Menschen und ist Teil unserer Identität. In Artikel 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verpflichtet sich die Union, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen zu achten. Artikel 21 listet die Gründe auf, darunter auch die Sprache, für die ein Diskriminierungsverbot gilt. Achtung der Sprachenvielfalt ist ein Grundwert der Europäischen Union, genau wie Respekt der Person, Offenheit gegenüber anderen Kulturen, Toleranz und Akzeptanz anderer Menschen.

Eine Mitteilung der Kommission zur Mehrsprachigkeit aus dem Jahre 2008 sieht die Mehrsprachigkeit sogar als «Trumpfkarte Europas»:

Die harmonische Koexistenz vieler Sprachen in Europa ist ein kraftvolles Symbol für das Streben der Europäischen Union nach Einheit in der Vielfalt, einem der Eckpfeiler des europäischen Aufbauwerks. Sprachen sind Merkmal der persönlichen Identität, aber auch Teil des gemeinsamen Erbes.

Der Vertrag von Lissabon von 2007 stellt schließlich in Artikel 2 (3) fest:

Sie [die Union] wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.

Die vielen Sprachen werden als konstitutiver Bestandteil der Identität Europas betrachtet, und jedem Europäer wird seine Sprache als Element seiner persönlichen Identität zugestanden. Europa hielt seine Mehrsprachigkeit sogar für so wichtig, dass es dieser einen eigenen Kommissar widmete. Vermutlich weil der Kommissar für Mehrsprachigkeit, der schon erwähnte Leonard Orban, ein Rumäne ungarischer Muttersprache, es mit der europäischen Mehrsprachigkeit allzu ernst nahm, ist das europäische Sprachen-Kommissariat bei der letzten Neubesetzung der Kommission aber wieder abgeschafft und zu einer Unterabteilung eines unbedeutenden Kultur-Kommissariats degradiert worden. Womit hatte sich der Sprachkommissar unbeliebt gemacht? Er fand die Sprachen Europas so wichtig, dass er sich aktiv dafür einsetzte, dass jeder Europäer unbedingt noch eine dritte Sprache lernen sollte, eben die von Amin Maalouf empfohlene «Adoptivsprache». Jeder Europäer sollte sich – über das für die globale Kommunikation wichtige Englische hinaus – mit einer weiteren Sprache Europas anfreunden. Und es sollte darauf geachtet werden, dass es in jedem europäischen Land «Adoptivsprecher» jeder anderen europäischen Sprache gibt, sodass die horizontalen kulturellen Beziehungen zwischen den europäischen Völkern belebt und gestärkt würden.

Die nationalen Regierungen der EU haben diese bildungspolitisch wichtige und generöse Idee des Sprachkommissars unmittelbar gehasst: Sie befürchteten offensichtlich, nun in jeder Schule Lehrer für alle dreiundzwanzig europäischen Sprachen zur Verfügung stellen zu müssen, damit die Europäer auch alle Sprachen der Union adoptieren können. Das wäre in der Tat eine teure Angelegenheit geworden. So wurde der Kommissar mit seinem bedrohlichen Sprach-Adoptions-Projekt lieber bei der nächsten Gelegenheit kaltgestellt. So gern hat dann das offizielle Europa die Sprachen doch nicht.

Die Sprachen Europas sind in der Tat eine ziemlich teure Angelegenheit. Es gibt dreiundzwanzig offizielle Sprachen der EU bei siebenundzwanzig Mitgliedstaaten: Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Irisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch, Ungarisch. Und diese vielen Sprachen erzeugen einige Unkosten. Nicht nur gibt es in Brüssel den Dolmetscherdienst des Europäischen Parlaments, der alles dort Gesagte (prinzipiell, in Wirklichkeit nicht ganz) aus allen Sprachen der Union in alle Sprachen der Union übersetzt, weil jeder Abgeordnete in seiner Sprache sprechen kann. Auch hat jeder europäische Bürger das Recht, in seiner Sprache mit den europäischen Institutionen zu verkehren, er kann in seiner Sprache schreiben, und er bekommt Antwort in seiner Sprache – jedenfalls sofern diese eine offizielle Sprache Europas ist (dieses Recht halte ich für absolut fundamental). Die Kosten für die Übersetzungs- und Dolmetschdienste aller Organe zusammengenommen belaufen sich auf ca. 1 % des Gesamtbudgets der EU. Die Sprachen Europas kosteten im Jahr 2004 2,28 Euro pro Bürger. Man kann darüber streiten, ob das viel oder wenig ist. Ich teile durchaus die Kritik an der teuren und teilweise absurden symbolischen Sprachpolitik in Brüssel. Und ich halte die Frage, welche Sprache in den Brüsseler Institutionen gesprochen wird, tatsächlich für relativ unwichtig. Brüssel ist ein internationaler Ort, an dem eine internationale gemeinsame Sprache zur reibungslosen Durchführung der Geschäfte durchaus angebracht wäre. Wichtig ist aber, was in den europäischen Ländern und im Verkehr Brüssels mit den Bürgern der Union geschieht.[1] Hier müssen die Sprachen respektiert werden. Wie dem auch sei, die europäischen Regierungen hatten angesichts der Vorschläge der Maalouf-Gruppe ganz offensichtlich keine Lust, noch mehr Geld für die Sprachen auszugeben, die sie in den poetischen Teilen der europäischen Verträge doch für so wichtig hielten.

2.1. Europäische Sprachen


Wenn der EU-Bürger auf Sorbisch oder auf Bretonisch an die EU schreibt, wird er keine Antwort in seiner Sprache aus Brüssel bekommen, da diese Sprachen zwar durchaus europäische Sprachen, aber keine Amtssprachen der EU sind, sondern sogenannte Minderheitensprachen. Daraus wird ersichtlich, dass die Zahl der Amtssprachen keinesfalls die europäische Sprachenvielfalt erschöpft. Es gibt in Europa noch viele weitere Sprachen, die keine offiziellen Sprachen der Union sind, weil sie nicht Staatssprachen der Mitgliedstaaten sind, wie eben zum Beispiel das erwähnte Sorbische oder das Bretonische. Der Europarat (nicht die EU!) hat zum Schutz und zur Förderung dieser «Regional- oder Minderheitensprachen» 1992 den europäischen Staaten eine Charta vorgeschlagen, der die europäischen Länder bisher in sehr verschiedenem Maße beigetreten sind. Diese «Minderheitensprachen» sind mitnichten immer Sprachen kleiner Sprachgemeinschaften wie die der Sorben mit – nach den Angaben von Haarmann (1993) – ca. 60.000 Sprechern, sondern manche von ihnen haben mehr Sprecher als viele offizielle Staatssprachen.[2] So liegt zum Beispiel das Katalanische mit ca. 7 Mio Sprechern weit vor dem Finnischen (5 Millionen), Litauischen (3 Millionen) oder gar Maltesischen (340.000) und eher auf der Höhe des Bulgarischen (9 Millionen), Griechischen (10 Millionen), Portugiesischen (10 Millionen) oder Schwedischen (8 Millionen). Auch das Baskische mit 700.000 Sprechern liegt noch weit vor dem Maltesischen, etwa auf der Höhe des Irischen (1 Million), ist aber als tatsächlich im Baskenland alltäglich gesprochene Sprache bedeutend lebendiger als dieses (wirklich täglich verwendet wird das Irische wohl nur von ca. 50.000 Sprechern). Diese nicht offiziellen Sprachen müssen ebenfalls berücksichtigt werden, wenn wir von der Sprachenvielfalt Europas sprechen.

Des Weiteren erhöht sich diese noch einmal, wenn man bedenkt, dass auch die Amtssprachen nur Varianten – eben die offiziellen Standard-, Schrift- und Kulturvarianten – von Sprachen sind, die «unterhalb» der Standardsprache auch regionale Varietäten – die Dialekte – kennen (ganz abgesehen von den Soziolekten, also den Sprachvarietäten verschiedener sozialer Schichten). Das offizielle Deutsch zum Beispiel ist ja nur die Sprache, die jenseits der verschiedenen regionalen Dialekte des Deutschen – z.B. Niederdeutsch, Fränkisch, Bairisch, Alemannisch – als gemeinsame Sprache (Koinè) der Deutschsprachigen funktioniert.

Und als neues Element kommen zur autochthon europäischen Sprachenvielfalt noch die Sprachen der Immigranten hinzu: Sprachen aus allen Erdteilen, die nicht zu beziffern sind. Türkisch, Kurdisch, Arabisch und Albanisch sind zum Beispiel Sprachen, die in Deutschland stark präsent sind. Die Menschen, die diese Sprachen sprechen, siedeln, anders als die autochthonen Sprachgemeinschaften, zumeist nicht an einem bestimmten geographischen Ort, sondern verteilen sich über die gesamte Fläche eines Landes oder der EU. Die als «europäisch» zu bezeichnende Sprachgruppe, die ebenfalls verstreut über ganz Europa lebt, aber eben seit Jahrhunderten in Europa beheimatet ist, sind die Sinti und Roma, die teilweise ihre aus Indien mitgebrachte Sprache sprechen, zumeist aber auch die Sprachen der Völker, mit denen sie leben.

Und schließlich ist der Blick auch auf die...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch3
Über den Autor3
Impressum4
Inhalt7
Vor-Wort auf einen Nach-Ruf?11
Heute13
1. Mehrsprachigkeit im vereinten Europa. Really?14
1.1. Diglossie und Einsprachigkeit14
1.2. Das Modell17
1.3. Welt-Republik20
1.4. Sprachen als Weltansichten22
1.5. Gegen Weltansichten25
1.6. Verluste28
1.7. Europäische Mehrsprachigkeit, altrömisch30
1.8. Die dritte Sprache32
2. Das Tafelsilber: Die Sprachen Europas37
2.1. Europäische Sprachen40
2.2. Wie viele Sprachen?42
2.3. Wanderungen45
2.4. Entstehung der Nationalsprachen47
2.5. Die Zukunft der europäischen Sprachen53
2.6. Ein Erinnerungsort verschwindet58
2.7. Die neue questione della lingua oder: the question of the language63
2.8. Einheit und Verschiedenheit65
3. Was die Europäer von der Sprache halten oder Warum das Tafelsilber nicht von allen geschätzt wird68
3.1. Die antike Konstellation: Mythos, Philosophie und Rhetorik68
3.2. Christliches Sprachdenken71
3.3. Lateinische Einsprachigkeit und mittelalterliche Diglossie73
3.4. Die Entdeckung der Verschiedenheit der Sprachen74
3.5. Gegen die Verschiedenheit78
3.6. La merveilleuse variété80
3.7. Sprachwissenschaft82
3.8. Sprachphilosophie87
3.9. Europäische Sprachpolitik90
4. Mehrsprachigkeit bildet94
4.1. Einsprachigkeit95
4.2. Bildung und Sprache99
4.3. Mehrsprachigkeiten103
4.4. Mehrsprachigkeit, die bildet109
Gestern113
5. Wie kommt die Sprache in die Nation?114
5.1. En Sorbonne 1882116
5.1.1. Was ist eine Nation?116
5.1.2. Das politische Argument gegen die Sprache120
5.1.3. Das philosophische Argument gegen die Sprache121
5.1.4. Humboldts Sprachnation124
5.2. Wie die Sprache in die Nation kam: Die Französische Revolution127
5.2.1. Le tiers état128
5.2.2. Das Sprachproblem130
5.2.3. Dasselbe denken133
5.2.4. Sprach-Revolution136
5.2.5. Die Schule138
5.3. Frankreich – Deutschland – Europa139
5.3.1. Deutschland – Frankreich140
5.3.2. Europa141
5.3.3. Vergessen – Vergeben142
6. Nationalsprachen und Akademien144
6.1. Italien: Accademia della Crusca145
6.2. Die Académie française149
6.2.1. Glanz und Verteidigung149
6.2.2. Die Aufgabe der Akademie151
6.2.3. Reinheit153
6.2.4. Arts et sciences156
6.2.5. Wörterbuch und Enzyklopädie157
6.3. Langue nationale und Akademie159
6.4. Academia caremus164
Morgen167
7. Zukunftsansichten der Sprache168
7.1. La compañera del imperio169
7.2. La crise174
7.3. Neue Paradiessprachen180
7.4. Das Ende186
7.5. Coda190
8. Globalesische Gerechtigkeit oder Über das Verklingen der europäischen Sprachen in ihren Akzenten192
8.1. Ungerechtigkeiten: Trittbrettfahren und Chancenungleichheit194
8.2. Gegen den Turm zu Babel197
8.3. Die dritte Ungerechtigkeit199
8.4. Auf ins Paradies201
8.5. Sprachphilosophische Schlussbemerkungen205
Anmerkungen211
Bibliographie217
Nachweise231
Namenregister233

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