2. DAS TAFELSILBER: DIE SPRACHEN EUROPAS
Die Europäische Union hat die Vielfalt der Sprachen Europas als ein Kernelement ihres Selbstverständnisses in ihre fundierenden Texte eingeschrieben. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 stellt in Artikel 22 fest: «Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.» In einer Mitteilung aus dem Jahr 2005 entwirft die Kommission «eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit». Darin stellt sie fest:
Sprache ist der unmittelbarste Ausdruck von Kultur. Sie macht uns zu Menschen und ist Teil unserer Identität. In Artikel 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verpflichtet sich die Union, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen zu achten. Artikel 21 listet die Gründe auf, darunter auch die Sprache, für die ein Diskriminierungsverbot gilt. Achtung der Sprachenvielfalt ist ein Grundwert der Europäischen Union, genau wie Respekt der Person, Offenheit gegenüber anderen Kulturen, Toleranz und Akzeptanz anderer Menschen.
Eine Mitteilung der Kommission zur Mehrsprachigkeit aus dem Jahre 2008 sieht die Mehrsprachigkeit sogar als «Trumpfkarte Europas»:
Die harmonische Koexistenz vieler Sprachen in Europa ist ein kraftvolles Symbol für das Streben der Europäischen Union nach Einheit in der Vielfalt, einem der Eckpfeiler des europäischen Aufbauwerks. Sprachen sind Merkmal der persönlichen Identität, aber auch Teil des gemeinsamen Erbes.
Der Vertrag von Lissabon von 2007 stellt schließlich in Artikel 2 (3) fest:
Sie [die Union] wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.
Die vielen Sprachen werden als konstitutiver Bestandteil der Identität Europas betrachtet, und jedem Europäer wird seine Sprache als Element seiner persönlichen Identität zugestanden. Europa hielt seine Mehrsprachigkeit sogar für so wichtig, dass es dieser einen eigenen Kommissar widmete. Vermutlich weil der Kommissar für Mehrsprachigkeit, der schon erwähnte Leonard Orban, ein Rumäne ungarischer Muttersprache, es mit der europäischen Mehrsprachigkeit allzu ernst nahm, ist das europäische Sprachen-Kommissariat bei der letzten Neubesetzung der Kommission aber wieder abgeschafft und zu einer Unterabteilung eines unbedeutenden Kultur-Kommissariats degradiert worden. Womit hatte sich der Sprachkommissar unbeliebt gemacht? Er fand die Sprachen Europas so wichtig, dass er sich aktiv dafür einsetzte, dass jeder Europäer unbedingt noch eine dritte Sprache lernen sollte, eben die von Amin Maalouf empfohlene «Adoptivsprache». Jeder Europäer sollte sich – über das für die globale Kommunikation wichtige Englische hinaus – mit einer weiteren Sprache Europas anfreunden. Und es sollte darauf geachtet werden, dass es in jedem europäischen Land «Adoptivsprecher» jeder anderen europäischen Sprache gibt, sodass die horizontalen kulturellen Beziehungen zwischen den europäischen Völkern belebt und gestärkt würden.
Die nationalen Regierungen der EU haben diese bildungspolitisch wichtige und generöse Idee des Sprachkommissars unmittelbar gehasst: Sie befürchteten offensichtlich, nun in jeder Schule Lehrer für alle dreiundzwanzig europäischen Sprachen zur Verfügung stellen zu müssen, damit die Europäer auch alle Sprachen der Union adoptieren können. Das wäre in der Tat eine teure Angelegenheit geworden. So wurde der Kommissar mit seinem bedrohlichen Sprach-Adoptions-Projekt lieber bei der nächsten Gelegenheit kaltgestellt. So gern hat dann das offizielle Europa die Sprachen doch nicht.
Die Sprachen Europas sind in der Tat eine ziemlich teure Angelegenheit. Es gibt dreiundzwanzig offizielle Sprachen der EU bei siebenundzwanzig Mitgliedstaaten: Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Irisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch, Ungarisch. Und diese vielen Sprachen erzeugen einige Unkosten. Nicht nur gibt es in Brüssel den Dolmetscherdienst des Europäischen Parlaments, der alles dort Gesagte (prinzipiell, in Wirklichkeit nicht ganz) aus allen Sprachen der Union in alle Sprachen der Union übersetzt, weil jeder Abgeordnete in seiner Sprache sprechen kann. Auch hat jeder europäische Bürger das Recht, in seiner Sprache mit den europäischen Institutionen zu verkehren, er kann in seiner Sprache schreiben, und er bekommt Antwort in seiner Sprache – jedenfalls sofern diese eine offizielle Sprache Europas ist (dieses Recht halte ich für absolut fundamental). Die Kosten für die Übersetzungs- und Dolmetschdienste aller Organe zusammengenommen belaufen sich auf ca. 1 % des Gesamtbudgets der EU. Die Sprachen Europas kosteten im Jahr 2004 2,28 Euro pro Bürger. Man kann darüber streiten, ob das viel oder wenig ist. Ich teile durchaus die Kritik an der teuren und teilweise absurden symbolischen Sprachpolitik in Brüssel. Und ich halte die Frage, welche Sprache in den Brüsseler Institutionen gesprochen wird, tatsächlich für relativ unwichtig. Brüssel ist ein internationaler Ort, an dem eine internationale gemeinsame Sprache zur reibungslosen Durchführung der Geschäfte durchaus angebracht wäre. Wichtig ist aber, was in den europäischen Ländern und im Verkehr Brüssels mit den Bürgern der Union geschieht.[1] Hier müssen die Sprachen respektiert werden. Wie dem auch sei, die europäischen Regierungen hatten angesichts der Vorschläge der Maalouf-Gruppe ganz offensichtlich keine Lust, noch mehr Geld für die Sprachen auszugeben, die sie in den poetischen Teilen der europäischen Verträge doch für so wichtig hielten.
2.1. Europäische Sprachen
Wenn der EU-Bürger auf Sorbisch oder auf Bretonisch an die EU schreibt, wird er keine Antwort in seiner Sprache aus Brüssel bekommen, da diese Sprachen zwar durchaus europäische Sprachen, aber keine Amtssprachen der EU sind, sondern sogenannte Minderheitensprachen. Daraus wird ersichtlich, dass die Zahl der Amtssprachen keinesfalls die europäische Sprachenvielfalt erschöpft. Es gibt in Europa noch viele weitere Sprachen, die keine offiziellen Sprachen der Union sind, weil sie nicht Staatssprachen der Mitgliedstaaten sind, wie eben zum Beispiel das erwähnte Sorbische oder das Bretonische. Der Europarat (nicht die EU!) hat zum Schutz und zur Förderung dieser «Regional- oder Minderheitensprachen» 1992 den europäischen Staaten eine Charta vorgeschlagen, der die europäischen Länder bisher in sehr verschiedenem Maße beigetreten sind. Diese «Minderheitensprachen» sind mitnichten immer Sprachen kleiner Sprachgemeinschaften wie die der Sorben mit – nach den Angaben von Haarmann (1993) – ca. 60.000 Sprechern, sondern manche von ihnen haben mehr Sprecher als viele offizielle Staatssprachen.[2] So liegt zum Beispiel das Katalanische mit ca. 7 Mio Sprechern weit vor dem Finnischen (5 Millionen), Litauischen (3 Millionen) oder gar Maltesischen (340.000) und eher auf der Höhe des Bulgarischen (9 Millionen), Griechischen (10 Millionen), Portugiesischen (10 Millionen) oder Schwedischen (8 Millionen). Auch das Baskische mit 700.000 Sprechern liegt noch weit vor dem Maltesischen, etwa auf der Höhe des Irischen (1 Million), ist aber als tatsächlich im Baskenland alltäglich gesprochene Sprache bedeutend lebendiger als dieses (wirklich täglich verwendet wird das Irische wohl nur von ca. 50.000 Sprechern). Diese nicht offiziellen Sprachen müssen ebenfalls berücksichtigt werden, wenn wir von der Sprachenvielfalt Europas sprechen.
Des Weiteren erhöht sich diese noch einmal, wenn man bedenkt, dass auch die Amtssprachen nur Varianten – eben die offiziellen Standard-, Schrift- und Kulturvarianten – von Sprachen sind, die «unterhalb» der Standardsprache auch regionale Varietäten – die Dialekte – kennen (ganz abgesehen von den Soziolekten, also den Sprachvarietäten verschiedener sozialer Schichten). Das offizielle Deutsch zum Beispiel ist ja nur die Sprache, die jenseits der verschiedenen regionalen Dialekte des Deutschen – z.B. Niederdeutsch, Fränkisch, Bairisch, Alemannisch – als gemeinsame Sprache (Koinè) der Deutschsprachigen funktioniert.
Und als neues Element kommen zur autochthon europäischen Sprachenvielfalt noch die Sprachen der Immigranten hinzu: Sprachen aus allen Erdteilen, die nicht zu beziffern sind. Türkisch, Kurdisch, Arabisch und Albanisch sind zum Beispiel Sprachen, die in Deutschland stark präsent sind. Die Menschen, die diese Sprachen sprechen, siedeln, anders als die autochthonen Sprachgemeinschaften, zumeist nicht an einem bestimmten geographischen Ort, sondern verteilen sich über die gesamte Fläche eines Landes oder der EU. Die als «europäisch» zu bezeichnende Sprachgruppe, die ebenfalls verstreut über ganz Europa lebt, aber eben seit Jahrhunderten in Europa beheimatet ist, sind die Sinti und Roma, die teilweise ihre aus Indien mitgebrachte Sprache sprechen, zumeist aber auch die Sprachen der Völker, mit denen sie leben.
Und schließlich ist der Blick auch auf die...